Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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sich immer wieder besorgt nach mir um. Ich habe mich für meine hellblaue Jeans und eine weiße Bluse entschieden. Meine Haare habe ich offen gelassen. So sehe ich älter aus als mit Pferdeschwanz. Mein Wimperntuschprogramm hat gut funktioniert, meine blauen Augen sehen toll aus, soweit ich das beurteilen kann. An einen Lidstrich habe ich mich noch nicht gewagt. Man soll sein Glück ja nicht allzu sehr herausfordern. Erik trägt ebenfalls eine Jeans. Allerdings ist sein T-Shirt nicht ganz jugendfrei. Eine graue Comicmaus mit Riesenpenis vergnügt sich mit einer anderen Maus bei einem Kopulationsversuch von hinten. Darüber steht in dicken Buchstaben: Komm Pussy, komm. Gott sei Dank hatte er die Jacke zugeknöpft, als er bei uns geklingelt hat!

      Auf dem Markt ist die Hölle los und wir quetschen unsere Räder durch die Menschenmassen. Hinter dem letzten Stand, der passenderweise „Süße Versuchung“ heißt, finden wir einen guten Platz für unsere Räder. Direkt unter zwei großen Ahornbäumen. Ich spüre, wie der Wind über meine Arme fährt und mir eine Gänsehaut macht. Also ziehe ich meine Jeansjacke an, die hinten auf meinem Gepäckträger eingeklemmt ist. Voll freudiger Erwartung gehe ich neben Erik zurück auf die Feststraße. Mein Herz hämmert so laut, dass er es eigentlich hören müsste.

      Er sieht mich auf einmal ganz lange an, als müsste er mich studieren oder als tue ihm vielleicht etwas weh. „Also Becca, ich treffe mich mit meinen Kumpels im Zelt. Wir wollen ein paar Maß trinken. Ich denke, wir sitzen so im vorderen Drittel, wenn was ist. Wir treffen uns um neun wieder.“ Erik gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf meine linke Schulter und geht schnellen Schrittes zum Zelteingang.

      Ich stehe da wie eine kleine, blonde Salzsäule. Er ist tatsächlich gegangen und hat mich allein gelassen! Scheiße! Wie konnte ich nur denken, er würde den Abend tatsächlich mit mir verbringen? Alle Mädchen sind in ihn verliebt, und ich bin nur ein Niemand. Ein Niemand mit viel zu kleinem Busen! Mit einem Gesicht wie eine Dreizehnjährige! Ich verstehe gar nichts mehr. Warum ist er überhaupt mit mir hierhergefahren? Enttäuschung steigt in mir auf. Einen kurzen Augenblick kämpfe ich mit den Tränen und würge sie herunter. Der kann mich mal! Ich werde ganz bestimmt nicht um neun Uhr im Zelt bei ihm vorbeischauen. Ich bin fast sechzehn, alt genug, um alleine Spaß zu haben!

      Plötzlich ruft jemand meinen Namen: „Mensch, Becca! Das ist ja schön, dich zu sehen. Hat dein Alter dich auch mal weggehen lassen?“

      Ich schlucke etwas bei dem Wort ‚Alter’, womit wohl mein Vater gemeint ist. „Hallo, Robert. Ja, ich habe heute Ausgang.“ Er lächelt mich an und hakt sich bei mir unter. Obwohl ich Robert, unseren Klassensprecher, nur wenig kenne, fühlt es sich gut an ihn zu sehen.

      „Bist du allein unterwegs?“

      „Ja, klar“, lüge ich und versuche nicht, an Erik zu denken.

      Ein Fragezeichen erscheint in Roberts Gesicht und ich werde unsicher, aber er geht nicht näher darauf ein. „Was wollen wir als Erstes machen? Leopardenspur fahren oder Autoskooter?“

      „Eindeutig Leopardenspur!“ Ich schlucke den Unmut und die Enttäuschung über Eriks Abgang herunter. Große Mädchen lassen sich nichts anmerken. Und plötzlich fühlt sich dieser Abend gut an.

      „Ach ja, und Becca?“

      „Was ist?“

      „Es ist wirklich toll, dass wir uns getroffen haben.“ Er zögert einen kurzen Moment. „Du siehst heute sehr hübsch aus, das wollte ich noch sagen.“

      Jetzt fühlt sich dieser Abend noch besser an. Ich merke, wie mein Mund von einem Ohr zum anderen grinst. „Danke.“

      In der Leopardenspur sitze ich innen, so dass die Drehgeschwindigkeit mich an Roberts Körper presst. Wir lachen laut und der enge Kontakt stört mich nicht im Geringsten. Wir haben viel Spaß. Beim Autoskooter sitzt jeder in seinem eigenen Wagen, wir liefern uns harte Kämpfe. Bon Jovis „Run away“ dröhnt aus den Boxen, und ich sehe viele meiner Klassenkameraden oder Schüler aus Parallelklassen. Später kaufen wir uns eine große Portion klebrige Zuckerwatte, die wir gemeinsam vertilgen, während wir dabei ständig versuchen, dem anderen einen Fetzen weißer Watte an die Wange zu kleben. Es ist herrlich! Da ich nicht so groß bin, muss ich mich ganz schön strecken, damit ich Roberts Gesicht treffe. Der wiederum duckt sich und greift mich von unten an. Danach holen wir uns noch gebrannte Mandeln. Robert versucht geschickt die Mandel in die Höhe zu werfen und mit seinem offenen Mund wieder zu fangen. Da ich in so einer Geschicklichkeitsübung total versagen würde, lasse ich ihm den Vortritt und jubele bei jedem Treffer.

      Es ist inzwischen dunkel und der Wind hat ein bisschen zugenommen.

      „Lass uns ins Zelt gehen und was trinken“, schlägt er vor. Drinnen ist es pudelwarm und ich bin froh, mich aufwärmen zu können. „Wie wäre es mit einem Radler?“ Robert eilt davon und kommt mit einem Maßkrug wieder.

      Wir sitzen uns gegenüber und jeder nimmt einen großen Schluck. Er erzählt mir von seinen letzten Schulaufgaben und wie sehr er Englisch hasst. Ich sage ihm besser nicht, dass das eines meiner Lieblingsfächer ist. Dafür liebt er Mathe und Physik! Na ja, es muss wohl auch solche Menschen geben.

      Wir machen uns wieder auf den Weg nach draußen und schwingen die Zeltplane zur Seite, als plötzlich Erik vor uns steht. Wütend sieht er zuerst mich an, danach Robert, dann wieder mich.

      „Wo warst du die ganze Zeit, verdammt? Ich habe dich überall gesucht!“ Obwohl er mit mir spricht, fixiert Erik Robert mit funkelnden Blicken.

      „Ist das etwa dein Freund?“, fragt Robert höflich. Er wirkt gelassen und ruhig, ist jedoch sichtlich überrascht.

      „Nein!“, schießt es unwirsch aus meinem Mund. „Er ist nur … nur … mein … Nachbar.“ Ich versuche, unbeeindruckt zu klingen und meiner Stimme einen verächtlichen Unterton zu verleihen.

      „Becca, weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?“ Erik deutet wutschnaubend auf seine digitale Armbanduhr. Ohne meine Antwort abzuwarten, donnert er los: „Gleich Viertel vor zehn!“

      Jetzt blickt Robert verständnislos zwischen Erik und mir hin und her. Dann lässt er meinen Arm los und meint: „Äh, ich glaube, ihr zwei müsst da irgendetwas klären. Ich gehe dann mal. Ist eh schon spät. Becca, du kannst mich ja anrufen? Würde mich freuen.“ Und dann ist er auch schon weg und Erik und ich stehen uns aufgebracht gegenüber.

      „Du musst mich nicht nach Hause begleiten“, knurre ich. „Ich kenne den Weg auch allein.“ Ich mache kehrt und gehe voller Zorn zu meinem Fahrrad. Der Wind ist inzwischen sehr stark und die ersten Regentropfen fallen vom Himmel. Egal, der Abend ist gelaufen und ich muss heim. Wenn ich ordentlich in die Pedale trete, schaffe ich es vielleicht, noch pünktlich zu sein. Dann höre ich Erik hinter mir und seine Schritte klingen laut und entschlossen. Also gehe ich noch schneller, denn ich habe keine Lust, mit ihm zusammen nach Hause zu radeln. Als ich unter den Ahornbäumen ankomme, reißt Erik mich unsanft herum und hält meine beiden Arme mit seinen Händen fest.

      „Aua, das tut weh! Lass mich los! Was soll das?“

      Erik drückt seine Hände noch fester in meine Arme. „Wir hatten abgemacht, dass du um neun ins Zelt kommst“, schnaubt er und seine Augen funkeln böse in der Dunkelheit.

      „Ja und?“ Ich bin sehr stolz auf den festen Klang meiner Stimme.

      „Ich habe dich überall gesucht! Es war schon dunkel und ich konnte dich nirgendwo finden. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Verdammt!“

      „Sorgen? Dass ich nicht lache! Du warst doch bei deinen Freunden im Zelt.“

      „Nicht lange, Becca. Dann bin ich los, um nach dir zu sehen. Schon lange vor neun Uhr.“

      „Das ist dein Pech. Wieso hast du mich heute Abend überhaupt mitgenommen und dann stehen lassen? Das war echt gemein von dir! Du hast dich benommen wie ein Arsch.“ OK, wie ein gutaussehender Arsch, aber Arsch bleibt Arsch!

      „Ich habe mich bescheuert verhalten.“ Jetzt werden seine Augen sanfter. „Das tut mir echt leid, war blöd von mir. Aber warum bist du nicht um neun ins Zelt gekommen?“