Alexander Stania

Icecore


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vom Tunnel entfernen. Während er unter Aufgebot all seiner Kräfte über die Unebenheiten des vereisten Bodens hinwegrannte, wurde das Grollen immer lauter. Dann sackte er in eine Vertiefung und stürzte. Diesmal schoss ihm ein Schmerz durch den Fuß. „Verdammt!“, schrie er in die Dunkelheit. Ein gebrochener Knöchel hatte ihm gerade noch gefehlt. Er belastete ihn vorsichtig und stellte erleichtert fest, dass er nur umgeknickt war. Das tat zwar auch weh, hinderte ihn aber nicht am Laufen. Und nun musste er laufen. Ein kühler Windstoß kündigte das hereinplatzende Eis an. Blind rannte Ruuk los. Hinter ihm krachte und rauschte es ohrenbetäubend laut. Er spürte Eissplitter gegen seinen Anzug und seine Sichtscheibe schlagen. Im Dunkeln hatte er fast kein Gefühl, wie weit er gekommen war, doch scheinbar weit genug, um nicht von der Lawine fortgerissen worden zu sein. Wieder stolperte er, aber diesmal über eine Erhöhung. Vom eigenen Schwung getragen, flog er kopfüber voraus und prallte mit seinem Helm, den er zum Glück unter dem Schutzanzug trug, mit voller Wucht gegen einen Metallpfeiler. Verdutzt blieb er liegen. Gegen was war er geprallt? Er griff vor sich und umfasste den Metallpfeiler. Er erinnerte sich, dass die Station auf Stahlbeinen stand. Schnell rappelte er sich trotz aller Schmerzen auf und tastete über sich. Er fühlte den Boden der IcecoreStation einen halben Meter über seinem Kopf. Er hatte einen neuen Hoffnungsfunken, wobei er nicht mal wusste, ob es von dort eine Verbindung zur Oberfläche gab. Erst mal hinein, war sein nächstes Ziel! Irgendwo musste es eine Laderampe oder eine Luke geben. Diese verdammte Dunkelheit! Und dabei hatte er eine Taschenlampe. Wieder überlegte er, ob er diesen sperrigen Virenschutzanzug ausziehen sollte. Plötzlich fiel ihm ein schwacher Lichtschein auf. Er ging darauf zu, eine Rampe hoch und stand schließlich vor einer Schleusentür. Er sah durch das höchstens zwanzig Zentimeter breite Fenster in der Tür, aus dem der schwache Lichtschein fiel. Es war eine Schleuse, ein zwei mal drei Meter großer Raum ohne jegliche Inneneinrichtung. Hermetisch und luftdicht verschlossen. Für eine Schleuse recht groß. Sie diente sicherlich zum Ein und Ausladen größerer Objekte, die auf Rädern bewegt wurden. Das verriet ihm der Boden, auf dem Reifenabdrücke zu sehen waren. Auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, saß eine Frau Mitte dreißig, mit fettigen braunen, langen Haaren. Vielleicht war sie auch jünger, doch sie sah sichtlich mitgenommen aus. Sie steckte in einem weißen Kunststoffanzug, der Ruuks Virenschutzanzug nicht unähnlich sah. Wahrscheinlich war es doch die richtige Entscheidung gewesen, den Anzug nicht auszuziehen. Was aber machte die Frau eigentlich? In der Schulterschnalle ihrer Jacke steckte eine Taschenlampe, und die strahlte auf ein Buch mit einem roten Ledereinband, das auf ihren Knien ruhte. Sie schrieb.

       Ein Protokoll, Logbuch oder Tagebuch? Das war ihm jetzt egal, denn er spürte, dass sein Sauerstoffvorrat zur Neige ging. Er musste jetzt da rein ? und sie musste ihm helfen!

      Verena vernahm ein dumpfes Pochen auf der anderen Seite der Schleuse. Sie erschrak, blickte auf und sah verängstigt zur Tür. Ihre Gesichtsmimik entspannte sich wieder, als sie in dem weißen Schutzanzug einen Menschen erkannte. Ein Rettungstrupp? Major Hidge würde doch nie versuchen, sie zu retten, das hätte selbst sie nicht getan. Sie legte ihr Tagebuch neben sich auf den Boden und stand auf. Langsam und vorsichtig näherte sie sich der Scheibe. Sie konnte nicht sicher sein, dass der Mann das war, wonach er aussah. In dieser stabilen Schleuse war sie einigermaßen sicher. Glaubte sie jedenfalls.

       Der Mann vor der Schleusentür war sichtlich außer sich und versuchte hektisch, mit ihr zu kommunizieren. Aber durch die dicke Panzerglasscheibe und seinen Anzug konnte sie ihn nicht hören. Was sie aber hörte, war das Kreischen. Es kam von draußen auf sie zu. Verena ging langsam zurück. Der Mann schaute sie entsetzt an, dann drehte er sich der heranrasenden Lärmquelle zu, und schon rammte ihm etwas mit voller Wucht den Hinterkopf in das Schleusenfensterglas. Diesem Ansturm hielt das Panzerglas noch stand, doch die Explosion, die eine halbe Sekunde darauf folgte, durchschlug das Fenster. Verena riss die Arme schützend vor ihr Gesicht. Auf eine Explosion war die junge Genetikerin nicht gefasst gewesen, zumal sie auch nichts von der Bombe wußte die im Schutzanzug des Soldaten geschlummert hatte. Sofort schlug ihr eiskalter Wind durch das zerstörte Schleusenfenster entgegen. Nun bot der Raum keinen Schutz mehr, und Verena wollte noch lange genug leben, um ihr Tagebuch zu Ende zu schreiben. Wenn sie selbst schon gehen musste, so wollte sie doch wenigstens die wahre Geschichte dieses Ortes zurücklassen. Sie hoffte, dass sie eines Tages in die richtigen Hände gelangte. Vielleicht sogar zu ihrem Mann und ihrer Tochter. Beim Gedanken an ihre Lieben, die sie nie wieder sehen würde, stiegen ihr die Tränen in die Augen.

       Sie steckte ihr Tagebuch in die Seitentasche ihrer weißen Kunststoffhose, die sie unter dem Virenschutzanzug trug. Sie gab sich nicht mehr die Mühe, ihren Schutzanzug wieder zu schließen, und legte ihre zitternden Hände auf das manuelle Verriegelungsrad der Schleusentür. Der Öffnungsmechanismus der Tür ratterte monoton vor sich hin, als Verena die Schleuse ins Innere der Station öffnete.

       Dann stieg sie durch die ovale Öffnung und verschwand in den dunklen Eingeweiden der IcecoreForschungsstation.

      ICECORE

      Distanz 148

      In Photoshop sahen die Texte noch sauber aus, aber jetzt, als sie die TIFDatei in ihrem 3DProgramm öffnete, war die Schrift kaum mehr zu lesen. Diese Verarbeitungsfehler zwischen den Programmen traten immer dann besonders massiv auf, wenn man kurz vor einer Kundenpräsentation stand. Die sechsundzwanzigjährige Grafikerin fragte sich, ob ihre Berufswahl wirklich so klug gewesen war. Letztendlich war der Arbeitsmarkt im Computergrafikbereich hart umkämpft. Ihre verkrampfte Hand lockerte sich und ließ die bereits schweißige Maus los. Wenigstens konnte sie bei diesem Projekt von zu Hause aus arbeiten. Bei ihrem letzten Projekt, einem FullCGFeatureFilm, musste sie monatelang auf billigen IkeaStühlen sitzen und schlechten Kaffee trinken. Außerdem erntete sie böse Blicke, wenn sie mal vor zehn Uhr abends nach Hause ging. Aber dafür war man schließlich beim Film. Hier, zu Hause, würde sie sich diese Nacht sicherlich auch um die Ohren schlagen müssen, aber sie saß auf einem AeronBürostuhl und trank Tee. Trotzdem brauchte sie Sport zum Ausgleich, und sie freute sich auch schon auf ein verlängertes Skiwochenende mit ihren Freundinnen. Sie setzte sich auf, lief aus ihrem Schlaf/Arbeitszimmer zur kleinen Einbauküche, um heißes Wasser für ihren Earl Gray aufzusetzen. Das Verlangen nach einer Zigarette hatte sie seit dem Filmprojekt nicht ganz ablegen können, aber sie gab ihm nicht nach. Gerade wenn ein Projekt in Nachtarbeit und Stress überging, wurde das Verlangen sehr stark. Sie musste sich eingestehen, dass es in ihrer Zeit als 3DArtist beim Feature Film recht ungesund zugegangen war.

      Die Türklingel läutete zweimal kurz und einmal lang. Das alte Zeichen, um zu signalisieren, dass es ein Familienangehöriger war. Da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie keine Geschwister hatte, konnte es nur ihr Vater sein. Sie öffnete ihm die Tür, und der große Mann im dunkelbraunen Pelzmantel trat auf sie zu und umarmte sie. Da es draußen schneite und die Straßen ganz matschig waren, zog er gleich seine Stiefel aus und stellte sie vor die Tür. Annika hatte bereits einen Kleiderbügel in der Hand und wollte Thomas den Mantel abnehmen, doch der winkte ab: „Schon okay, ich bleibe nur ganz kurz.“

       Er ging geradewegs in ihr Wohnzimmer und blieb vor dem Fenster stehen. Seine angespannte Haltung verriet ihr, dass ihrem Vater etwas auf dem Herzen lag, und sie hoffte, dass es sich nicht wieder um das alte Thema drehte. Zu viel hatte sie deswegen durchgemacht. Thomas drehte sich zu ihr um, blickte ihr aber nicht in die Augen.

       „Ich werde eine Zeit lang verreisen.“ Bevor Annika ihm aufgebracht ins Wort fallen konnte, sprach er schnell weiter:

       „Nicht in die USA, nicht mal in die Nähe davon. In die Antarktis.“ Annika neigte fragend ihren Kopf und verengte ihre Augen:

       „Und das soll mich beruhigen? Du kommst mit dieser typischen Art an, die mir klar sagt, dass es wieder um Mutter geht.“ Ihre Enttäuschung und ihre damit verbundene Sorge konnte Thomas nicht ignorieren.

       „Ich weiß, das mit Amerika ist damals dumm gelaufen. Ich habe viel zu unvorsichtig in Wespennestern herumgestochert.“ Zorn funkelte in Annikas Augen auf, und sie antwortete scharf:

       „Du hast in Staatsgeheimnissen gestochert, schon vergessen? Den Amerikanern ist es doch egal, wonach ein Fremder sucht. Ein Land, das ständig in Angst vor Terroranschlägen steckt, ist in jeder Hinsicht paranoid. Was hast du erwartet?“ Sie schüttelte ihren Kopf, und ihre langen braunen Haare weckten Erinnerungen an Verena in ihm. Sie