Lothar Beutin

Rizin


Скачать книгу

Hierzu benennen wir Herrn Dr. Schneider aus der AG-Toxine, der mir seine große Bereitschaft zur Übernahme erklärt hat!“ Bei dem Gedanken gluckste Griebsch vor sich hin, woraufhin ihn sein Sitznachbar erstaunt ansah. Schneider würde müssen, ob er wollte oder nicht. Als er aus seinem Tagtraum erwachte, redete der Japaner immer noch. Griebsch döste den Rest der dreißig Minuten vor sich hin, die Müdigkeit machte ihm wieder zu schaffen.

      In der Kaffeepause nach den ersten drei Vorträgen schlenderte er ziellos durch die Grüppchen der diskutierenden Teilnehmer. Er peilte Sarah Ferguson an, die aber von einer Schar Teilnehmer umringt war. Griebsch erkannte den Engländer Smith, mit dem sie diskutierte, das hielt ihn davon ab, sich dazu zu gesellen. Vor seinem eigenen gab es nur noch zwei Vorträge. Bei dem Gedanken wurde er aufgeregter, seine Blase meldete sich und er ging auf die Toilette. Als er zurückkam, ertönte die Klingel als Zeichen für die Anwesenden sich wieder auf ihre Plätze zu begeben. Griebsch hatte seinen Platz mit seiner Tasche belegt. Er wollte diesen Gangplatz halten, um, sobald er an der Reihe war, schnell und ungehindert auf die Tribüne gehen zu können. Aber noch war es nicht soweit. Der nächste Vortrag kam von Pierre Duval vom Institut Pasteur in Paris. Griebsch kannte das Institut, aber nicht Duval. Duvals Arbeitsgruppe war schon sehr weit bei der gentechnischen Bearbeitung von bioterroristisch relevanten Bakterien wie Botulinum, Staphyloccoccus, Burgholderia und Anthracis. Sein Englisch hatte eine starke französische Färbung, die für Griebsch merkwürdig klingenden Laute gaben ihm Zuversicht. Er hatte sich Sorgen gemacht, wie sein Englisch auf die Zuhörer wirken würde. Aber im Vergleich mit Duval würde man ihn besser verstehen.

      Einiges was Duval erzählte, klang interessant. Als sein Vortrag zu Ende war, traute Griebsch sich nicht, eine Frage zu stellen, aus Angst sich zu blamieren. Schließlich trat der Vorsitzende O’Reilly an das Pult und gab bekannt, dass der für den nächsten Vortrag vorgesehene Kollege Leibowitz aus Tel Aviv umständehalber nicht anreisen konnte. Als Ersatzredner wurde Ishiiro Yamaguchi von Saikan Industries aus Kobe angekündigt. Saikan war eine Firma, die sich mit der Entwicklung von Schnelldiagnostika gegen Toxine aller Art befasste. Noch ein Japaner. Von dem Ersten war Griebsch nur noch die Sojasoße in Erinnerung geblieben.

      Yamaguchi war in erster Linie Manager und stellte in seinem Vortrag die Produkte von Saikan in den Vordergrund. Griebsch konnte seinen Ausführungen gut folgen. Je mehr er Yamaguchi reden hörte, desto mehr wunderte er sich, was die Japaner schon alles in den Handel gebracht hatten. Er machte sich eine Notiz, am Stand der Firma Saikan vorbeizugehen und dort Informationsmaterial mitzunehmen. Vielleicht konnte er damit bei Krantz punkten.

      Yamaguchi hatte die vorgesehene Redezeit schon überzogen, Griebsch war nach ihm an der Reihe. Seine Aufregung wuchs und er begann, auf seinem Stuhl herumzurutschen. Eigentlich müsste der Vorsitzende Yamaguchi jeden Moment stoppen. Yamaguchi schien aber nicht zum Ende zu kommen. Er zeigte eine Folie nach der anderen, stets mit neuen Produkten der Firma Saikan und kommentierte jede neue Folie mit einem tief aus dem Bauch kommenden „Mmmh“ oder „Oohh!“ Griebsch schaute aufgeregt von links nach rechts, versuchte vergeblich Blickkontakt mit O’Reilly aufzunehmen, aber der schaute ihn nicht an, sondern spielte nur mit seinem Kugelschreiber. Nachdem Yamaguchi seine Redezeit bereits um zehn Minuten überzogen hatte, hüstelte O’Reilly in das Mikrofon und schob seinen Stuhl zurück, als wolle er aufstehen. Yamaguchi drehte sich in O’Reillys Richtung und bat mit einer Verbeugung um mehr Zeit: „Two more minutes Mr. Chairman, please.“ O’Reilly sank in seinen Stuhl zurück und blickte Griebsch aufmunternd an. Der konnte seinen Hintern kaum noch auf dem Sitz halten. Schließlich kam auch Yamaguchi zum Schluss. O’Reilly gestattete noch eine Frage, wofür Griebsch ihn in Gedanken erwürgte, um schließlich den letzten Vortrag des Vormittags anzukündigen: „Professor Griebsch from the Institute for Experimental Infectiology, in Berlin, Germany.“

      In diesem Moment hörte Horst Griebsch sein Herz und seinen Atem lauter als alle anderen Geräusche im Saal. Er stand auf und die meisten Teilnehmer nahmen ihn zum ersten Mal bewusst wahr, als er mit seinem Manuskript in der Hand die drei Stufen an der Seite der Tribüne hoch zum Rednerpult strebte. Von oben blickte er in den halbdunklen Saal und war froh, nur die ersten zwei Reihen seiner Zuhörer zu erkennen. In der ersten Reihe saß Sarah Ferguson, neben ihr der Engländer Smith und ein paar Sitze weiter, Duval. Griebsch hatte sich seinen Vortrag so oft selbst gehalten, dass er ihn fast auswendig konnte. Allerdings hatte er dreißig Minuten eingeplant und Bedenken, dass ihm diese Zeit wegen Yamaguchi nicht mehr gewährt würde. Er begann überhastet. Nach den ersten einführenden Worten geriet er ins Schwimmen, als er über Dinge redete, die er nur vom Hörensagen kannte. Aber der Saal blieb ruhig und Griebsch schaffte es, seinen Vortrag in fünfundzwanzig Minuten zu Ende zu bringen. O’Reilly war sichtlich zufrieden, bedankte sich und meinte, nach diesem sehr interessanten Vortrag wäre sicherlich Bedarf für Fragen. Prompt hoben sich mehrere Hände. Ein Assistent lief mit einem Mikrofon in der Hand an den Sitzreihen entlang, bis er haltmachte. Griebsch schaute ihm hinterher und sah Sarah Ferguson, die das Mikrofon in die Hand nahm und sich vorstellte: „Sarah Ferguson, Fort Detrick“, um Griebsch nach Einzelheiten zur Herstellung der Rizinvakzine zu fragen.

      Griebsch, dessen Ausführungen oberflächlich, aber inhaltlich brisant gewesen waren, war von der gezielten Frage überrascht. Aber dann fiel ihm doch eine passende Antwort ein: „I think this is not the place to go into the experimental details. (7)”

      Die Amerikanerin musterte ihn von oben bis unten, drehte sich dem Auditorium zu und kommentierte: „I’ve got the impression that some people just present their ideas. But we want facts and not fiction.“ (8) Sie gab das Mikrofon zurück und setzte sich, ohne Griebsch noch eines Blickes zu würdigen. Dann begann sie mit ihrem Sitznachbarn Smith zu tuscheln, der wiederholt heftig nickte. Griebsch fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, wahrscheinlich war er knallrot geworden.

      Mit so einer Erwiderung hatte er nicht gerechnet, aber jetzt kam schon die nächste Frage aus dem Teilnehmerkreis. Allerdings hatte er Mühe, diese überhaupt zu verstehen. Ein Australier aus einer der hinteren Reihen, Calderon oder Cameron, artikulierte mit einem für Griebsch kaum verständlichen Akzent und zwang ihn dadurch, zweimal nachzufragen. Als es zu peinlich wurde, antwortete Griebsch eben so gut, wie er meinte, den Australier verstanden zu haben. Dann bemerkte er, wie dieser schon das Interesse verloren hatte, um sich mit einem kurzen „Okay, thank you for nothing“, wieder zu setzen.

      Die zwei, drei Hände, die sich noch zu Fragen erhoben hatten, sanken herunter. Der Vorsitzende stellte noch eine Höflichkeitsfrage, die Griebsch beantwortete. Nachdem O’Reilly allen Rednern gedankt hatte, schloss er die Session für die Mittagspause. Sofort erhoben sich die Anwesenden von ihren Stühlen, der Geräuschpegel im Saal stieg an, das Redebedürfnis machte sich nach den drei Stunden erzwungener Ruhe Bahn. Die Menge strebte dem Ausgang zu, um sich ein Stockwerk höher in einem dafür vorgesehenen Saal zum Lunch zu begeben.

      Stufe für Stufe stieg Griebsch von der Rednertribüne hinab in den Saal. Er schaute sich um, ob jemand ihn auf seinen Vortrag ansprechen wollte, aber fast alle waren bereits nach draußen geeilt. O’Reilly ordnete seine Unterlagen und beachtete ihn nicht, also schloss sich Griebsch der Menge an. In dem Saal, wo das Mittagessen serviert wurde, standen eine Anzahl gedeckter, runder Tische. Viele waren schon mit zwei oder mehr Teilnehmern besetzt. Augenpaare hielten Ausschau nach Bekannten, mit denen sie gerne zusammen essen wollten. Im Vorbeigehen sah Griebsch einen voll besetzten Tisch, an dem Sarah Ferguson angeregt mit ihren Sitznachbarn Smith und Duval plauderte. Ein Stück weiter einen anderen, der ausschließlich von Südamerikanern besetzt war, und an einem weiteren Tisch sah er Yamaguchi mit dem Bürgermeister von Kyoto und anderen Japanern in einer Runde sitzen. Schließlich entschied er sich, an dem letzten noch freien Tisch Platz zu nehmen, womit ihm die Peinlichkeit der Frage, ob der Platz noch frei wäre, erspart blieb.

      Horst Griebsch blieb nicht lange allein, ihm gegenüber nahmen drei Asiaten Platz. Von ihren Namensschildern konnte Griebsch ablesen, dass sie aus Malaysia, Indonesien und Singapur kamen. Die drei Männer begrüßten ihn höflich und sprachen untereinander in einem Idiom, das er nicht verstand. Griebsch drehte seinen Stuhl halb in die Richtung des Saals, um die Ankommenden zu sehen, als er die junge Anna aus Warschau bemerkte, die er bei der Registrierung am Morgen getroffen hatte. Sie schien ihn wiederzuerkennen. Horst