Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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problematische Motorik und Energieverlust im Gehirn!

      Der Bus hält endlich an und ich laufe los. Natürlich hat der Regen nicht aufgehört und ich hätte mich genauso gut mit kompletten Klamotten unter die Dusche stellen können. Meine schöne Frisur, voll im Eimer! Eine Stunde mit der Rundbürste föhnen dahin. Plötzlich höre ich ein schnelles Atmen hinter mir und drehe mich um. Es ist Erik. Mist, den wollte ich doch abhängen!

      „Warum rennst du denn so? Ich habe doch einen Schirm. Möchtest du nicht mit darunter? Schließlich haben wir denselben Heimweg.“

      Oh Hilfe, mein Herz macht einen Sprung. Mist! „Äh, ja danke.“ Mit einem kräftigen Ruck und einem Lächeln zieht Erik mich unter seinen Schirm.

      „So ist es schon viel besser.“

      Ich versuche ihn nicht anzustarren oder dümmlich zu grinsen, obwohl sein energischer Ruck mich überrumpelt hat. Nein, nein, nein. Ich will ihn nicht gut finden. Gott, ich muss an irgendetwas Negatives denken: Die Erderwärmung, das Ozonloch, der Anstieg des Meeresspiegels, Tschernobyl …

      „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Hast du dich gut eingelebt?“

      Die Umweltverschmutzung, Chemiestunden bei Dr. Fehmann, das Aussterben der Wale, Lippenherpes … Sein Lächeln dringt direkt in meinen kribbeligen, nervösen Magen.

      „Ja, denke schon.“ Wir stehen immer noch wie angewurzelt da. Der Bus ist inzwischen weggefahren.

      „Tja, da sind wir Nachbarn und haben uns bisher kaum unterhalten.“

      Erdbeben, Bürgerkrieg, Rosenkohl, Lateinhausaufgaben … „Tja …“

      „`Tschuldigung, dass ich bei unserer allerersten Begegnung so schroff war. Die Sache mit der Bohrmaschine. Ich bin manchmal ein ziemlicher Holzklotz.“ Er legt seinen Kopf schief und beugt sich leicht zu mir herunter. Blitzende Funken wirbeln in meinem Unterbauch aneinander und mir ist so schwindlig wie auf einem Boot. Hilfe, kann man auch an Land seekrank werden?

      „Ist schon OK.“ Der Regen ist noch heftiger geworden. Warum gehen wir nicht endlich los?

      „Es sieht süß aus.“

      „Was?“

      „Wie du dir auf deine Unterlippe beißt.“ Tue ich das? Ich erröte schlagartig. Jesusmariaundjosef!

      Plötzlich sieht er mich streng an. „Warum nimmst du keinen Regenschirm mit, hm?“

      „Äh, ich … lasse die immer irgendwo stehen. Im Bus, im Klassenzimmer, in der Straßenbahn, im Schwimmbad, im Zug…“

      „Du vergisst andauernd Regenschirme?“, unterbricht er mich jäh und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Seine Augen sehen mich lange belustigt an.

      Oh Mann! Ich rede total doofes Zeug! Mist! Mist! Mist! Warum erzähle ich ihm nicht gleich, dass ich in der 6. Klasse glitzernde Glücksbärchi-Aufkleber gesammelt habe? „Wollen wir losgehen?“, werfe ich ein, um den peinlichen Moment zu überspielen.

      Erik wirft einen kritischen Blick in den graunassen Himmel. „Ja, lass uns gehen. Aber wir müssen uns beeilen, es wird gleich noch heftiger regnen.“ Dann nimmt er meine Hand – Hilfe, mein Herz! - und wir laufen los.

      _______________________________

      Als ich Erik das nächste Mal sehe, sitzt er genau zwei Plätze von mir entfernt. Das Straßenfest ist ein voller Erfolg. Alle Bänke sind voll besetzt, die Luft ist lauwarm. Eriks Vater steht am Grill und alle haben Salate mitgebracht. Papa hat gegrillte Paprika alla Siciliana gemacht, die großen Anklang finden. Musik dröhnt aus den Boxen: Lambada. Oh nein, wer hat das denn bitte aufgelegt?

      Ich kann meinen Blick nicht von Erik wenden. Er hält eine große, blonde Schönheit in den Armen. Sie strahlt ihn an und präsentiert zwei Reihen makelloser Zähne. Von der hundsgemeinen Art, wie man sie aus der blend-a-med-Werbung kennt, bei der man am Schluss kraftvoll zubeißen kann. Niemand hat solche Zähne! Noch nicht mal der liebe Gott!

      Sie küssen sich auffällig immer wieder und ich frage mich, wie lange ein normaler Zungenkuss wohl dauert. 10 Sekunden? 2 Minuten? Bille ist sich sicher, dass ein guter Kuss mindestens 5 Minuten dauern muss. So lang! Das muss eine feuchte und matschige Angelegenheit sein … Aber ich habe keine Ahnung und das, obwohl Bille mir ständig die Dr. Sommerseite der Bravo vorliest.

      Irgendwann habe ich genug Zungensport gesehen – es stört ihn gar nicht, dass die gesamte Nachbarschaft zusieht - und stehe auf. Erik küsst die hübsche Blonde immer noch. Wieso ärgert es mich? Bille hat mich doch gewarnt: „Er hat ständig neue Freundinnen. Keine länger als zwei Wochen.“ Also, wirklich! Erik Sonnberg, muss das sein?

      „Becca, wohin gehst du?“, fragt Papa besorgt.

      „Nur ein paar Schritte die Straße entlang. Meine Füße vertreten“, beruhige ich ihn und schenke ihm ein nettes, unschuldiges Tochterlächeln mit Rehaugenblick.

      „Va bene, aber nicht allzu lang.“

      „Sí, sí“, antworte ich, ohne mich umzudrehen, und laufe los. Die Luft ist wunderbar. Ich gehe die Straße hinunter und biege rechts ab. Es ist immer noch seltsam, jetzt auf dem Land zu leben, ein eigenes Haus zu haben, einen großen Garten. Ganz zu schweigen von dem fehlenden Hupen der Hauptstraße, den wogenden Maisfeldern neben unserem Haus, der riesigen, neuen Schule, den vielen, neuen Lehrern und den neuen Gefühlen in meinem Bauch. Verdammt, wieso ist es mir nicht egal, was ein blöder Nachbarsjunge macht und wen er küsst? Ärgerlich kicke ich einen Kieselstein zur Seite. Ich laufe noch eine Straße weiter und sehe mir meine neue Umgebung an. Wieso bin ich die ersten Monate hier nicht lang gelaufen? Seltsam. War wahrscheinlich nur mit Schule und Schwimmtraining beschäftigt. Ich bin wirklich in den B-Kader Bayerns aufgenommen worden! Vor allem auf meine Zeit über die 100 Meter Kraul bin ich stolz wie Oskar: 1,06 Minuten! Ich laufe weiter und weiter. Wie groß diese Häuser sind! Irre, wenn ich an unsere kleine 3-Zimmer-Wohnung in Augsburg zurückdenke. Wir sind erst ein Jahr hier und es scheint mir hundert Jahre her zu sein.

      Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Sie nähern sich schnell, werden immer lauter und mein Herz fängt an zu hämmern. Irgendetwas in mir schlägt Alarm. Meine eigenen Schritte werden auf einmal größer. Eine imaginäre Hand umfasst plötzlich meinen Magen und zerquetscht ihn. Bilder aus der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ laufen szenenartig vor meinem inneren Auge ab: Fünfzehnjähriges Mädchen spurlos verschwunden. Einsatzkräfte suchen vergeblich nach dem Mädchen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich hierbei um ein Verbrechen handelt. Wir bitten dringend um Ihre Mithilfe. Sie trug an jenem Abend eine hellblaue Jeans und ein rotes …

      „Hallo, Becca“, ruft Erik etwas atemlos.

      Ich wirbele nervös herum und schnappe überrascht nach Luft. Was macht er denn hier? Muss er mir so eine Angst einjagen. „Hallo, Erik.“

      „Wo läufst du hin?“

      Was geht dich das an, denke ich genervt. Warst du nicht mit Küssen beschäftigt? „Nur ein bisschen die Beine vertreten.“ Ich bin viel zu nett zu ihm. Aber hätte ich denn einen Grund, sauer auf ihn zu sein?

      „Ganz allein? Es ist schon dunkel.“

      Sehr gut erkannt. „Ich denke nicht, dass wir in diesem Kuhkaff eine hohe Kriminalitätsrate haben oder täusche ich mich?“

      „Nein, ich meine nur … allein als Mädchen.“

      Also bitte, wir sind doch hier nicht in einem Ghetto von New York! „Musst du nicht zurück? Du warst doch … beschäftigt?“ Meine Stimme klingt etwas heiser.

      „Nein, Katharina wurde abgeholt.“

      „Oh, wie schade für dich.“ Ich will und ich muss kratzbürstig sein!

      Er bemüht sich, seine plötzliche Verärgerung zu unterdrücken. „Ach, sie bedeutet mir nichts.“

      Perplex schnappe ich nach Luft,