Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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gesagt! Ich schicke wilde Wünsche ins Universum, dass mir Erik Sonnberg in Zukunft gestohlen bleiben kann!

      Ein paar Augenblicke sagen wir nichts. Dann atmet er tief ein. Plötzlich lässt er meine Arme los und nimmt stattdessen meine rechte Hand. Ich habe das Gefühl, er ringt mit sich. Er schaut zur Seite, schnaubt laut und fährt sich mit der freien Hand durch seine braunen, stufig geschnittenen Haare. „Tut mir leid, Becca. Ich wollte nicht, dass der Abend so läuft. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Ich wollte den Abend wirklich mit dir verbringen …“ Seine Stimme wird weicher und leiser. „Oh Mann! Du bist die Tochter unserer Nachbarn. Ein kleines Ding. Du wirkst noch so jung. Aber dann, wenn ich dich mit einem anderen Jungen reden sehe, könnte ich durchdrehen. Du ziehst mich magisch an. Immer wieder. Ich muss dauernd an dich denken. In der Schule, beim Tennisspielen, beim Aufwachen, beim Einschlafen. Wenn ich überhaupt schlafen kann. Ich bin seit Wochen völlig durch den Wind. Keine Ahnung, Scheiße verdammt! Du bist so anders, sagst, was du denkst. Und wenn du wütend bist, beben deine Nasenflügel, wie gerade jetzt. Deine Füße sind winzig und du hast Sommersprossen auf der Nase. Bisher hatte ich mich immer gut im Griff, war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, bis du kamst. Becca, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt!“

      Ich traue meinen Ohren nicht: Mein ultracooler Nachbar hat sich verliebt? In mich? Sommersprossigen, flachbrüstigen, winzigen Niemand? Das ist nicht wahr. Erik Sonnberg empfindet etwas … für mich!?

      Jetzt fängt es richtig an zu regnen. Die Ahornblätter über uns rascheln wild gegen den Wind an, und die Menschen rennen blitzschnell über den Festplatz, um noch einen trockenen Unterstand zu finden. Ein paar Mädchen kreischen wie wild gewordene Hühner. Überall ist Fußgetrappel zu hören und das Geräusch von Regenschirmen, die aufgespannt werden. Wir bleiben beide regungslos unter dem Ahornbaum stehen. Der Regen prasselt auf uns nieder, unsere Füße stehen bald bis über die Sohlen im Wasser, meine Bluse ist durchnässt und ich spüre, wie meine perfekt geschminkten Wimpern einen schmierigen Abgang über meine Wangen machen. Ich muss fürchterlich aussehen, denke ich, während Erik immer noch meine Hand hält und mich wutentbrannt ansieht. Jungen und Mädchen rasen an uns vorbei, mit und ohne Schirm. Einige halten sich Plastiktüten über ihre Köpfe. Ältere Pärchen ziehen schnellen Schrittes zum Parkplatz. Aber wir bleiben stehen.

      Plötzlich zieht Erik mich zu sich und beugt seinen Kopf zu mir herunter. Wieder durchzuckt dieses Stechen meinen Magen. Viele kleine Blitze. Er nimmt meinen Kopf in seine Hände, sieht mich lange an und küsst mich schließlich sanft auf den Mund. Unsere Gesichter sind nass vom Regen, das Geräusch der vorbeieilenden Menschen verstummt. Der Regen verliert seine Kälte. Ich spüre, wie mein Herz gegen meine Rippen hämmert und dann öffnen wir unsere Lippen. Schnelle und langsame Tropfen fließen an unseren Wangen herunter. Seine Zunge gleitet über meine und lässt mich wohlig erschauern. Plötzlich zieht er mich heftig zu sich und sein Kuss wird fordernder und wilder und tiefer. Berauschende Gefühle explodieren wie kleine Bläschen in mir und wir fangen kaum hörbar zu stöhnen an. So fühlt sich also ein Kuss an! Herrlich, himmlisch, gigantisch, phantastisch, wunderbar, neu. Er hält meinen Kopf viele Minuten in seinen Händen und seine Finger graben sich in meinen Nacken.

      „Du machst mich völlig verrückt“, haucht er schließlich und seine Nasenspitze berührt sanft meine Stirn.

      „Das war mein erster Kuss“, flüstere ich in seine Lippen, völlig überwältigt von den in mir erwachenden, intensiven Gefühlen.

      Eriks Augen sehen mich nun verschmitzt an. „Nein, dein zweiter. Bei deinem ersten hast du dich ziemlich gewehrt.“

      Oktober 1990

      Erik steht hinter mir, schlingt seine Arme leidenschaftlich um meine Taille und ich schließe für einen Moment die Augen. Wie schnell sich mein Leben gerade ändert!

      „Mein Papa ist total eifersüchtig auf dich.“

      „Ja, das Gefühl habe ich auch. Er sieht mich immer so grimmig an. Dabei mochte er mich anfangs so gern.“

      „Er hasst es, wenn ich bei dir bin. Und er hasst es, dass du mich vor seinen Augen küsst.“

      „Dabei bin ich ein so sympathischer Nachbarsjunge“, scherzt Erik in mein rechtes Ohr.

      „Stimmt, meine Mama fand dich von Anfang an klasse“, entgegne ich schmunzelnd. Sein Zimmer ist sehr groß und über und über mit Postern von Iron Maiden, Guns’n’Roses und Metallica beklebt. Ein schwarzer Regenschirm hängt aufgespannt von der Decke und im Bücherregal stehen Klassiker wie ‚Die Blechtrommel’ und ‚Der Untertan’ neben Slayer- und Bon Jovi- CDs. In jeder Ecke baumeln graue und tarnfarbene Modelljets von der Decke. Kampfflugzeuge, überall. Ich deute mit dem Zeigefinger auf eines. „Was ist das für ein Jet?“

      „Eine F 18 Hornet. Ein amerikanischer Kampfjet“, antwortet er und ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht.

      „Und der da drüben?“

      „Eine F 16 Fighting Falcon. Sie ist klein und wendig. Man nennt sie auch Viper.“

      Beeindruckt drehe ich mich um und küsse ihn auf die Nase, genau auf die Stelle seiner kleinen Narbe. „Möchtest du Kampfpilot werden? So wie in Top Gun?“

      „Ja, das ist mein absoluter Traum. Tornadopilot bei der Luftwaffe. Und du, möchtest du die Freundin eines Piloten werden?“

      Die Titelmelodie von Top Gun spielt plötzlich in meinem inneren Ohr und ich erinnere mich, wie ich den Film mit Freundinnen zum ersten Mal gesehen habe. Wir haben gelacht und waren gebannt, wie Maverick, Goose und Iceman ihre Manöver flogen. Sehnsüchtig haben wir dem ersten Kuss von Maverick und Charlie entgegengefiebert. „Habe ich eine Wahl?“, frage ich und male mit meinen Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

      „Nein“, grinst er und schlingt seine Arme fester um mich.

      „Hilfe, ich bekomme keine Luft mehr! Hör bitte auf“, japse ich.

      „Piloten sind einfach wild und ungestüm.“

      „Noch bist du keiner“, kontere ich schmunzelnd.

      „Was? Du zweifelst an mir?“, braust er auf, nimmt mich in seine Arme und wirft mich neckisch lachend auf sein Bett. Wir küssen uns lange. Meine Welt beginnt sich zu drehen. Seine Küsse werden wilder und energischer und Erik schiebt langsam seine Hand unter meinen Pullover. Ich zucke zusammen.

      „Was ist?“, flüstert er.

      „Ich … äh … da hat mich noch niemand berührt.“

      „Wirklich nicht?“

      „Nein.“

      „Gut. Ich werde dieses wundervolle Gebiet langsam erkunden.“

      Unwohl rutsche ich ein bisschen zurück. „Können wir nicht noch etwas warten?“

      „Becca, ich bin ganz sanft, vertrau mir. Komm, lass uns unter der Decke kuscheln.“

      Unter der Decke! Das geht mir alles zu schnell! „Ich möchte lieber noch etwas warten.“

      „Bitte, Becca, wir kuscheln nur, nicht mehr. Ich möchte dich einfach bei mir spüren.“

      „Also gut, du hast gewonnen.“ Nervös krabbele ich unter die Bettdecke und fühle mich irgendwie unwohl. Mein Körper ist ganz steif, als wäre er ein frisch geschlagener Ast. Ich versuche ruhig zu atmen. Becca, was soll schon sein? Du liegst angezogen unter einer Decke, sonst nichts. Jetzt stell dich nicht so an!

      Plötzlich schwingt die Tür auf und Eriks Vater steckt seinen Kopf in das Zimmer. Verwundert reißt er beide Augen auf und stockt für einen Augenblick. Dann findet er jedoch seine Sprache wieder, leider. „Bumst ihr hier oder was?“, schießt es aus ihm heraus.

      Erik und ich sehen uns zögerlich an und schütteln vehement den Kopf. Schlagartig spüre ich, wie ich von meinen Wangen bis zu den Haarwurzeln tiefrot werde. Er starrt