Lothar Beutin

Rizin


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wie man es bei Tetanustoxinen, die Wundstarrkrampf auslösen, gemacht hatte. Der Trick war, das Toxin zu verändern, damit es nicht mehr giftig war, man nannte das Produkt ein Toxoid. Damit konnte man problemlos immunisieren. Das Toxoid musste aber dem Tetanustoxin noch so ähnlich sein, dass Antikörper erzeugt wurden, die auch mit dem ursprünglichen Toxin reagierten. Das klang einfach, aber war die eigentliche große Kunst. Ein mit dem Toxoid geimpfter Mensch wurde nicht krank, bildete aber Antikörper, die ihn bei einer Infektion auch gegen das tödliche Tetanustoxin schützen konnten.

      Genau so musste es doch auch für Rizin funktionieren. Um ein Rizin Toxoid zu erzeugen, kam eine Reihe von Chemikalien infrage. Schneider musste ihre Wirkung ausprobieren und mit seinen Zellkulturen prüfen, ob das Rizin nach der Behandlung noch giftig war. Das war ein langer Weg und es war keinesfalls sicher, dass er am Ende neutralisierende Antikörper gegen das Gift in den Händen halten würde.

      Bea drängelte. Sie brauchte das Antiserum, um den Nachweistest für Rizin aufzubauen und sie suchte den schnellen Erfolg. Schneider erzählte ihr von seinen Vorstellungen. Bea kannte sich mit Toxinen nicht aus, hatte aber schnell begriffen, worum es ging. Schneider führte Beas Nervosität auf ihren übersteigerten Ehrgeiz zurück. Er kannte die wahren Gründe nicht. Bea musste Griebsch und Hellman regelmäßig Bericht erstatten. Griebsch verlangte das von ihr als Vorgesetzter. Da er selbst wenig von der Sache verstand, ließ er sich leicht mit Allgemeinplätzen zufriedenstellen. Mit Hellman war es nicht so leicht. Hellman wollte Erfolge der AG-Toxine für sich vermarkten und Griebsch und Schneider kaltstellen. Hellman hatte Bea versprochen, ihren Mann Ronald mit einer Planstelle zu versorgen, wenn sie ihm Informationen lieferte, die seinem Vorhaben nutzten. Sie wusste, dass Hellman genug Einfluss bei Krantz hatte, um Ronald die Stelle zu verschaffen. Ihrem Mann erzählte sie nichts davon. Ronny war ehrgeizig. Er hatte schon einen Wissenschaftspreis gewonnen und hätte es abgelehnt, mithilfe seiner Frau und Hellmans Protektion eine Festanstellung zu erreichen.

      Dem argwöhnischen Griebsch war bewusst, dass er für Krantz neben Hellman nur die zweite Garnitur war. Das kränkte ihn. Hatte er nicht stets versucht, sich bei Krantz in ein gutes Licht zu setzen? Für Krantz hatte er Artikel über biologische Waffen geschrieben und darauf verzichtet, dass sein Name als Autor genannt wurde. Überhaupt war er Krantz jederzeit zu Diensten. Aber es half nichts, der Mediziner Krantz und der Veterinär Hellman verachteten den Biochemiker Griebsch. Umso stärker, je mehr er sich bei ihnen anbiederte. Griebsch spürte das aus den Worten und der Körpersprache der beiden. Krantz schien in ihm nur einen nützlichen Idioten zu sehen. Hellman würde immer eine Nummer größer sein als er.

      Irgendwann hatte Griebsch begriffen, dass es keinen Sinn machte, Krantz einfach nur hinterherzulaufen. Er beschloss, von nun an zweigleisig zu fahren. Äußerlich blieb er der loyale Beamte, in Wirklichkeit verfolgte er seine eigenen Pläne. Er würde sich die Anerkennung schon holen, die ihm zustand. Griebsch erhöhte den Druck auf Beatrix und gab ihr zu verstehen, dass Schneider sie nur ausnutzen wolle. Er versprach, ihr bei der nächsten Gelegenheit die Leitung der Arbeitsgruppe zu übertragen. Schließlich gehörte diese AG doch zu seinem Kompetenzbereich. Beatrix sollte ihn nur noch genauer darüber informieren, was in der AG vor sich ging. Vor allem genauer und früher als Hellman. Der Moment würde kommen, an dem er diese Informationen für seine Karriere nutzen könnte.

      Für Bea schien das perfekt. Hellman wollte sich für ihren Mann einsetzen und Griebsch förderte ihre Karriere. Sie sollte ihm dafür doch nur Bericht erstatten und das war völlig normal. Selbst, wenn es Schneider nicht passte. Schneider galt bei Griebsch und Hellman nicht viel, von ihm hatte sie kaum etwas zu befürchten. Bald würden sie und Ronny gemeinsam die AG-Toxine managen.

      Schneider war ganz in seiner Arbeit mit dem Rizin aufgegangen. Es machte fast soviel Spaß wie in alten Zeiten. Er hatte eine neue wissenschaftliche Herausforderung gefunden und begann, das Rizin mit allen möglichen Chemikalien zu behandeln. Manche wirkten sehr radikal und veränderten das Rizin zu sehr, sodass es für die Herstellung von Antikörpern nicht mehr geeignet war. Andere Stoffe zeigten dagegen kaum eine Wirkung. Schlimmer noch, denn Rizin erwies sich als ein hartnäckiger Stoff, dem chemischer Stress nicht viel ausmachte. Diese Versuche zogen sich lange hin, die Behandlungen brauchten Tage und danach mussten die Präparate an den Zellkulturen auf ihre Wirkung geprüft werden. Kein Wunder, dass es nirgendwo Antiserum gegen Rizin zu kaufen gab. Sämtliche Kataloge und Websites pharmazeutischer Firmen hatte Schneider durchgewälzt, nichts.

      Zum Glück verlor Rizin nach einigen Tagen bei Umgebungstemperatur seine giftige Wirkung allmählich von selbst. Vielleicht lag darin auch die Lösung. Möglicherweise waren die natürlichen Abbauprodukte des Rizins besser geeignet für die Herstellung von Antiserum. Schneider nahm sich vor, mehr Arbeit darin zu investieren.

      Wochen vergingen. Hellman drängte auf neue Ergebnisse und der Zeitvertrag von Ronny, der in zwei Monaten ablief, tickte in Beas Kopf wie eine Uhr. Bei der nächsten Pressekonferenz wollte Hellman über einen Durchbruch in der AG-Toxine berichten. Weil Schneider mit seinen Versuchen bisher nicht vorangekommen war, bestand Bea darauf, Kaninchen mit ansteigenden Mengen von Rizin zu immunisieren. Sie hoffte, Antikörper zu bekommen, bevor die Tiere an der Giftwirkung des Rizins starben. Schneider war skeptisch, aber er konnte Bea nicht daran hindern. Die Versuche endeten kläglich. Nach der Impfung mit geringen Mengen Rizin zeigten die Tiere keine Vergiftungserscheinungen, bildeten aber auch keine Antikörper. Beim Überschreiten einer bestimmten Dosis starben sie schnell und qualvoll, ohne vorher Antikörper produziert zu haben.

      Als Schneider sah, wie tief enttäuscht Bea vor dem Käfig mit den toten Kaninchen stand, dachte er zunächst, es wäre wegen der Tiere, merkte aber bald, dass es nicht der Grund war. Dann glaubte er, es wäre ihr Ehrgeiz, weil sie als junge Wissenschaftlerin Erfolge brauchte. Inzwischen hatte er sich ein neues Verfahren zur Immunisierung überlegt und um Bea zu ermutigen, erzählte er ihr davon.

      Rizin musste in die Körperzellen eindringen, um diese zu zerstören. Schneider hatte die Idee, Rizin mit einem zweiten, ungiftigen Stoff zu verbinden, damit es nicht mehr in die Körperzellen eindringen konnte. Das gekoppelte Rizin würde nur im Blutstrom zirkulieren, wo es keinen Schaden anrichten konnte, aber für das Immunsystem erkennbar war. Die Kaninchen würden gegen diesen Stoff Antikörper machen, zumindest hoffte Schneider das. Bisher war es nur eine Idee. Bea rechnete sich aus, dass für die notwendigen Versuche viel mehr Zeit vergehen würde, als ihrem Mann Ronald verblieb. Aber Schneiders Idee klang gut und sie nahm sich vor, der Entwicklung vorzugreifen. Als sie das nächste Mal bei Hellman vorsprach, stellte sie die ganze Sache als schon realisiert dar, damit Hellman sich endlich für ihren Mann einsetzte.

      Hellman nahm die Neuigkeit gerne auf und berichtete zwei Wochen später auf einer Pressekonferenz über einen Durchbruch zu einer Rizin Schutzimpfung. Den Erfolg der AG-Toxine schrieb er hauptsächlich dem Wirken des Duos Krantz und Hellman zu. Die Pressevertreter griffen das gerne auf und revanchierten sich mit positiven Artikeln. Damit rückte die Existenz der AG-Toxine, die Hellman in der Pressekonferenz erwähnt hatte, zum ersten Mal in das Licht der Öffentlichkeit.

      Nach der Pressekonferenz häuften sich Anrufe von Journalisten im Institut. Manche davon fanden den Weg bis in das Büro von Schneider. Der wollte nicht mit einer unausgegorenen Geschichte in Zusammenhang gebracht werden. Zuerst verwies er die Journalisten an die Pressestelle des IEI gemäß der offiziellen Anweisung von Krantz. Sollten Krantz und Hellman sich doch darstellen, wie sie wollten. Aber die Rivalität zwischen Griebsch und Hellman war ihm nicht verborgen geblieben. Im Institut sprach man so offen davon, dass es jeder mitbekommen musste. Schneider hatte sich schon gewundert, dass Griebsch bei der Pressekonferenz nicht zu sehen gewesen war. Alles Weitere lieferte die Gerüchteküche des Instituts, deren Herdplatten nie kalt wurden.

      Bald kam Schneider der Gedanke, dass es besser sei, wenn Griebsch und Hellman sich miteinander beschäftigten, anstatt mit ihm. Dafür konnte er etwas tun. Er musste nur alle Anrufe von Journalisten an Griebsch weiterleiten. Formal war das korrekt, Griebsch war sein Vorgesetzter. Für Griebsch sah es so aus, als würde Schneider den Dienstweg genau einhalten. Bei diesem Gedanken musste Schneider in seinem Büro plötzlich so laut auflachen, dass Tanja an die Tür kam und ihn erstaunt ansah.

      Die Pressestelle des IEI war für Journalisten eine unergiebige Nachrichtenquelle.