Lothar Beutin

Rizin


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zwischen den Walzen der Sortieranlagen in der Post aufplatzten und ihren staubigen Inhalt auf die dort Arbeitenden verteilten. Dadurch wurde die Verbreitung der Milzbrandbakterien unvorhersehbar.

      Wer konnte hinter den Briefen stecken? Die Analyse der Sporen ergab, es handelte sich um ein professionell hergestelltes Produkt. Die Verarbeitung der Bakterien zu einem feinen, flüchtigen Pulver konnte nur mit Spezialmaschinen erfolgt sein. Von offizieller Seite wurde ein Zusammenhang mit der Terrororganisation al-Quaida gezogen, die kurz zuvor mitten in Manhattan ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte. Hatten die Attentäter des 11. September nicht bewiesen, wie weit der Terrorismus in die Infrastruktur des Landes eingesickert war? Waren die Terroristen möglicherweise schon in Fort Detrick?

      Die Anthraxbriefe waren ein gefundenes Fressen für die Medien und Deutschland blieb davon nicht ausgenommen. Die Briefe kursierten zwar nur in den USA, doch jeder erwartete ihr Auftreten in anderen Ländern. An einem Frühsommertag war es in der deutschen Hauptstadt soweit: Eine Angestellte des Möbelhauses Hiller fand nach Ladenschluss einen im Geschäft abgelegten Brief, der außer einem staubigen Papiertaschentuch mit einer unverständlichen Botschaft weiter nichts enthielt. Der Umschlag landete zunächst bei der Polizei, dann beim Landeskriminalamt und schließlich wurde der Staatsschutz eingeschaltet. Pressemitteilungen, wie Anthraxbrief in Berlin aufgetaucht, konnten nicht mehr verhindert werden und die Angestellte des Möbelhauses freute sich über die vielen Interviews.

      Hier bestand Verdacht auf terroristische Aktivität, es mussten Untersuchungen an dem Briefinhalt vorgenommen werden. Diese hätte jedes medizinische Labor durchführen können, aber es handelte sich um eine Sache der höchsten Sicherheitsstufe, um ein Politikum. Welche Institution kam dafür besser infrage als das IEI unter der Leitung des berühmten Professors Herbert Krantz?

      Für das IEI begann mit diesem Tag eine neue Epoche, der Einstieg in die Biowaffenforschung. Das Landeskriminalamt meldete sich bei Direktor Krantz, ob die Untersuchung des Briefes in seinem Institut erfolgen könnte. Krantz gab zurück, das sei selbstverständlich kein Problem. Er verschwieg, wie schlecht die Voraussetzungen dafür inzwischen waren, denn er selbst hatte Monate zuvor die klinische Bakteriologie am IEI so gut wie aufgelöst. Die freiwerdenden Mittel und das Personal waren längst auf die virologischen Fachgruppen verteilt. Aber Herbert Krantz irritierte das nicht. Unmittelbar, nachdem das LKA sich bei ihm gemeldet hatte, zitierte er die Leiter aller Laborbereiche zu sich. Schneider war vom Anruf aus dem Präsidialbüro überrascht, weil der Termin umgehend war. Als Schneider, der sich nicht besonders beeilt hatte, Krantzens Bürosuite betrat, saßen dort bereits Kollegen aus allen Abteilungen des Instituts.

      Sogar Krantz war diesmal pünktlich, und nachdem Schneider eingetroffen war, eröffnete er die Sitzung. „Ich musste Sie kurzfristig zu mir bitten, da der schon befürchtete Ernstfall eingetreten ist. Heute sind wir vom LKA informiert worden, dass ein im Möbelhaus Hiller deponierter Brief möglicherweise Anthraxsporen enthält. Ich habe bereits mit dem Bundeskriminalamt Kontakt. Man erwartet von höchster Stelle eine unverzügliche Aufklärung des Sachverhaltes durch das IEI. Ich setzte voraus, dass der Nachweis dieser Sporen für uns kein Problem darstellt!“

      Mit der Betonung auf seine letzten drei Worte starrte er Leo Schneider an, wie ein räuberisches Insekt, möglicherweise, weil Schneider das einzige noch existierende bakteriologische Labor am IEI betrieb. Schneider war zu überrascht, um darauf zu reagieren. Krantz legte nach: „Ich nehme an, dass diese Untersuchung bei Ihnen problemlos durchgeführt werden kann, Herr Schneider?“ Der leise Tonfall war unüberhörbar, da alle Anwesenden wie gebannt schwiegen.

      Leo Schneider zögerte. Er hatte nichts für die Untersuchung von Anthrax im Labor vorrätig, er arbeitete mit anderen Bakterien, die Durchfall verursachten. Aber ein Test für Anthraxsporen wäre schnell aufgebaut und vielleicht eine Chance, sein Labor zu erhalten. Er überlegte ein paar Sekunden zu lange. Als er gerade „Ja, aber ...“, sagen wollte, kam von Gerhard Hellman, dem Leiter der virologischen Abteilung, der Satz: „Wir können das machen!“

      Damit hatte Schneider nicht gerechnet. Der Veterinär Hellman hatte vielleicht als Student das letzte Mal mit Bakterienkulturen gearbeitet. Ob Hellman überhaupt wusste, wie man Sporen bildende Anthrax Bazillen erkennt? Schneider war sprachlos, in seinem Kopf schossen sich die Gedanken gegenseitig ab. Instinktiv spürte er, wenn er weiter schwieg, würde sein Labor bald nicht mehr existieren. „Ja, natürlich können wir diese Untersuchungen durchführen“, sagte er eine gefühlte Unendlichkeit später.

      Krantz fixierte ihn weiterhin, seine Augen verengten sich, dann blickte er auf seinen Duzfreund Hellman. Er verzog seine schmalen Lippen zu einem dünnen Grinsen, das seinen Oberlippenbart zu einem Strich gerinnen ließ. „Ich denke, Sie beide werden das übernehmen und dabei zusammenarbeiten. Sie sind beide für das Gelingen verantwortlich, wir dürfen uns gegenüber dem LKA keine Schwächen erlauben. Das war es für heute, ich schließe die Sitzung, Sie können zurück an Ihre Arbeit, meine Damen und Herren.“

      Schneider nickte. Ihm blieb nichts weiter zu sagen und er sah, wie Hellman zufrieden grinste, als alle Anwesenden eilig das Präsidialbüro verließen, froh, dass der Kelch diesmal an ihnen vorübergegangen war. Alle, bis auf Hellman, der keine Anstalten zum Gehen machte. Schneider stand betont langsam auf, hoffte, Hellman würde auch gehen, aber der blieb sitzen und Schneider ging mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Wie ein Schlafwandler lief er durch das Vorzimmer an der Chefsekretärin vorbei, verließ den Präsidialtrakt und ging den Flur im Altbau des Instituts entlang. Hellman hatte als Leiter der virologischen Abteilung viel mehr personelle und apparative Mittel, als Schneider mit seinen verbliebenen zwei technischen Assistentinnen. Hellman und Krantz kannten sich schon aus Studienzeiten, zwei Duzfreunde, beide um die sechzig. Schneider fühlte, dass zwischen ihm und den beiden Männern eine Kluft lag, die er nicht überwinden konnte noch wollte.

      „Männer über sechzig sind gefährlich, denn sie haben keine Zukunft!“ Diesen Satz hatte Leo Schneider einmal in einer Festrede für einen grau melierten Klinikchef gehört und der fiel ihm jetzt wieder ein. Im Gegensatz zu Hellman musste Schneider ungefährlich sein, denn er hatte sich mit Mitte vierzig noch um seine Zukunft zu sorgen. Er stellte sich Hellman vor, der jetzt bei Krantz saß und wahrscheinlich über ihn herzog. Ohne es richtig wahrzunehmen, war Schneider in sein Labor gelangt. Er grübelte, was Hellman und Krantz wohl ausheckten. Eine Rolle würde er dabei spielen, aber welche? Wie selbstverständlich war Hellman sitzen geblieben, als alle anderen den Raum verließen. Krantz hatte Schneider auch nicht gebeten, an dem Gespräch teilzunehmen. Langsam beruhigte Schneider sich wieder. Natürlich war es spannend, einer neuen Herausforderung zu begegnen, aber sein Entsetzen über das, was er gerade erlebt hatte, überwog.

      Schneiders Assistentin Tanja fragte, wie es gelaufen war. Nach der Antwort „Nur das übliche Zeug von Krantz, war wie immer furchtbar“, sah sie ihn ungläubig an. In diesem Moment wurde ihm klar, es war Unsinn, die Sache herunterzuspielen. Er fügte hinzu: „Vielleicht müssen wir ab jetzt etwas mit Bazillen arbeiten.“

      Tanjas Kollegin Karin regte sich auf, fand es Schwachsinn, von einem Tag auf den anderen die Arbeit völlig umzustellen. Tanja zuckte mit den Achseln, meinte: „Und wenn schon, das kriegen wir hin.“ Sie blieb gelassen, war geduldig und verließ sich auf ihre Erfahrung. Bevor sie zu Schneider kam, hatte sie für die Gerichtsmedizin im Leichenschauhaus gearbeitet. Zwar war sie keine ausgebildete Sektionsassistentin, hatte sich aber die dafür notwendigen Fähigkeiten zur Präparation der Organe, der Fixierung der Proben und der fotografischen Dokumentation angeeignet. Oft war sie mit diesen Arbeiten stundenlang allein in dem neonbeleuchteten Sektionssaal und was sie jeden Tag dort sah, brachte ihr eine stoische Grundhaltung ein. Eines Tages hatte sie genug davon und sich auf die Stelle am IEI bei Schneider beworben. Ihm hatte sie erzählt, es wäre der Geruch des Todes gewesen, den sie irgendwann nicht mehr ausgehalten hätte. Eine Erbschaft aus dieser Beschäftigung war das Rauchen, das sie sich in dieser Zeit angewöhnt hatte, um den Leichengeruch, von dem sie meinte, er würde an ihr kleben, zu überdecken. Gelernt hatte Tanja den Beruf einer veterinärmedizinischen Assistentin in einer Großtierpraxis. Von ihrem Lebenslauf her war sie einiges gewohnt und kannte vieles. Ihre Ehe mit ihrem Mann Arno war vor drei Jahren in die Brüche gegangen, nachdem sie ihn in flagranti mit ihrer besten Freundin ertappt hatte. Sie hatte sich damals geschworen, nie wieder zu heiraten. Seitdem