Lothar Beutin

Rizin


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Wenn und Aber vollzogen werden mussten.

      Zu Terminen kam Krantz gewöhnlich etwa fünfzehn Minuten zu spät. So vermittelte er den Eindruck, ein viel beschäftigter Mann zu sein. Nach einer Viertelstunde tauchte er in dem mit Milchglaswänden abgeteilten Wartezimmer auf und murmelte etwas von dringenden Meetings, während er seinen Besuch in die edel eingerichtete Bürosuite führte. Große finanzielle Aufwendungen konnten dort besichtigt werden. Aus den ehemaligen Laborräumen hatte Krantz Wände und Decke herausreißen und alles neu gestalten lassen. Die Beleuchtung, die sich dem Tageslicht automatisch anpasste, die schweren, gepanzerten Türen, die sich leicht und lautlos wie auf Kufen bewegten und das teure, steril wirkende Mobiliar hinterließen einen bleibenden Eindruck. Für die unterkühlte Atmosphäre sorgte eine eigene Klimaanlage, die Krantz sich auf das Dach des Institutes hatte montieren lassen.

      Seine Personalentscheidungen verliefen nach einem genauen Ritus. Er bat die Betroffenen eine Woche vorher zum Gespräch, ohne dass sie erfuhren, worum es ging. Für viele waren es Tage des bangen Wartens, denn Krantz war für Überraschungen gefürchtet. Bei Umsetzungsmaßnahmen nahm sein Leitungsstab teil, Personalchefin Kanter und Vizedirektor Arnold.

      Frau Kanter erschien gewöhnlich erst weit nach neun Uhr im Institut und blockierte mit ihrem knallgelben Auto die Parkplätze von Mitarbeitern, die vor ihr gekommen waren. Um sein Auto auszulösen, musste man Frau Kanter anrufen und sich die Frage gefallen lassen, warum man schon so früh nach Hause ging. Vizedirektor Arnold war ein ebenso dümmlicher wie bösartiger Charakter. In seinem Gehabe erinnerte er an die Figur des Untertanen aus dem gleichnamigen Buch von Heinrich Mann. Arnold war ein Radfahrertyp, der nach oben buckelte und nach unten trat. Krantz hielt sich gewöhnlich zurück, er zog im Hintergrund die Fäden und ließ Kanter und Arnold agieren. Als Bürotäter machte er sich die Finger nicht schmutzig.

      Bald war die Reihe an Schneider, bei einem dieser Dramen mitzuspielen. Nach den üblichen fünfzehn Minuten holte Krantz ihn in sein Büro, um sich bei Tee und Gebäck über personelle Überkapazitäten in Schneiders Bereich auszulassen. Die Personalchefin blätterte dabei desinteressiert in einem Aktenordner, während der Vize Arnold sich hektisch Notizen machte. Frau Daniela Schulz aus Schneiders Gruppe wurde für andere Tätigkeiten im IEI benötigt. Schneiders Einwände kommentierte Krantz mit der Bemerkung: „Sie können wohl nicht richtig kommunizieren.“ Schneider verstand das nicht. Kommunizieren, das wollte er doch. Und dem Direktor erklären, dass er Frau Schulz dringend brauchte. Ob Krantz das nicht verstehen würde. Krantz gefiel die Aufgeregtheit von Schneider nicht. Schneider sei viel zu emotional. Den Rest der Sitzung überließ er Kanter und Arnold. Als Daniela Schulz kurz danach in eine andere Arbeitsgruppe wechseln musste, hatte Schneider begriffen, dass es um seine berufliche Existenz ging.

      Im Gegensatz zu den eher lässig angezogenen Wissenschaftlern am IEI war Krantz stets konservativ gekleidet, er bevorzugte den dunkelgrauen Maßanzug. Seine hohe Stirn und das seitlich heruntergekämmte, weißgraue Haar gaben ihm das Image eines Denkers. Seine Mundpartie, die von einem dünnen Schnurrbart überspannt wurde, verriet mehr von seinem wahren Charakter und verzog sich bisweilen zu einem zynischen Grinsen.

      Typischerweise sprach Krantz mit leiser Stimme, ein rhetorischer Trick, den er bewusst einsetzte. So erzwang er andächtiges Zuhören. Man fürchtete, seine bedeutungsschweren Mitteilungen sonst nicht richtig zu verstehen. Den Personalrat hatte er in der Tasche, die alten Mitarbeiter hatten sich angepasst oder waren gegangen. Die neu Eingestellten wussten nicht, dass es vor Krantz kollegialere Umgangsformen am IEI gegeben hatte. Binnen weniger Monate hatte sich das IEI in ein gefügiges Instrument in den Händen seines Direktors verwandelt.

      Die Unterwerfung des IEI unter seine Interessen war kein Selbstzweck, sie diente Krantz auf seinem Weg zu einer Person des öffentlichen Lebens. Seine Eitelkeit fixierte ihn wie ein Spiegelbild auf seine öffentliche Wirkung. Dabei kam ihm zugute, dass ein Institut für Infektionskrankheiten im Fokus der Medien stand. Kontakte zwischen Institutsangehörigen und Journalisten bedurften seiner persönlichen Genehmigung. Interviews gab er gerne selbst, am Telefon, da fiel es nicht auf, wenn er fachlich nicht Bescheid wusste. Hatte er doch seine wissenschaftlichen Souffleure neben sich sitzen, die ihm in den Gesprächspausen die notwendigen Stichworte ins Ohr flüsterten. So vermittelte er der Öffentlichkeit ein „Professor Allwissend“, ein modernes Universalgenie zu sein, das auf jede Frage zu Infektionskrankheiten die passende Antwort bereithatte.

      Nachdem er auf diese Weise schnell zu einem landesweit bekannten Experten geworden war, ging er noch einen Schritt weiter. Nun vermittelte er seine Botschaft im Fernsehen, verpackt in Form von düsteren Zukunftsprognosen. Neue Seuchen bedrohten das Land, Massenimpfungen seien erforderlich, aber Impfstoff, Geld und gute Forscher wären Mangelware. Nur er und sein Institut könnten das Land vor dem Untergang bewahren. Szenarien mit toten Vögeln und der Entstehung neuer Todesviren, mit Seuchenzügen als Folgen von Tsunami und Wirbelstürmen wurden durch seine Reden schon Gewissheit. Ob sie jemals einträfen, war zweitrangig. Sein Bekanntheitsgrad stieg, sein Nimbus als wissenschaftliche Überkapazität wuchs zu einer festen Größe des politischen Lebens. So setzte er die Politik unter Zugzwang, spekulierte auf Zufluss von Geld und Personal und vermehrte sein Prestige.

      2.

      Ein paar Wochen, bevor überraschend alle Laborleiter des IEI zu einer Sitzung bei Krantz einbestellt wurden, waren in den USA Dinge passiert, die das Szenario eines Hollywoodfilms in den Schatten stellten. Nur wenige Tage nach den Anschlägen des 11. September erhielten amerikanische Politiker Briefe, die außer einer banalen Botschaft weißen Staub enthielten, der den Empfängern um die Nase wehte. Ein paar Tage danach entwickelten sie Anzeichen einer Grippe, bekamen Fieber und Schüttelfrost, um bald darauf im Schockzustand zu sterben.

      Die Ursache dafür war schnell gefunden. Es war Milzbrand, eine Krankheit, die vor hundert Jahren bei Pelzverarbeitern eine Rolle spielte, heutzutage aber so gut wie verschwunden war. Proben aus den Wohnungen der Briefopfer identifizierten den weißen Staub als Sporen des Milzbrandbakteriums Bacillus anthracis. Anthrax hieß diese Seuche wegen der anthrazitschwarzen Hautgeschwüre, die sich bei den Infizierten bildeten. Ohne antibiotische Behandlung verlief Anthrax meistens tödlich. Einige der Briefempfänger starben, denn bevor man wusste, was die Ursache ihrer Erkrankung war, kam die Antibiotikatherapie zu spät.

      Der Verdacht auf Bioterrorismus im Geleit der nine eleven Anschläge in Manhattan lag auf der Hand. Hatten Nachrichtendienste nicht geheime Produktionsstätten für Biowaffen im Irak entdeckt? War Anthrax nicht eine der bekanntesten Biowaffen überhaupt? Einfach in der Herstellung und verheerend in der Wirkung. So verheerend, dass Sporen des Milzbranderregers, welche die britische Armee auf eine unbewohnte Insel abgeworfen hatte, fünfzig Jahre danach immer noch ansteckungsfähig waren. Für die Militärs relativierte das die Eignung von Anthrax als Kriegswaffe, weil man das Land des Gegners für Jahrzehnte lang nicht ohne Schutzanzug betreten konnte. Aber für Terroristen, die Angst und den Tod verbreiten wollten, schien diese Waffe dagegen viel besser geeignet zu sein.

      Diese Absicht teilten auch Kreise des japanischen Militärs, die Anthrax im Zweiten Weltkrieg in China einsetzten, um die Zivilbevölkerung zu dezimieren. Nach Kriegsende wurden die Verantwortlichen von den Alliierten zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch einige konnten ihren Hals durch ihre Kenntnisse retten, die sie den Siegermächten zur Verfügung anboten. So entstand zu Beginn des Kalten Krieges eine staatlich geförderte B-Waffen Entwicklung, welche die Atombomben im Portfolio der Drohkulisse ergänzen sollte. Die Großmächte betrieben geheime Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von biologischen Waffen. Das in der Sowjetunion gelegene Institut in Stepnogorsk fiel nach der Wende durch die weiträumige Verseuchung der Umgebung mit Viren und Bakterien auf. Entdeckt wurde das nur durch Zufall, weil Stepnogorsk in den Wirren der Wendezeit von ausländischen Experten besucht werden durfte. Ein amerikanisches Gegenstück zu Stepnogorsk war Fort Detrick im Bundesstaat Maryland. Hier musste man sich nie von ausländischen Inspektoren in die Karten gucken lassen. Als der Kalte Krieg nach 1990 eine Pause machte, litt Fort Detrick wie sein russischer Gegenpart an nachlassendem Interesse der Militärs. Mit der Folge, dass die Budgets dieser Institute immer mehr schrumpften.

      Nach dem Auftauchen der Anthraxbriefe war das Interesse an B-Waffen wieder geweckt.