Lothar Beutin

Rizin


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benutzt. Zellkulturen simulierten den lebenden Organismus. Es waren Körperzellen, die ursprünglich aus Organen von Menschen isoliert worden waren und in Kulturflaschen im Labor weiter gezüchtet wurden. Im Gegensatz zum lebenden Organismus waren diese Zellen im gewissen Sinn unsterblich, denn sie vermehrten sich solange, wie man sie im Labor wachsen ließ. Es gab eine Zelllinie mit dem Namen HeLa, benannt nach den Initialen einer Frau, die vor fünfzig Jahren an Krebs gestorben war. Einige ihrer Krebszellen hatte man isoliert und bemerkt, dass sie in Nährlösung wuchsen, solange man sie regelmäßig mit Nährstoffen versorgte und ihre Ausscheidungen entfernte.

      Schneider nahm eine Ampulle mit HeLa Zellen aus dem Kühltank, wo sie bei -170 °C in flüssigem Stickstoff aufbewahrt wurden. Er taute sie auf und gab sie in eine Nährlösung. Dabei fiel ihm ein, dass die Zellen von einer Frau stammten, von der seit Jahrzehnten nichts mehr übrig war. Nichts, bis auf einen Teil, der jetzt vor ihm lag und immer noch lebendig war. HeLa Zellen hatten alles, was das Leben grundsätzlich ausmachte. Sie ernährten, schieden aus und vermehrten sich. Natürlich würde aus ihnen nie wieder ein Mensch entstehen, aber wo begann das Leben eigentlich? War nicht ein Teil des Wunders, das einst zu dieser Frau gehörte, in den Zellen verblieben?

      Als er nach drei Tagen genug HeLa Zellen in den Kulturschälchen vermehrt hatte, versetzte er sie mit Verdünnungen seiner Rizin Extrakte und beobachtete die Wirkung im Lichtmikroskop. Schon vierundzwanzig Stunden später sah er, was das Rizin angerichtet hatte. Je konzentrierter die Extrakte waren, desto stärker waren die HeLa Zellen zerstört. Schneider musste seine Präparate zehntausendfach verdünnen, um an den Punkt zu kommen, wo keine Giftwirkung mehr zu beobachten war.

      Durch diese Versuche konnte er die Menge des Rizins bestimmen. Als er genug Extrakte hergestellt hatte, trennte Schneider das Rizin von allen anderen Stoffen und machte es durch eine spezielle Färbung sichtbar. Mit dem gereinigten Rizin konnte er Antikörper herzustellen. Um Antikörper herzustellen, musste er Tiere gegen Rizin immunisieren. Der Organismus der Tiere würde das Rizin als körperfremd erkennen, und als Reaktion darauf die entsprechenden Antikörper produzieren. Antikörper hatten die Eigenschaft, sich mit dem fremden Stoff zu verbinden und seine giftige Wirkung dadurch zu verhindern. Genau solche Antikörper brauchten sie für die Nachweisverfahren, die in der AG-Toxine entwickelt werden sollten.

      Zur gleichen Zeit, als Schneider an diesen Versuchen arbeitete, traf sich in einem Konferenzraum des IEI ein nicht öffentlicher Zirkel. Die Mitglieder dieses Kreises setzten sich aus Ministerialbeamten und hochrangigen Vertretern aus Polizei und Militär zusammen. Als Experten aus dem IEI waren die Professoren Griebsch und Hellman eingeladen. Der Zweck dieser Zusammenkunft lag in der Ausarbeitung von Planspielen zu möglichen bioterroristischen Anschlägen. Genau genommen ging es um Maßnahmen zur Erkennung und Abwehr schon im Vorfeld möglicher Attentate. Allerdings hatte kaum einer der Teilnehmer entsprechende Kenntnisse, die meisten von ihnen waren Juristen und Verwaltungsbeamte. In endlosen Diskussionen vermischten sich Fantasie und Wirklichkeit zu skurrilen Szenarien, die am Ende zu Papier mit dem Vermerk „Geheim! Nur für den Dienstgebrauch!“ gebracht wurden.

      Natürlich wusste niemand von ihnen, ob und welche biologischen Waffen die Terroristen einsetzen würden. Auch nicht wo noch in welcher Weise. So tappte man in den Gefilden der eigenen Fantasie herum und kam sich dabei sehr bedeutend vor. Es hieß, das Pentagon hätte Drehbuchautoren aus Hollywood beauftragt, sich Szenarien zu bioterroristischen Angriffen zu erdenken. Offenbar traute man diesen Leuten in Washington mehr Realitätssinn zu, als den Staatsbeamten und sogenannten Experten. Mit der kreativen Unterstützung von Cineasten hoffte man, auf zukünftige Bedrohungen besser vorbereitet zu sein.

      In Deutschland erwartete man entsprechend kreative Ideen von den Professoren Hellman und Griebsch. Es mangelte den beiden auch nicht an Ideen und mit der inhaltlichen Gestaltung sollten sich dann die ihnen unterstellten Wissenschaftler beschäftigen. Wozu hatte man denn die ganze Belegschaft des IEI durch die Sicherheitsüberprüfung checken lassen? So gelangte diese Aufgabe auch an Schneider. Schneider zweifelte, dass man Anschläge mit biologischen Waffen vorhersehen könnte. Dazu gab es einfach zu viel verschiedene Möglichkeiten. Terroristen hatten sich bisher auch nicht die Mühe gemacht, mit biologischen Waffen anzugreifen. Warum auch? Für so etwas brauchte man Fachleute, teure Geräte und Speziallaboratorien. Die täglichen Nachrichten zeigten, dass diese Leute sich mit Schusswaffen und Sprengstoff vollauf begnügten. Beides stand ihnen doch unbegrenzt zur Verfügung. Woher die Waffen kamen, darüber sprach man selten. Wahrscheinlich, weil sie in den Ländern gefertigt wurden, die sich im Krieg mit den Terroristen befanden.

      Solche Gedanken spielten in den Planungen des Zirkels jedoch keine Rolle. Hellmans Idee war, dass Terroristen Wasserspender mit Botulinumtoxin vergiften könnten. Daraus ergaben sich viele Fragen. Wie lange würde das Gift im Wasser stabil bleiben? Wie viel musste man hineinschütten, damit ein Schluck tödlich war? Wie viele würden daran sterben, bevor man wüsste, woher die Bedrohung kam? Dergleichen Planspiele gab es in Hülle und Fülle. Griebsch entwickelte ähnliche Ideen zu Rizin. Auch dazu gab es natürlich viele Fragen.

      Schneider bekam diese geistigen Ergüsse auf seinen Schreibtisch und sollte sie mit Zahlen wissenschaftlich untermauern. Er empfand diese Vorstellungen gleichermaßen krank wie sinnlos. Natürlich war alles denkbar, aber das wirkliche Leben bot mehr Möglichkeiten, als die Papierwelten dieser Männer zuließen. Andere Kollegen aus dem IEI zeigten mehr Engagement und arbeiteten fleißig an ihren Hausaufgaben. Natürlich alles „Geheim, nur für den Dienstgebrauch.“ Wer diese Schriftstücke alles zu Gesicht bekam, wusste niemand. Vielleicht waren darunter Leute, die man damit erst auf entsprechende Ideen brachte? Gerade solche Leute stellten das größte Risiko dar. Geltungssüchtige Menschen wie Hellman, dem der Kamm schwoll, als ihn ein General als Biowaffenexperten titulierte. Eitle Gecken wie Krantz, die darauf warteten, durch einen Anschlag oder eine Seuche in ihren düsteren Orakeln bestätigt zu werden. Simpel gestrickte Angeber wie Griebsch, die hofften, im Fahrwasser einer großen Aktion einmal als Held ins Licht der Öffentlichkeit zu gelangen.

      Es gab andere, die auch so dachten wie Schneider. Einer von ihnen war ein bekannter Experte, der manchmal auch im Fernsehen auftrat. Die Zahl der Wissenschaftler in der Biowaffenforschung war seiner Meinung nach schon viel zu groß. Das Risiko für Anschläge würde dadurch nur steigen. Ein Biologe, der sein Wissen für kriminelle Ziele einsetzen wollte, wäre gefährlicher ein Terrorist, der nichts von Biologie verstand. War nicht ein Laborant aus Fort Detrick verdächtigt, der Absender der Anthrax Briefe gewesen zu sein? Man konnte ihn nicht mehr fragen, denn er hatte, nach dem offiziellen Bericht, vor seiner Verhaftung seinem Leben ein Ende gesetzt.

      Am IEI war es mittlerweile riskant, solche Ansichten offen auszusprechen. Es gab überall Leute, die für Nachrichtendienste arbeiteten. Man wusste nicht wer, aber die Frau eines Kollegen, die als Sekretärin beim BND angestellt war, hatte erzählt, in allen größeren Betrieben wären V-Leute beschäftigt. Die sollten einschätzen, wer ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellte. Ketzerische Gedanken, wie Schneider sie hatte, gehörten schon dazu.

      Eigentlich hatte das Beispiel der DDR doch gezeigt, dass die Bespitzelung der Menschen dem Staat nichts erbrachte. Bis 1989 hatte man 180 km Akten in der Stasizentrale gesammelt, war aber nicht in der Lage gewesen, den eigenen Untergang vorauszusehen. Solche Gedanken ließen Schneider kopfschüttelnd zurück, als er über den Zirkel, die BIGA und die ganzen Szenarien, die dort kursierten, nachdachte. Natürlich alles „Geheim, nur für den Dienstgebrauch!

      5.

      Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten hatte Schneider das Rizin soweit präpariert, um es für die Herstellung von Antiserum einzusetzen. Aber jetzt ergab sich ein neues Problem. Antikörper gegen Rizin gab es nirgendwo zu kaufen und es wurde bald klar, warum. Um Antiserum herzustellen, musste man Tiere mit Rizin immunisieren. Durch die giftige Wirkung des Rizins starben die Tiere, bevor sie überhaupt Zeit hatten, Antikörper zu bilden. Etwa so, wie es Georgij Markov in London ergangen war. Schneider versuchte es mit Rizinverdünnungen, aber ohne Erfolg. Nachdem er die Tiere mit dem verdünnten Rizin immunisiert hatte, musste er feststellen, dass die Menge des Giftes nicht ausgereicht hatte, um das Immunsystem der Tiere zu stimulieren. Auf diese Art bekam er keine Antikörper.