Alexander Stania

Icecore


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Geräusche, die aus der Eishöhle kamen. Aber Flucht kam nicht in Frage und Kontakt zur Zentrale konnte er auch nicht aufnehmen, da sie sich zu tief unter dem Eis befanden.

       Als seine Kameraden dann letztendlich wieder zurück waren, verglichen Ruuk und Rory den Stand ihrer Uhren. Verblüfft stellten sie fest, dass Rorys Uhr vor oder Ruuks eine komplette Stunde nachging. Was hatten sie hier nur ausgegraben? Gilbert ließ keine Zeit für Spekulationen. Er scheuchte sie auf die Plattform hoch und startete die Maschine der Zahnradbahn. Ruckelnd setzte sie sich in Bewegung und beschleunigte der Oberfläche entgegen. Alle an Bord waren erleichtert. Am meisten sah man es Rory an. Es war auch erst sein zweiter Einsatz in dieser Truppe. Ruuk war plötzlich so entspannt, dass er kaum seine Augen offenhalten konnte. Die vorbeirauschenden Eiswände des Tunnels verstärkten den Effekt. Nur fünfzehn Minuten musste er durchhalten, dann waren sie oben. Wieso hatten die Ingenieure dieser Station nicht an Stühle gedacht? Oder war das der Lastenaufzug? Typisch! Das waren seine letzten sinnvollen Gedanken, bevor ihm die Augen zufielen.

      Auf der Oberfläche der Antarktis, nicht weit vom Eingang des Eistunnels entfernt, standen zwei große Militärhubschrauber, Black Hawks. Sehr leistungsfähige Flugmaschinen. Ihre beheizbaren Rotorblätter waren nur eine der vielen Sonderausstattungen für diese Mission.

       Der eine Black Hawk hatte die Soldaten hierher gebracht, der andere Hubschrauber diente als Kommandozentrale. Hier beobachteten gerade drei Menschen eine Wand, die mit Monitoren bestückt war. Der vordere Teil der Kabine war sehr spartanisch eingerichtet: Außer zwei weiteren Computerarbeitsplätzen und den dazugehörigen festgeschraubten Stühlen gab es nichts. Hinter den zwei Operatoren saß Major Jackson Hidge, in seinen Händen hielt er eine Tasse mit Kaffee. Im Gegensatz zu den beiden anderen trug Hidge keine Uniform. Er hatte einen Schneeanzug an, sodass er eher wie ein Zivilist aussah.

       Plötzlich fingen sechs Lichter in einer Reihe von Lämpchen hektisch an zu blinken. Diese Blinklichter waren Teil einer in die Monitorwand integrierten Steuerkonsole.

       Unter jedem Lämpchen befand sich ein Kippschalter, der wiederum von einer durchsichtigen Sicherheitsklappe abgedeckt war.

       „Wir haben wieder Kontakt zu ihnen“, sagte der Operator und öffnete dabei alle Sicherheitsklappen, über denen Lämpchen blinkten.

       „Wo sind sie?“, fragte Hidge sichtlich angespannt.

       „Neunhundert Meter unter dem Eis, sieben Minuten, bis sie am Ausgang sind“, gab der Operator zurück. Mayor Hidge weilte gedanklich für einen kurzen Moment in der jüngeren Vergangenheit. Dann fing er sich wieder und nickte dem Operator entschlossen zu. Daraufhin fing dieser an, die Hebel umzulegen.

      Der Knall war so laut, dass Ruuk dachte, sein eigener Schädel wäre explodiert. Die Druckwelle der Explosion hinter ihm schleuderte ihn nach vorne. Da er als Letzter eingestiegen war, befand er sich am Ende der Plattform. Er hatte sich mit dem Rücken zu den anderen gedreht, damit er nicht von der Bahn fiel, sollte er einschlafen. Der Schlag in den Nacken hätte ihn fast von der Plattform geschleudert, doch er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Er rutschte mit den Beinen ins Leere, drehte sich und knallte mit den Rippen gegen die Plattformkante. Gerade noch erwischte er mit einer Hand das Geländergestänge. Völlig unfähig, die Situation zu beurteilen, sah er mit an, wie Sprengsätze an den Hinterköpfen seiner Kameraden nacheinander detonierten. Rory war der Einzige, der noch aufrecht stand, während Splitter und Blut um ihn herumflogen. Mit vor Angst verzerrtem Gesicht blickte er zu Ruuk. Rory hatte wohl auch begriffen, dass jemand dabei war, sie umzubringen. Wieder explodierte es, und Rorys blutiges Gesicht durchschlug die Sichtscheibe seines Schutzanzuges. Sein lebloser Körper flog von der Druckwelle getragen über Ruuk hinweg. Geistesgegenwärtig ergriff Ruuk Rorys Stiefel, und dieser riss ihn mit sich in die Tiefen des Eiskanals. Er musste außer Senderreichweite kommen, tief genug unter das Eis. Einen anderen Weg gab es nicht. Eigentlich hätte er schon früher misstrauisch werden müssen, schließlich hatten sie etwas Ähnliches bereits im Golfkrieg gemacht. Aber ein Soldat vertraute seinem Vorgesetzten nun mal.

      „Er ist außer Reichweite, Sir“, sagte der Operator mit einem entschuldigenden Unterton zu Hidge. „Es muss sowieso ein Blindgänger gewesen sein, sonst ...“

       Hidge brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Kommt er da allein wieder raus?“, fragte Hidge nachdenklich.

       „Sehr unwahrscheinlich, Sir. Er könnte natürlich die Schienen wieder hochklettern. Aber bei der Kälte und der Steigung? Sechs Kilometer weit? Wahrscheinlich hat er sich sowieso alle Knochen gebrochen, falls er die Ankunft in der Höhle überhaupt überlebt hat“, sagte der Operator überzeugt. Aber Hidge war klar, dass, auch wenn die Chance noch so gering war, eine Möglichkeit bestand. Nichts und niemand durfte aus der Höhle entkommen. Das musste sicher sein.

       „Sprengen Sie den Tunnel und lassen Sie alle Spuren beseitigen!“ Der Operator setzte den Befehl sogleich in die Tat um und betätigte einen weiteren Schalter in der Konsole.

       Er hatte sich zwei oder drei Rippen gebrochen, diagnostizierte sich Ruuk selbst. Nach dieser Rutschpartie durch den steilen und stockfinsteren Eistunnel war es ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Dass er sich nicht noch mehr gebrochen hatte, verdankte er seinem toten Kollegen Rory, dessen Körper er als Schlitten missbraucht hatte. Er war über die Haltestellenplattform gerutscht, an dem Laufsteg vorbei, und dann etwa zwei Meter tief auf den Höhlenboden gestürzt. Bei diesem Aufschlag hatte er sich die Rippen gebrochen. Seine Taschenlampe war wahrscheinlich schon vorher aus ihrem Gurt gerissen worden.

       Die Höhle war so dunkel, dass Ruuk nicht mal seine Hände sehen konnte. Diese Erkenntnis und dass er völlig allein war, ließen ein Panikgefühl in dem sonst so kontrollierten Soldaten aufkeimen.

       Um zu überleben, musste er wieder die Kontrolle zurückerlangen. Er musste flexibel bleiben und sich kleine Ziele stecken. Als Erstes musste er zum Tunnel zurück. Ob er die Kraft hatte, sechs Kilometer bei einer Steigung von fünfundvierzig Grad die Schienen hochzuklettern? Das würde sich zeigen, wenn es so weit wäre. Er tastete nach der kleinen Stablampe in seiner Weste. Doch die befand sich unter seinem Virenschutzanzug. Mit einem Schlag kam ihm wieder die Bombe in seinem Anzug in den Sinn. Was war passiert? Ganz einfach: Ihre Auftraggeber hatten beschlossen, sie auf elegante Weise loszuwerden. Diese Mistkerle! Aber auch er hatte schon so etwas in der Art abgezogen. Am liebsten hätte sich Ruuk diesen verminten Anzug vom Leib gerissen. Andererseits war vielleicht die Bombe im Anzug nicht der einzige Grund, wieso er ihn trug.

       Er steckte in einem Zwiespalt. Vielleicht war die Bombe nur ein Blindgänger, der dann mit einer Verzögerung doch noch losging. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Angst vor einer Explosion im Nacken. Ruuk machte sich nichts vor, er war sowieso so gut wie tot. Aber so unvermittelt wollte er nicht aus dem Leben gerissen werden. Er öffnete die Sicherheitsverschlüsse des Anzugs, klappte das Luftsiegelverdeck auf die Seite und wollte gerade das Versiegelungsklebeband über dem Reißverschluss abziehen, als er erneut ins Grübeln kam. Wenn er erst mal virenverseucht oder mit sonst etwas Unheilbarem angesteckt war, dann bräuchte er erst gar nicht versuchen, hier rauszukommen. Also machte er alles wieder dicht. Auch wenn er zwei gebrochene Rippen hatte, kein greifbares Licht und eine Meile unter dem antarktischen Eis war ? einen Funken Hoffnung musste er sich bewahren. Was die Bombe in seinem Nacken anging, so war diese sicherlich von der Druckwelle der ersten Explosion zerstört worden. Das redete er sich zumindest ein.

       Als Erstes musste er zum Eistunnel, und dann wollte er weitersehen. Flexibel bleiben und sich kleine Ziele stecken, so lautete seine Überlebensstrategie.

       Obwohl er sich ein paar Mal überschlagen hatte, wusste er noch, aus welcher Richtung er in die Höhle geflogen war. Sehr tief war er auch nicht, sonst hätte er das Kribbeln wieder gespürt. Als er aufstehen wollte, fuhr ihm ein mörderischer Schmerz durch die Brust. Die gebrochenen Rippen hatte er fast vergessen. Er biss die Zähne zusammen und stolperte blind durch die Dunkelheit in die Richtung, von der er glaubte, dass sich dort der Laufsteg befand.

      Plötzlich vernahm Ruuk ein heftiges Donnern und anhaltendes Grollen aus der Richtung des Eistunnels. Ihm war sofort klar, was das bedeutete: Sie hatten den Tunnel gesprengt. Noch ein Hoffnungsfunken erlosch. Dennoch, er sollte schleunigst hier weg, bevor die Lawine aus Eistrümmern in die Höhle stürzte. Da er sich eher am Rand der Höhle