Lothar Beutin

Rizin


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setzte sie weiterhin unter Druck. Schneider wusste von Ronalds Zeitvertrag und wie sehr diese Situation Ronald und Bea belastete. Er selbst hatte bis zum Alter von neununddreißig Jahren unter solchen Bedingungen gearbeitet und trotzdem hinderte ihn ein unbestimmtes Gefühl daran, ein positiveres Bild von Bea zu gewinnen. Leo Schneider forschte weiter an der Entwicklung des Rizinantiserums, weil ihn interessierte, ob es funktionieren würde, so wie er es sich vorgestellt hatte. Bea redete ihm nach dem Fiasko mit ihren Immunisierungen nicht mehr in seine Versuche rein.

      6.

      Horst Griebsch war in Hochstimmung, nachdem das Interview in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Sein Name war jetzt der eines Experten. Sogar aus dem Ministerium rief man ihn an, man interessierte sich für seine Meinung. Hellman hatte es sich nicht verkniffen, in einer Runde mit Arnold und Krantz über ihn zu lästern, aber Krantz schien Griebsch das Interview nicht weiter übel zu nehmen und kommentierte es auch nicht. Arnold, der ein Gespür für Machtfragen hatte, hielt sich an Krantzens Linie.

      Krantz schien ihn endlich zu respektieren, dachte Griebsch. Er fühlte sich ermutigt, seinen eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Bald ergab sich eine neue Gelegenheit dazu. Anfang Februar erhielt Griebsch eine Einladung zu einem Vortrag bei einer internationalen Konferenz, veranstaltet von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Das Thema über Bioterrorismus schien genau auf ihn zugeschnitten: The bioterrorist threat as a challenge to the modern society. Die Liste der Referenten war beeindruckend. Tagungsort war die alte Kaiserstadt Kyoto in Japan. Genau seine Kragenweite. Allerdings musste er sich seine Teilnahme noch von Krantz absegnen lassen. Er rief im Sekretariat des Direktors an und bekam zu seiner Überraschung sofort einen Termin.

      Nachdem er Krantz die Einladung vorgelegt hatte, schaute ihn dieser etwas spöttisch an, um zu bemerken: „Und Hellman, ist der nicht eingeladen?“

      Griebsch riss seine Augen auf. Es klang, als ob Krantz Hellman und nicht ihn zu dieser Tagung schicken wollte. Krantz räusperte sich, schwieg und schien durch die Einladung, die er immer noch in der Hand hielt, hindurchzublicken. Griebsch hatte sich gerade einige Worte zurechtgesetzt, mit denen er Krantz bearbeiten wollte, als dieser ihn ansah und sagte: „Gut, einverstanden. Ich gehe davon aus, dass Sie das IEI bei dieser wichtigen Tagung entsprechend vertreten, Herr Kollege! Einige der Teilnehmer kenne ich persönlich, also machen Sie uns keine Schande.“

      Bevor Griebsch noch etwas sagen konnte, hatte Krantz schon seinen Antrag auf Dienstreise unterschrieben, ihm die Hand gegeben und damit das Gespräch beendet. Griebsch stand vor der Tür des Präsidialbüros und schlug vor Freude seine Hände zusammen. „Herr Kollege!“, hatte Krantz gesagt. Arnolds Sekretärin, Frau Schupelius, lief im Flur an ihm vorbei und schaute ihn erschreckt an. Beschwingt wie auf Flügeln eilte Griebsch zurück in sein Büro.

      Jetzt galt es, Nägel mit Köpfen zu machen, und zwar sofort. Die Konferenz sollte schon in drei Wochen stattfinden. Horst Griebsch ließ sich von der Institutsverwaltung seine Reise organisieren und bestellte Beatrix Nagel umgehend zu sich. Von der Tagung erzählte er ihr nichts, sondern erbat sich von ihr eine Präsentation zu den Rizinarbeiten. Beatrix akzeptierte das, ohne nach dem „Warum und wofür“ zu fragen. Sie hatte ihn auch nie auf das Interview angesprochen, denn sie war der Überzeugung, dass er sich auf diese Weise für die AG-Toxine einsetzte. Vier Tage später übergab sie ihm die Präsentation. Als Griebsch die Folien am Computer betrachtete, empfand er sie als zu nüchtern. Sie enthielten zu viel Fachchinesisch und erschienen ihm nicht brisant genug. Er gestaltete sie um, sodass sie zu seinen eigenen Ausführungen passten und seine führende Rolle bei den Arbeiten betonten. Jetzt hatte er die Präsentation so stark verändert, dass er Beatrix Nagel nicht weiter erwähnen musste, und setzte stattdessen nur sich selbst als Verfasser ein.

      Die Konferenzsprache war Englisch und Griebsch hatte den Titel seines Vortrags schon vor Augen: Ricin as a potential bioterrorist weapon, new vaccination strategies (1). Er schaute zufrieden auf die Titelfolie mit der fetten Überschrift, der Hintergrund war dunkelblau gehalten. Das hatte doch Stil! Horst Griebsch summte zufrieden vor sich hin.

      Er wollte es sich auch nicht nehmen lassen, Hellman persönlich von seiner Einladung in Kenntnis zu setzen. Unter einem Vorwand ging er in dessen Büro und bat darum, ihn während seiner Abwesenheit zu vertreten. Hellman lächelte säuerlich, als Griebsch ihm von der Einladung berichtete. Es schien ihn aber auch nicht sonderlich zu überraschen, wahrscheinlich hatte Krantz ihn bereits darüber in Kenntnis gesetzt. Hellman schob sich ein Stück Schokolade in den Mund und komplimentierte Griebsch mit ein paar Floskeln wieder hinaus.

      Die Tage bis zum Abflug vergingen schnell. Die Konferenz sollte zwei Tage dauern und am Freitagmittag, den 4. März, beendet sein. Seinen Rückflug hatte Griebsch so organisiert, dass er am Samstag für einen Tag Aufenthalt in Singapur hatte. So hatte er noch Zeit, Kyoto anzuschauen, um danach in Singapur shoppen zu gehen.

      Am 1. März saß Griebsch im Flugzeug von Frankfurt nach Singapur. Er war froh, das verschneite Berlin zu verlassen, um in Kyoto berühmt zu werden. In seiner Aktentasche steckte sein Vortrag, er holte die Papiere heraus und blätterte immer wieder in den Folien. Sein Sitznachbar schielte herüber, schien beeindruckt, wahrscheinlich hatte er Worte aus dem Vortrag mitgelesen. Griebsch driftete ab in seine Gedankenwelt. Sein Ansehen würde wachsen und seine Position im IEI endgültig zementiert werden. Hellman konnte dann auch nicht mehr darum herumkommen. Wie säuerlich der geguckt hatte, als er in sein Büro kam. Und Krantz? Der konnte ihn jetzt auch nicht mehr übergehen, so wie bei der letzten Pressekonferenz. Dem schien es ja plötzlich ganz recht zu sein, dass Horst Griebsch so viel Eigeninitiative entfaltete. Vielleicht war er von Hellman enttäuscht? So ist Krantz, dachte Griebsch, er spielt die Leute gegeneinander aus. Aber ich habe ihn durchschaut und ihn dazu gebracht, das zu machen, was ich möchte. Bei diesem Gedanken war er richtig mit sich zufrieden und bestellte sich, als die Stewardess vorbeilief, ein Glas Sekt.

      Nach fast zehn Stunden Flug landete die Maschine in Singapur, Changi Airport. Horst Griebsch fühlte sich wie gerädert. Es war schon eine Zumutung, dass vom Institut nur Economy Tickets erstattet wurden. Business Class wäre für ihn als Vertreter Deutschlands bei so einer wichtigen Konferenz angemessen gewesen. Sein Vordermann hatte die Rückenlehne während des Fluges weit zurückgeklappt und Griebsch in seiner Bewegungsfreiheit fast völlig eingeschränkt. Als er mit steifen Schritten aus dem Flugzeug ins Freie trat, kam ihm ein Schwall tropischer Luft entgegen, 28 °C. In Berlin hatte das Thermometer 3 °C über null angezeigt. Das Wetter brachte ihn in eine bessere Stimmung. In Singapur hatte er zwei Stunden Aufenthalt bis zu seinem Weiterflug nach Osaka. Er schlenderte durch die mit Palmen bepflanzte, lichtdurchflutete Halle des Flughafens. Erstaunlich, wie günstig es hier Elektronik zu kaufen gab. Gut, dass er für den Rückflug einen Tag Aufenthalt in dieser Stadt eingeplant hatte. Griebsch war müde und es lagen noch sechs Stunden Flugzeit bis Japan vor ihm. Und dann musste er noch den Schnellzug von Osaka bis Kyoto nehmen.

      Bei der Landung in Osaka war es früh am Morgen. Durch die neun Stunden Zeitdifferenz fühlte er sich wie am späten Abend. Er musste noch den ganzen Tag durchhalten, um sich an den neuen Tagesrhythmus zu gewöhnen und zu Konferenzbeginn fit zu sein. Zum Glück war der Bahnhof nicht weit vom Flughafen. Der Haruka Express, die Zugverbindung nach Kyoto, war zum Glück in Englisch ausgeschildert. In der Bahn döste Griebsch in seinem Sitz am Fenster und ließ die Stadtlandschaft von Osaka an sich vorbeiziehen. Die futuristisch anmutenden Hochhäuser und die mehrstöckigen Autobahnen, die sich durch die Stadt schlängelten. Platz war hier Mangelware, auf den Hochhausdächern gab es Sportplätze, selbst die Flächen unter Eisenbahnbrücken und Autobahnunterführungen wurden landwirtschaftlich genutzt. Zwischen Osaka und Kyoto fuhr der Zug durch eine zersiedelte Vorortlandschaft. Freies Land gab es auch hier nicht, dafür Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen Kohl und anderes Gemüse angepflanzt waren.

      „Hai!“ (2). Ein lauter Schrei ließ Griebsch aufschrecken. Er schob sich aus seinem Sitz hoch und drehte sich um. Im Durchgang zwischen zwei Waggons stand ein uniformierter Fahrkartenkontrolleur, der sich noch einmal mit einem militärisch zackigen „Hai“ und einigen Verbeugungen ankündigte, um dann seinen Gang durch den Großraumwagen anzutreten. Jeder Fahrgast wurde