Lothar Beutin

Rizin


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leisesten Verdacht gab es sofort Großalarm. Die Polizei hatte einen Heidenrespekt vor den Briefen und wollte sie so schnell wie möglich abliefern. Wahrscheinlich war es blinder Alarm gewesen. Immerhin, der Samstag war gerettet.

      Aber es war alles ganz anders und nach einem ruhigen Sonntag mit seiner Familie, wartete am Montag im Institut eine Überraschung auf Schneider. Kaum hatte er das Labor betreten, kam Tanja und sagte: „Du, der Hellman hat schon dreimal angerufen, der ist stinksauer und hat gefragt, wo wir denn am Freitag gewesen sind.“

      „Wieso?“, fragte Schneider, „Hellman war doch am Freitagabend längst weg. Ich habe bis nach acht gewartet, nach ihm gesucht und ihm hinterher telefoniert.“

      Tanja war noch nicht fertig. „Hellman hat gesagt, er hätte deinetwegen die Probe selbst untersuchen müssen, damit das Ergebnis rechtzeitig für das BKA vorliegt.“

      Jetzt dämmerte Schneider, was hier gespielt worden war. Eine Intrige. „So ein Schwein!“, platzte es aus ihm heraus.

      Und so war es. Hellman hatte durch seine Mitarbeiter die Anthrax-PCR aufbauen lassen und von Krantz Anthraxbazillen bekommen. Er hatte Schneider nichts davon erzählt und außerdem hatte Hellman den ersten Zugriff auf die eintreffenden Verdachtsproben. Wie Schneider später erfuhr, war die Probe in Wirklichkeit schon am Freitagvormittag in Hellmans Labor gelangt. Hellman hatte die Ergebnisse schon in der Tasche, als er am Nachmittag bei Schneider im Labor auftauchte. Mit seiner Inszenierung wollte Hellman nur erreichen, dass Schneider nach vergeblichem Warten irgendwann nach Hause ging. Am Samstag hatte Hellman dem Direktor das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt und sich über den unzuverlässigen Schneider beklagt, der es vorgezogen hatte, seinen Feierabend einzuläuten, anstatt seine Pflicht zu tun.

      Ob Krantz über die Intrige Bescheid wusste, spielte keine Rolle. Hellman hatte sein Ziel erreicht. Von nun an hatte er die Federführung bei der Untersuchung der Verdachtsproben, Schneider war zur Randfigur geworden. Kurz darauf besiegelte Krantz das offiziell und ernannte Hellman zum Leiter der Arbeitsgruppe Bioterrorismus. Von Zusammenarbeit mit Schneider war nur noch in soweit die Rede, als dass man in ihm einen Zuarbeiter sah. Mit seinen neuen Befugnissen ließ Hellman einen Raum im Innentrakt des Neubaus als Hochsicherheitslabor ausbauen. Er bekam Mittel, den schon älteren Mikrobiologen Bartow, der seine Position an der Humboldt-Universität verloren hatte, einzustellen. Jetzt hatte Hellman seinen Mikrobiologen, ein Veterinär, der sich mit Anthrax gut auskannte. Bartow blieb auf Hellman angewiesen, denn der gab ihm nur befristete Arbeitsverträge, deren Verlängerung er vom Wohlverhalten Bartows abhängig machte.

      Die Alarmstufe für Anthrax blieb bestehen. Damit hatte Hellman weitreichenden Zugriff auf die Techniker und Wissenschaftler des IEI. Er erstellte einen Dienstplan, der die Wochenenden, Feiertage und Ferienzeiten mit einschloss. Alle Mitarbeiter, auch Schneider und seine Assistentinnen, hatten sich zu einem festgelegten Zeitplan zu Diensten einzutragen. Die Einweisung der Mitarbeiter in die Anthraxuntersuchung erfolgte durch Bartow und seine Assistentin. Kurze Zeit danach berichteten Krantz und Hellman auf einer Pressekonferenz, was sie zur biologischen Gefahrenabwehr auf die Beine gestellt hatten. Die Bürger konnten beruhigt schlafen, für ihre Sicherheit war gesorgt. Dieser Coup steigerte das Ansehen von Krantz. Anfragen im Parlament und Druck von politischer Seite ließen Geld und neue Stellen für den Aufbau der neuen Abteilung Biologische Gefahrenabwehr, kurz BIGA genannt, fließen.

      Durch den Presserummel schwoll die Menge der verdächtigen Briefsendungen, die im IEI eintrafen, mehr und mehr an. Krantz hatte einen Mechanismus in Gang gebracht, der sich von selbst verstärkte und so am Leben erhielt. Was die Briefe betraf, so erschien der Geisteszustand der Absender oft bedrohlicher als ihr Inhalt. Anonym geschrieben, enthielten sie meistens Beschimpfungen und Bedrohungen. Wenn Leute etwas über sich in den Medien lesen, hören oder sehen wollten, reichte es schon, einen solchen Brief mit einer Prise Backpulver an die Adresse eines Prominenten, Ministeriums oder einer Botschaft zu schicken.

      Am nächsten Tag konnten sie dann das öffentliche Echo ihrer Aktion verfolgen. Manch einer fand es schade, anonym zu bleiben und tat sich mit seinem Werk wichtig. Aber die wenigen Briefschreiber, die von der Polizei geschnappt wurden, waren solche, die sich irgendwann verplappert hatten.

      Briefe, die Verdacht erregten, wurden von der Polizei in bruchsichere Spezialbehälter verpackt und mit Blaulicht und Sirene ins IEI gebracht. Für einen Brief im Wert von einem Euro entstanden mehrere Tausend Euro Kosten, wenn man die Polizei- und die Laborarbeit berechnete. Das Geld fehlte an anderer Stelle, aber das kümmerte Krantz nicht. Wie viele Briefe mussten noch eintreffen, bevor man begriff, dass es vernünftiger war, sie gefahrlos zu vernichten, anstatt jede Woche ihren Pegelstand in der Zeitung auszukrähen?

      Schneider hatte sich das bald gefragt. Aber mit Vernunft hatte es nichts zu tun. Es ging um Geld, Macht und Einfluss. Selbst der zuständige Minister profitierte davon, weil seine Stellung in der Regierung gestärkt wurde. Als die Briefwelle abrupt endete und man Bilanz zog, hatte es in Deutschland nicht einen Brief gegeben, der tatsächlich Anthraxbazillen enthalten hatte.

      Schneider war in dieser Zeit mit den Anthraxuntersuchungen, bis auf die Wochenenddienste, nicht weiter beschäftigt. Hellman hatte sein Ziel erreicht und benötigte ihn nicht mehr. Nach der Intrige war Schneiders Ruf beim Direktor sowieso ruiniert. Hellman hatte jetzt die Leitung der BIGA, dazu Personalstellen und Mittel, sich die neuesten Laborgeräte und DNA-Sequenziergeräte anzuschaffen. Was Schneider zur Verfügung stand, war dagegen mehr als bescheiden. Nachdem er für Hellman keine Konkurrenz mehr darstellte, schien Leo Schneider aus der Schusslinie geraten zu sein. Man ließ ihn in Ruhe weiter an seinen alten Projekten arbeiten.

      In dieser Zeit gab es neue Informationen zu den echten Anthraxbriefen, die in den USA kursiert hatten. Mit Sicherheit stammten die Sporen aus einem Profilabor. Dafür sprachen die genetischen Eigenschaften der Bazillen und die Aufbereitung des Sporenpulvers. Immerhin, die Sache hatte dazu gedient, dass man nun willens war, den Schurkenstaaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten militärisch das Handwerk zu legen. Nachdem ein Mitarbeiter des Anthraxlabors aus Fort Detrick tot aufgefunden worden war - es sah wie Selbstmord aus - endete der Briefspuk so plötzlich, wie er angefangen hatte. Die Briefe waren nun nicht mehr wichtig, der Krieg gegen den Terror hatte begonnen und es gab gewaltige finanzielle Zuwendungen für die biologische Sicherheitsforschung. Für jede Milliarde, die in den USA ausgegeben wurde, floss in Deutschland nur eine Million. IEI Direktor Krantz versäumte keine Gelegenheit, sich darüber auszulassen. Aber auch die Millionen sicherten den Fortbestand der BIGA, nachdem es keine Anthraxbriefe mehr gab.

      Die von Hellman geleitete BIGA war inzwischen größer geworden. Ein Leiter der bakteriologischen Sektion wurde gesucht und in der Person des Biochemikers Horst Griebsch gefunden. Hellman hatte darauf geachtet, dass man jemanden einstellte, der ihm als Konkurrent nicht gefährlich werden konnte. Griebsch hatte sich praktisch kaum mit Bakterien beschäftigt. Er war jahrelang in der Verwaltung tätig gewesen und somit für Hellman der geeignete Kandidat.

      Mit der Verschärfung der Irakkrise drängte die Politik zu einem immer weiteren Ausbau der biologischen Sicherheitsforschung. Saddam Hussein und andere Schurken hatten in ihren Arsenalen außer Anthrax noch andere Biowaffen. Die musste man beforschen, um dagegen gewappnet zu sein. Hellman und Griebsch bekamen von Krantz den Auftrag die BIGA entsprechend aufzurüsten. Für Schneider bedeutete das vor allem, dass er und seine Gruppe dem Newcomer Griebsch unterstellt wurden.

      3.

      Leo Schneiders neuer Vorgesetzter, Professor Horst Griebsch war mit Anfang fünfzig fast völlig kahl. Mit seinem Kinnbart, der dicken Hornbrille und seiner gesetzten Stimme gab er das Bild eines gestandenen Mannes der Wissenschaft. Von dem eher plump auftretenden Hellman unterschied er sich durch einen jovialen Umgangston. Als typischer Alt-Achtundsechziger bot er seinen Mitarbeitern gerne das Du an. Je nach seinem Gegenüber vermittelte er das Image des guten Kumpels oder des väterlichen Freundes.

      Griebsch redete viel von Loyalität. Loyalität war eine Sache, die er forderte, aber nicht bereit war zu geben. Er bat seine Mitarbeiter zu Vieraugengesprächen, in denen er mit angeblich wichtigen Informationen hausierte, die er wie Schwarzmarktware anbot. Manche ließen sich davon beeindrucken, fühlten sich geschmeichelt und machten