Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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sie nicht“, blafft er und geht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ein seltsamer Schauer überfällt mich, aber ich weiche nicht zurück. Die Straßenlampe flackert und summt vor sich hin. Von weit weg, vermischt mit dem Gewirr vieler Stimmen, höre ich “Listen to your heart …” von Roxette. Plötzlich kommt er mir noch näher. Ich habe Mühe ruhig zu atmen. Er steht viel zu dicht bei mir und weil es mir unangenehm ist, blicke ich auf den Boden. Er sagt nichts mehr und berührt mich zuerst sanft, dann fest an beiden Schultern. Ein ungewohntes Kribbeln geht wie ein Flächenbrand durch meinen gesamten Körper und endet irgendwo kurz über meinem Bauchnabel.

      „Rebecca, ich möchte …“, beginnt er und zieht mich zärtlich zu sich. Er hebt mein Kinn an und sein Blick verhakt sich in meinem. Mein Puls steigt. Was soll ich nur mit meinen Händen machen? Seine Hand liebkost meinen Hinterkopf. Dann beugt er sich zu mir herunter. Mein Atem stockt. Mir ist plötzlich furchtbar heiß. Seine Augen blitzen mich an und er kommt noch näher. Seine Lippen berühren zart die meinen, federleicht. Mit seinem Daumen öffnet er meine Lippen und sanft forschend gleitet seine Zunge in meinen Mund. Seine Zungenspitze schiebt sich vorsichtig tastend über meine Lippen. Wir atmen schneller. Viel schneller. Hunderttausend Schmetterlinge rocken in meinem Magen herum. Wo kommen die alle her?

      Ach, du Scheiße! Hat er nicht vor einer halben Stunde noch ein anderes Mädchen geküsst? Ist er verrückt? Geschockt und verärgert stoße ich ihn von mir, hole aus und schlage ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Wie kann er es wagen? Zuerst küsst er die blonde Barbie und dann mich? Meine Handinnenfläche brennt. Erik sieht mich völlig überrumpelt an und hält sich die linke Wange.

      „Entschuldigung, ich …“

      „Du bist ein Idiot! Tue das nie wieder“, fauche ich fassungslos. Am liebsten möchte ich ihm noch einmal ins Gesicht schlagen, entscheide mich aber für die Flucht. Ich renne wie von der Tarantel gestochen los. Bloß weg, nach Hause! Und bloß nichts Papa erzählen!

      Himmelherrgott, mein erster Kuss! So habe ich mir ihn nicht vorgestellt. So sollte es nicht sein, oder? Nur eine Nummer Zwei zu sein am selben Abend … aber es fühlte sich so verdammt gut an. Sein Mund auf meinem …

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      „Rebecca, ich muss mit dir reden.“ Die Stimme meines Papas klingt tief und so ernst, als wäre jemand schwer erkrankt oder gestorben. Ich merke ihm sein Unbehagen deutlich an. Er deutet vielsagend auf den Stuhl in der Küche und schließt alle anderen Türen. Seine dunklen Locken sind etwas zu lang und stehen in alle Richtungen ab. Er müsste dringend zum Friseur. Die Art, wie er mich ansieht, erinnert mich stark an den Blick einer dieser fiesen Mafiabosse, die man aus Filmen wie ‚Der Pate’ kennt. Der Blick, mit dem sie in einem abgedunkelten Hinterzimmer den klapprigen Holzstuhl für ihr Opfer zurecht rücken.

      „Was gibt’s?“ Seit einiger Zeit geht mir mein Papa extrem auf die Nerven. Früher haben wir uns sehr gut verstanden. Wir haben zusammen Mathe gemacht, nicht gerade mein Lieblingsfach, oder Weitsprung trainiert, weil ich unbedingt eine Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen haben wollte und meine Wurfkompetenz sehr zu wünschen übrig lässt. Einmal habe ich es doch glatt geschafft minus drei Meter zu werfen, weil mir der blöde Ball zur Seite nach hinten ausgekommen ist. Papa! Seit Wochen nervt mich allein sein Anblick. „Was gibt’s?“, frage ich noch mal gedehnt.

      „Du bist erst fünfzehn. Und ich denke, du bist noch zu jung, um …“, er sucht nach den richtigen Worten, „um einen festen Freund zu haben.“

      Verdammt! Woher weiß er von Eriks Kuss? Ich habe niemanden etwas erzählt, alles für mich behalten. Das kann er unmöglich wissen. Hat er mir nachspioniert? Wir sind doch nicht im mittelalterlichen Sizilien! „Ich habe keinen Freund“, sage ich sauer. Es stört mich sehr, dass er sich in meine Angelegenheiten einmischt. Soll das ein verdammtes Verhör werden? Ich bin kein schwaches, bereits aus den Mundwinkeln blutendes Opfer und er nicht Don Corleone.

      „Der hier lag im Briefkasten.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick streckt er mir einen Brief hin und ich komme mir vor, als hätte man mich bei irgendeinem schrecklichen Verbrechen erwischt. Ungläubig, aber dennoch neugierig hole ich ein kariertes, verknicktes Blatt aus dem Umschlag hervor. Darauf steht: „Liebe Becca, ich finde dich total süß und hätte Lust dich kennen zu lernen. Ich würde mich sehr freuen, dich einmal zu treffen. Hättest du Lust und Zeit? Stefan.“ Ich überlege fieberhaft und dann fällt mir plötzlich ein, um wen es sich handelt. Stefan: klein, blass und ungelenk. Viele Pickel im Gesicht. Habe ich ein paar Mal im Bus gesehen. Spinnt der? Was fällt dem ein, hier aufzukreuzen? Was fällt meinem Vater ein, meine Post zu lesen? Was fällt ihm ein, zu glauben, er könnte sich in mein Leben einmischen? Sind denn alle verrückt?

      Ich stoße die Luft aus. Mir ist nicht klar gewesen, dass ich den Atem angehalten habe. „Ich habe keinen Freund!“, sage ich anklagend und wütend. Gleichzeitig bin ich aber auch enttäuscht. Was hätte ich dafür gegeben, wenn der Brief von Erik gewesen wäre. Aber für Mister Supertennis bin ich natürlich unsichtbar.

      „Dann ist es ja gut“, raunt Papa. Es ist überflüssig, noch weiter zu sprechen. Wir stehen beide bockig auf und verlassen ohne ein weiteres Wort die Küche.

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      Die Sonne scheint und schickt uns warme, angenehme Strahlen nach unten. Ein leichter Wind streicht über die Maisfelder und kleine, bauschige Wolken hängen wie angepinnt im Himmel. Mein Papa und ich joggen die 45-Minuten-Runde um die Felder Richtung Schwabmünchen. Ich möchte meine Kondition steigern, in ein paar Wochen sind die Sprintmeisterschaften. Papa hat sich als Laufpartner regelrecht aufgedrängt. Na gut, was soll’ s. Beim Laufen kann er zumindest nicht reden.

      „Hallo, was dagegen, wenn ich mitlaufe?“ Erik erreicht uns an der Abzweigung eines Feldweges, genau an der Stelle zum Wasserschutzgebiet.

      Ich drehe mich um und unterdrücke ein lautes Stöhnen.

      Mein Vater bleibt abrupt stehen. „Ah, Erik! Was für ein Zufall, dass du auch hier entlang joggst. Natürlich kannst du mit uns laufen, wir haben aber noch acht bis zehn Kilometer vor uns.“

      „Schön, dann laufe ich gern mit!“

      Erik sieht mir direkt in die Augen. Schlagartig fühle ich mich seltsam, versuche aber neutral und unverfänglich zu schauen. Super! Klasse! Auf den habe ich ja voll Lust! Kann er nicht woanders joggen? Auf dem Mond oder vielleicht gleich besser auf dem Mars! Außerirdische, die ihn hochbeamen und als Arbeitssklaven auf ihr Raumschiff entführen, wären mir alternativ auch recht …

      Wir laufen los. Rechts ich, in der Mitte mein Vater und links Erik. Immer wieder blickt er kurz zu mir herüber. Ich spüre seinen Blick auf mir. Es fällt mir unglaublich schwer, ihn nicht anzusehen. Mein Puls ist gleichmäßig, aber ich habe das Gefühl, alle meine inneren Organe befinden sich im Schleudergang einer Waschmaschine. Unsere Joggingstrecke, sie kommt mir heute viel länger vor als sonst. Sie muss sich durch irgendeine kosmische Strahlung verdoppelt haben! Wir laufen weiter, und jetzt sieht Erik mich wieder an. Er lächelt. Ich werde nicht schlau aus ihm. Bei unserer ersten Begegnung war er total unfreundlich, dann haben wir ein Jahr kaum miteinander geredet, dann will er mich küssen, obwohl es noch ein anderes Mädchen gab. Der ist doch komplett verrückt! Ich nicke ihm brummig zu. Danach traue ich mich nicht mehr, in seine Richtung zu sehen, bis wir wieder zu Hause sind.

      „Hätte nicht gedacht, dass du so gut mithältst, Erik“ bemerkt Papa. „Man merkt, dass du viel Tennis spielst.“

      Erik gibt meinem Papa lässig die Hand – sie ist sonnengebräunt, was unverschämt sexy aussieht – und verabschiedet sich freundlich.

      „Wenn du magst, kannst du ja wieder mit uns laufen.“

      „Können wir sehr gern wiederholen“, antwortet Erik mit einem langen Blick auf mich. Dass Papa überhaupt nichts checkt! Der hat doch Tomaten auf den Augen. Mindestens auf jedem Auge zwei …

      Ich sage nichts, drehe mich ruckartig um und sperre die Haustür auf. Mir ist komisch, so als hätte ich hundert Umdrehungen auf einem Bürostuhl hinter mir.