Lothar Beutin

Rizin


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er die Stufen zur Station Shiyakusyo-Mae hinunter, um dort unten überrascht die Obdachlosen zu sehen, die am Boden kampieren, jedoch weder bettelten noch die Fahrgäste ansprachen.

      Fahrscheine gab es nur am Automaten, nach einigen Versuchen und vielen eingeworfenen Münzen löste er ein Ticket und erreichte den Zug. Während der Fahrt wuchsen seine Zweifel. Er kannte keinen der Kongressteilnehmer persönlich, nur ein paar Namen. Würde man ihn akzeptieren? Wenn sie merkten, dass vieles in seinem Vortrag nur seine eigene Annahme war? Aber dann kam ein anderer Gedanke hoch. Er würde sich einen international bekannten Namen als Experte machen, Professor Horst Griebsch, the famous ricin expert, derlei Gedanken schwirrten ihm bis zum Umsteigebahnhof durch den Kopf.

      In der unterirdischen Zentralstation mit den hell erleuchteten Geschäften stieg Griebsch in eine andere U-Bahn Linie um. Nach ein paar Stationen konnte er die U-Bahn verlassen. Auf der Straße war das nahe gelegene KICH ohne Mühe zu finden. Zum Glück war er pünktlich. In der Eingangshalle des Kongresszentrums standen Tische in einer Reihe und bildeten eine Art Barriere. Auf den Tischen lagen Listen, Anstecker mit Namensschildern und dahinter saßen lächelnde weibliche Angestellte in blauen Kostümen, die für die Registrierung der Teilnehmer zuständig waren. Griebsch stellte sich in eine Reihe hinter zwei anderen Neuankömmlingen. Vor ihm stand eine jüngere Frau. Als sie sich umdrehte, bemerkte er, wie hübsch sie war. Während sie ihre Unterlagen und das Namensschild erhielt, hörte er, dass sie aus Warschau war und Anna Sozanska hieß. Als Anna mit ihrer Tasche fortgehen wollte, stand Griebsch ihr im Weg und lächelte sie an. „Griebsch“, sagte er, „from Germany.“ Anna schaute ihn erstaunt an und war verlegen. Vielleicht sollte man den kennen, dachte sie, gab ihm die Hand und stellte sich vor, bevor sie weiterlief.

      Jetzt war Horst Griebsch an der Reihe. Die in Blau gekleidete Japanerin ihm gegenüber lächelte und fragte nach seinem Namen. Sein knappes „Grippsch“, verstand sie nicht, ein hilfloses Lächeln umspielte ihren Mund, während sie mit ihren schlanken Fingern über die Teilnehmerliste wanderte. Nach einer Weile sah sie zu ihm hoch und schaute ihn mit einer Miene des Bedauerns an. Griebsch durchfuhr ein Schreck. War er möglicherweise gar nicht angemeldet? Er hatte sich doch auf das Sekretariat von Arnold verlassen, auf diese Frau Schupelius! Das Blut schoss ihm in den Kopf und der Satz: „Du kannst nach Hause gehen …“, war unausgesprochen präsent. Nachdem er wiederholt seinen Namen aufgesagt und schließlich aufgeschrieben hatte, fand sie ihn doch auf der Namenliste und ebenso ihr Lächeln wieder. Mit einer Verbeugung händigte sie ihm den Anstecker mit seinem Namen und die Tasche mit den Kongressunterlagen aus.

      Griebsch hängte sich die Tasche um. Er musste sich beeilen. Im Gehen befestigte er sich das Namensschild mit der Sicherheitsnadel an sein Hemd und stach sich dabei in den Finger. Das Schild wollte einfach nicht gerade hängen. Neben seinem Namen stand ein roter Punkt, der ihn als Vortragenden auswies. Hinter der Eingangskontrolle übergab er den USB-Stick mit seiner Präsentation einem Angestellten im schwarzen Anzug.

      „Thank you very much, Professor Griebsch.” Kannte der Mann ihn, oder hatte er nur seinen Namen gelesen? Mit einem Gefühl der Erleichterung ging Griebsch in den Hörsaal. Dort befanden sich schon einige Teilnehmer, standen und diskutierten, andere saßen auf ihren Stühlen und blätterten in den Unterlagen. Es blieben noch ein paar Minuten bis zum offiziellen Beginn. Horst Griebsch schaute sich in dem großen Saal um, durch die geöffnete Flügeltür strömten noch mehr Delegierte herein, aber Griebsch kannte keines der Gesichter und niemand schien seins zu kennen. Bevor es dafür zu spät war, setzte er sich in eine strategisch günstige Position. Ein Platz am Gang, in der dritten Stuhlreihe vor der Tribüne, die mit Tischen und einem Stehpult bestückt war. Im Hintergrund hing eine große Leinwand als Projektionsfläche für die Vorträge, jetzt war dort aber nur der Titel der Konferenz zu lesen. The bioterrorist threat as a challenge to the modern society, organized by the OECD section A/3547.

      Mit einer Bewegung, die wichtig wirken sollte, öffnete Griebsch seine Tasche und zog das Kongressprogramm heraus. Tagungsbeginn war um 8:30 mit der Begrüßungsrede des Vorsitzenden der OECD-Sektion. Danach sollte der Bürgermeister von Kyoto Willkommensworte sprechen und anschließend war die Einführungsrede des Vorsitzenden des wissenschaftlichen Komitees vorgesehen. Inzwischen war der Saal schon mehr als zur Hälfte besetzt, fast hundert Teilnehmer aus achtundvierzig Staaten standen auf der Liste, die Griebsch in der Hand hielt. Er überflog die Namen und war zufrieden, nachdem er sich dort gefunden hatte. Dann kreuzte er die Namen der Teilnehmer an, die er für wichtig hielt und mit denen er Kontakt aufnehmen wollte. Wieder kämpfte er gegen die hochkriechende Müdigkeit, als er die lange Rede des Bürgermeisters von Kyoto über sich ergehen ließ. Griebsch verstand nicht ein Wort davon, denn er hatte vergessen, am Eingang Kopfhörer für die Simultanübersetzung mitzunehmen. Schließlich wechselte die Sprache wieder zu Englisch, als der Vorsitzende O’Reilly, ein knorriger Schotte mit gerötetem Gesicht und wirren Haaren, seine Einführungsrede hielt. Griebsch lehnte sich erwartungsvoll in seinen Stuhl zurück und hörte zu.

      Zum Schluss seiner Ausführungen kündigte O’Reilly den Plenarvortrag an. Bei Griebsch stieg die Spannung. Die berühmte Sarah Deborah Ferguson aus Fort Detrick, Maryland, USA, betrat mit hochhackigen Schuhen die Tribüne und begann mit ihren Ausführungen zum Thema: Future aspects of the war on bioterrorism. Diese Frau musste er kennenlernen, das hatte er sich fest vorgenommen, sie war der Schlüssel zu den Kreisen, in die Griebsch gerne gelangen wollte. „Wenn ich diesen Kontakt in der Tasche habe, kann Hellman einpacken“, murmelte er vor sich hin.

      Zudem sah Sarah attraktiv aus, Griebsch starrte für einen Moment zu lange auf ihre Bluse. Dr. Ferguson war eine zierliche, gut proportionierte Amerikanerin, mit langen blonden Locken und selbstsicherem Auftreten. In ihrem Vortrag machte sie allen Teilnehmern klar, welche Nation die führende Rolle im Kampf gegen den Bioterrorismus spielte. Sie lud die Vertreter aller Staaten ein, sich hinter den amerikanischen Vorschlägen zu positionieren. Griebsch nahm sich vor, Sarah kurz vor dem Lunch anzusprechen. Vielleicht ergab es sich, dass sie dann beim Mittagessen beisammensaßen. Nachdem Miss Ferguson einige Fragen aus dem Auditorium unter viel Applaus beantwortet hatte, gab sie das Rednerpult für den nächsten Vortragenden frei. Chris William Smith, aus dem Londoner Botulinum Centre, referierte zu Botulinumtoxinen. Griebsch mochte diesen distanziert auftretenden Engländer nicht, musste aber neidisch eingestehen, das Botulinum Centre war personell und apparativ viel besser ausgestattet, als seine AG-Toxine und brachte offenbar auch mehr zustande.

      In London war man schon dabei, Impfstoffe gegen Botulinumtoxin zu entwickeln und Griebsch machte sich dazu schnell einige Notizen: „Bislang haben wir uns da weitgehend rausgehalten. Es könnte hierbei wichtig sein, den impact von BoNT Impfstoffen auch für unsere Belange mit zu verfolgen.“ Das wollte er nach seiner Rückkehr im Gespräch mit Krantz vorbringen. Die Formulierung klang gut und es interessierte ihn nicht mehr, wie die Engländer das mit den Impfstoffen zustande brachten, aber dem Schneider würde er ein paar Takte dazu erzählen. So transusig durfte es in der AG-Toxine nicht mehr weitergehen.

      Da er Smiths Vortrag nicht mehr folgen konnte, machte er sich weitere Notizen, die Schneider betrafen. „Mir war bisher an einer weitgehend von allen Beteiligten akzeptierten und nachvollziehbaren Lösung gelegen, daher habe ich nicht einfach über die Köpfe hinweg entschieden, aber das wird Konsequenzen haben.“ Nachdem er diesen Satz zu Papier gebracht hatte, nickte er zufrieden. Aus Beatrix konnte er noch mehr herausholen, bisher hatte sie ja mitgespielt. Der Vortrag des Engländers war an ihm vorbeigerauscht, aber das spielte keine Rolle. Er war schließlich der Abteilungsleiter! Beatrix Nagel und der Schneider mussten das machen!

      Der dritte Redner war ein Japaner namens Shomatsu aus einem Institut in Osaka. Griebsch kannte weder den Mann noch das Institut. Dazu hatte er Mühe, Shomatsus Englisch zu verstehen. Es ging um giftige Naturstoffe, die als potenzielle neue Biowaffen infrage kamen. Öfter glaubte Griebsch etwas wie Soy Soss, zu verstehen. Meinte der Soja Soße? Aber was machte das schon! Seine Gedanken schweiften zum IEI. Schneider würde er kaltstellen, am besten nur noch mit ungeliebten Verwaltungsaufgaben beschäftigen. Im Geist entwarf er das Schreiben an Krantz: „Wir haben in der Leitungsrunde bei der Zuordnung von verantwortlichen Aufgaben mit Allgemeinwirkung sorgsam abgewogen und sind bezüglich der Gefahrstoff Klassen Einstufung und der Gefahrstofftransport Registrierung zu der Erkenntnis gelangt, dass nur ein