Lothar Beutin

Rizin


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werden muss.“ Er tat einem Seitenblick, als wollte er sich vergewissern, dass niemand anderes zuhörte und flüsterte: „Und Krantz, der sich vor Arnold stellt, der ist sowieso fertig, dem haben sie nämlich die Eier abgeschnitten.“ Schneider schaute ihn mit großen Augen an. „Ja!“, betonte Drewitz genüsslich: „Sie haben ihn kastriert, ihm die Eier abgeschnitten. Totaloperation, Krebs!“ Drewitz nickte mehrmals und sah Schneider aus seinem bleichen Gesicht an, in dem die Augen tief in den Höhlen lagen. Er erinnerte Schneider an den Vampir Nosferatu aus dem Film von Fritz Lang. „Woher willst du denn das wissen?“, fragte er.

      „Man hat so seine Quellen“, erwiderte Drewitz und griente, als er sah, wie seine Worte bei Schneider Wirkung zeigten. Wie schon so oft versuchte er, Schneider für seine Partei zu begeistern. Der wehrte ab. „Sei nicht töricht“, sagte Drewitz. „Du brauchst Verbündete. Wie willst du denn das alleine durchstehen?“

      Schneider wollte sich keiner Organisation verpflichten. Drewitz war inzwischen der Dritte, der ihn vor seinen Karren spannen wollte. Mit jeder neuen Person, mit der er über seine Schwierigkeiten sprach, wurde seine Situation komplizierter.

       „Sei nicht dumm“, bedrängte ihn Drewitz weiter, „überleg es dir.“

      Schneider empfand eine tiefe Leere vor der Sinnlosigkeit dieser ganzen Intrigen. Warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe arbeiten? Seine Beziehung zu Drewitz war seit jener Zeit distanziert, als er und Tanja den Eindruck gewonnen hatten, dass mit Drewitz politischen Verbindungen etwas nicht stimmte. Drewitz war kurz vor dem Mauerbau aus der DDR in den Westen gekommen. Zu Mauerzeiten durfte er unbegrenzt in die DDR reisen, im Westen galt er als verfolgter Dissident. Drewitz brachte von drüben immer wieder Antiquitäten mit, Sachen, die man unmöglich legal ausführen konnte. Beide glaubten, dass er ein Agent der Stasi war. Vielleicht hatte er auch über sie beide berichtet. Als ihre Neugierde groß genug geworden war, gingen sie in die Glinkastraße, um bei der Stasiunterlagenbehörde ihre Akten einzusehen. Es dauerte Monate, bis die Nachricht kam, dass es keine Akten über sie gab. Wahrscheinlich war Drewitz zu raffiniert, als das man ihm so einfach hätte auf die Schliche kommen können. Bei ihm war alles möglich und Schneider wusste immer noch nicht, ob er ihm die Geschichte mit Krantzens abgeschnittenen Eiern glauben sollte.

      Nachdem Schneider nicht auf sein Angebot reagiert hatte, verhielt sich Griebsch ihm gegenüber zunehmend reserviert. Bisweilen machte er Andeutungen, als würde er etwas erwarten. Schneider zog sich nur noch mehr zurück. Wenn Griebsch ihn ansprach, gab er nur Belanglosigkeiten von sich und vermied nach Möglichkeit jeglichen Kontakt.

      Nachdem die Anthraxbriefe Geschichte waren, sah es für eine Weile so aus, als würde man Schneider in Ruhe lassen. Dann kam der Anruf aus dem Präsidialbüro. Krantz persönlich. Schneider sollte der neu eingestellten Kollegin Dr. Pflüger doch für eine Zeit lang mit einer seiner beiden Assistentinnen aushelfen. Schneider könne selbst entscheiden, welche seiner beiden Damen er entbehren wolle. Er hätte nicht viel Zeit, sagte Krantz, Einzelheiten sollte Schneider mit seinem Stellvertreter Arnold besprechen.

      Natürlich ging es nicht um eine Aushilfe für kurze Zeit, das war für endgültig. Aber wie sollte Schneider das beweisen? Kollegiale Hilfe für die neu eingestellte Kollegin konnte er doch nicht ausschlagen. Schließlich suchte er doch das Gespräch mit Arnold.

      „Sie wollen sich doch nicht weigern, Ihrer Kollegin Pflüger für eine Zeit mit personeller Unterstützung auszuhelfen?“, sagte Arnold. Das Gespräch bereitete ihm Vergnügen und er gab sich keine Mühe, es zu verbergen. „Handeln Sie doch einmal im Sinne der Corporate Identity.“

      Corporate Identity war ein zuweilen beschworener, aber nicht existierender Instituts-Gruppengeist, der von der Leitung herbeizitiert wurde, wenn Entscheidungen gegen den Willen der Beschäftigten durchgesetzt werden sollten. Jetzt bedauerte Schneider, dass er zu Arnold gegangen war. Er wollte nicht wählen, ob Tanja oder Karin gehen musste. Zum Glück nahm Karin ihm diese Entscheidung ab. Schneiders Arbeitsgruppe war somit auf Tanja und ihn reduziert. Das würde auf Dauer nicht genügen, um ihre Selbstständigkeit zu behaupten.

      Eine Zeit ging zu Ende, in der Schneider aus seiner Arbeit Kraft gewinnen konnte. Die nächste Umsetzungsmaßnahme würde ihn direkt treffen. Tanja und er schwammen bereits in einem Stellenpool, aus dem man für die nächste Umstrukturierung schöpfen würde. Es war nur noch eine Frage des Wann und nicht mehr des Ob. Vielleicht musste er dann den Messknecht für einen Wissenschaftler spielen, der zum Tafelsilber von Krantz gehörte? Diese Vorstellung erzeugte bei Schneider Panik. Seine früheren Erfolge würden bald vergessen sein, ein has been, wie man in den USA zu solchen Leuten sagte. Mit den Jahren würde man ihn wie einen zahnlosen Wolf im Institut immer mehr herumstoßen.

      Diese Erwartungen brachten ihm schlaflose Nächte, eine Anzahl grauer Haare und deutlichere Falten um die Mundwinkel ein. Die nervliche Anspannung durch eine Situation, auf die er keinen Einfluss hatte, steigerte seine Unrast und seinen Bewegungsdrang. Als Reaktion kaufte er sich ein Paar Inlineskates und begann nach der Arbeit und an den Wochenenden auf einsamen Straßen auf und ab laufen. Er nahm es wie eine Medizin. Auf einer dieser Touren geschah etwas mit ihm. Vielleicht waren es die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut, die Luft, die ihm ins Gesicht wehte, oder das Lächeln der Skaterin, die ihm entgegenkam. Der Gedanke, nicht alles mit sich geschehen zu lassen, sondern selbst nach einem Ausweg zu suchen, war plötzlich da und sehr stark.

      Eine Stellenausschreibung erschien ihm als die Gelegenheit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Am IEI wurde eine neue Arbeitsgruppe Toxine, die sich mit Giftstoffen beschäftigen sollte, eingerichtet. Für die Leitung suchte man jemanden mit toxikologischen und bakteriologischen Kenntnissen. Diese neue Gruppe sollte Griebsch unterstellt sein. In der Zwischenzeit hatte Leo Schneider erfahren, dass Griebsch für die Umsetzung von Karin verantwortlich gewesen war. Drewitz hatte ihm diese Information aus dem Personalrat gesteckt. Schneider gab trotzdem sein Bewerbungsschreiben ab. Er und Tanja waren bereits Griebsch unterstellt und der würde sie beide sowieso nicht mehr lange weiterwerkeln lassen.

      In der Stellenausschreibung stand etwas von Giftstoffen, von biologischer Sicherheit und Gefahrenabwehr gegen Terroranschläge. Schneider zweifelte am Erfolg seiner Bewerbung. Zwar kannte er sich mit Bakteriengiften aus, aber Arnold hatte bei der Stellenbesetzung sicherlich ein Wort mitzureden. Drewitz steckte Schneider weitere Informationen zu. Demnach gestaltete sich die Suche nach Toxikologen als schwierig. Es gab nicht viele davon und noch weniger, die bereit waren, an das IEI zu wechseln. Wenn es fähige Leute waren, erwarteten sie mehr Gehalt und Gestaltungsmöglichkeiten, als Krantz ihnen zugestehen mochte. So folgte eine Stellenausschreibung auf die andere und das Ministerium drängte immer stärker auf baldige Besetzung.

      Schließlich entschloss Krantz sich zur billigsten Lösung, er akzeptierte Schneiders Bewerbung. Die AG-Toxine interessierte ihn im Grunde nicht und die Personalmittel, die er für die Neueinstellung eines externen Bewerbers gebraucht hätte, konnte er damit einsparen und in seine virologischen Projekte stecken. Für einen Misserfolg müsste Schneider verantwortlich zeichnen. Mit dieser Logik waren Arnold und Hellman überstimmt, die sich bis zuletzt gegen Schneider ausgesprochen hatten.

      Leo Schneider durfte weiter mit Tanja zusammenarbeiten. Allerdings waren zwei Leute für eine Arbeitsgruppe nicht ausreichend. Arnold veranlasste, dass zusätzlich eine Wissenschaftlerin aus seiner Abteilung der AG-Toxine zugeteilt wurde. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Schneider, Immunologin und hieß Beatrix Nagel. Beatrix, die jeder Bea nannte, bekam zu ihrer Unterstützung noch zwei technische Assistenten, Jacek und Maria. Offiziell war Beatrix Nagel Schneider nachgeordnet. Von der Leitung hatte sie den Auftrag, darauf zu achten, was Schneider trieb und sollte melden, wenn er die AG-Toxine für seine alten Forschungsprojekte benutzte. Dadurch war Schneider in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. Nominell blieb er ihr Vorgesetzter und wollte die Aufgaben so verteilen, dass er und Bea sich nicht sonderlich ins Gehege kämen.

      4.

      Griebsch hatte bei der Stellenbesetzung hin und her laviert. Als Opportunist merkte er, woher der Wind wehte und hatte am Ende für Schneider votiert. Allerdings gab es noch Widerstand von Hellman, mit dem Griebsch es sich nicht verscherzen wollte. Als Leiter der BIGA befürchtete Hellman Machtverlust