Alexander Stania

Icecore


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letzten Telefonat erzählte sie ihm, dass sie an einem besonderen Projekt teilnehmen dürfte, sie aber wegen der Sicherheitsmaßnahmen und des abgelegenen Ortes für zwei Wochen nicht miteinander telefonieren könnten. Sie klang sehr begeistert und aufgeregt, aber sie verriet nicht, worum es sich bei diesem Projekt handelte.

       Wieder ließ er es zu. Thomas hatte die letzten Briefe von Verena immer bei sich. Er hatte sie schon so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen brüchig geworden war, aber nie herausgefunden, was wirklich zwischen den Zeilen stand. Es fehlten die kleinen Floskeln, die nur harmonisierende Paare miteinander teilten. Die Briefe waren von ihr, aber jemand hatte das wegradiert, was sie wirklich sagen wollte. Trotzdem hatte er herausgefunden, dass sie mit Kollegen des BionikoInstituts in die Antarktis gebracht worden war. Seine Wahrheitssuche führte ihn zu den Verwandten der anderen, die auch vermisst wurden. Er stieß auf immer mehr Widersprüche, und andere Fakten belegten Tatsachen, die verborgen gehalten wurden.

       Irgendwann tauchte dann der Name auf: Major Hidge, militärischer Leiter von Fort Shellbay in den Rocky Mountains. Dass er eine wichtige Rolle in dieser Vertuschungsgeschichte spielte, wurde Thomas erst wirklich bewusst, als man ihn zur Untersuchung in ein Militärgefängnis steckte. Der Name des Majors hatte in gewissen militärischen Kreisen Aufmerksamkeit erweckt ? und das nicht ohne Grund. Einen Monat hatte es gedauert, bis Annika herausgefunden hatte, wo ihr Vater steckte, und weitere zwei Monate, bis sie ihn den Klauen der amerikanischen Bürokratie entrissen hatte. Eine geheime Macht wollte Thomas nicht mehr gehen lassen, und in den drei Monaten Inhaftierung glaubte er schon, dass man ihn verschwinden lassen wollte.

       Ohne die Bemühungen seiner Tochter wäre er wahrscheinlich wirklich verschwunden.

       Einfach so.

      Distanz 139

      Dr. Chakalakel hatte es geschafft, kurz nach dem servierten Abendessen einzuschlafen, und mit etwas Glück blieb er möglichst lange in diesem Zustand. Annika und Jenay hatten ihm den Platz am Fenster überlassen, damit ihn keiner aufwecken musste, sollte einer von ihnen mal aufstehen müssen. Thomas saß nun direkt neben Jenay und war bei seinen Gedankengängen eingeschlafen. Im Gegensatz zu Annika schlief Thomas gerade im Sitz, mit dem Kopf nach hinten geklappt, sodass sein Hals trotz des Kissens leicht überstreckt war. Diese Stellung hatte zur Folge, dass sein Mund leicht offen stand und dass er leicht röchelte. Annika hatte sich unter eine dünne Schlafdecke gekuschelt, leicht seitlich gelegt und ihren Kopf an Jenays Schulter geschmiegt. Wären sie alleine gewesen, hätte Jenay ihre Nähe durchaus genießen können. Doch in dieser Situation, mit Annikas Vater auf der anderen Seite, der im Begriff war, ein ausgewachsenes Schnarchen zu erzeugen, fiel es ihm außerordentlich schwer, romantische Gefühle zu entwickeln. So schloss auch Jenay seine Augen und ließ seine Gedanken hinter das transantarktische Gebirge reisen.

      Distanz 138

      Der Flug neigte sich seinem Ende zu. Nicht alle hatten das Glück, fünf Stunden geschlafen zu haben. Thomas hatte lediglich zwei Stunden in diesem Zustand verbracht. In der Zwischenzeit war er durchs Flugzeug geschlendert und schrieb im Restaurant in seinem Tagebuch die Ereignisse nieder, die seit seinem letzten Eintrag passiert waren. Eigentlich war es mehr ein Wochenbuch als ein Tagebuch. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Sonntagabend seinen Wochenrückblick zu machen. Heute war allerdings erst Donnerstag, aber jetzt hatte er Zeit und konnte sowieso nicht schlafen. Er führte mittlerweile seit achtzehn Jahren Tagebuch. Es hatte damit angefangen, dass Verena in die Vereinigten Staaten gegangen war. Sie kauften sich jeder das gleiche, in rotes Leder gefasste Buch mit leeren Seiten und einem Lederband zum Einwickeln. Wenn sie getrennt voneinander waren, würde jeder von ihnen Tagebuch führen. Bis sie wieder zusammen waren. Es war Verenas Idee gewesen, und Thomas fand es zuerst etwas albern, da sie doch sowieso jeden Tag telefonierten. Aber er tat es ihr zuliebe doch. Er sollte besonders die Entwicklungsschritte von Annika festhalten, denn sie hoffte, vielleicht einen kleinen Teil von dem, was sie in den USA verpassen würde, auf diese Weise nachlesen zu können. Obwohl sie nicht mehr zurückkam, behielt Thomas dieses Ritual bei und kaufte auch immer nur dieses Tagebuch mit dem roten Ledereinband. Mittlerweile hatte er sich einen Vorrat an Tagebüchern zugelegt, von denen er dreißig mit seinen Einträgen gefüllt hatte. Er machte sich keine Hoffnungen, dass er seine Frau jemals lebend wiedersehen würde, aber vielleicht würde er eines Tages ein Tagebuch von ihr finden.

      Distanz 137

      Um sechs Uhr früh nahm der Flug in dem riesigen Airbus sein Ende. Alle an Bord waren wieder auf ihren Plätzen angeschnallt, und die Maschine begann mit dem Sinkflug auf den Flughafen von Buenos Aires. In Argentinien herrschte zu dieser Zeit wesentlich wärmeres Wetter als im winterlichen Deutschland. Bei dem Flug über den Atlantik hatten sie den Äquator überquert und waren von der Winterseite der Erdkugel auf die Sommerseite gewechselt.

       In Buenos Aires würden sie sich gar nicht lange aufhalten, denn der Reiseplan sah vor, mit dem nächsten Flieger nach Santiago de Chile, von dort nach Puerto Montt und von da weiter nach Punta Arenas zu fliegen. Alles Flüge in unterschiedlichen kleinen Passagiermaschinen, die nicht länger als zwei Stunden fliegen würden. Also insgesamt fünf bis sechs Stunden Flugzeit, wobei es ungewiss war, wie lange die Wartezeiten ausfallen würden. Ihr nächster Flug startete in acht Stunden, und so lange mussten sie jetzt erst mal die Zeit totschlagen. Die anderen beschlossen, sich in den Geschäften und Restaurants des Flughafens die Wartezeit zu verkürzen. Thomas konnte sich jetzt keinen Ladenbummel vorstellen, er brauchte einfach nur ein Bett und buchte sich im angrenzenden Hotel ein, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf in ausgestrecktem Zustand nachholen zu können.

      Distanz 136

      In Santiago verließen sie den Flughafen auch nicht, da der Anschlussflug nach Puerto Montt nur zwei Stunden später starten würde. Sie setzten sich in eines der Flughafenrestaurants, um nach der ganzen InstantFlugzeugverköstigung wieder etwas frisch Zubereitetes zu essen. Chile erstreckte sich fast die gesamte Westküste Südamerikas bis nach Feuerland und wurde nie breiter als zweihundertvierzig Kilometer. Achtzig Prozent des Landes thronten auf der südamerikanischen Gebirgskette. Santiago lag in einem Tal, und da es sich in etwa auf der gleichen geografischen Höhe wie Buenos Aires befand, war es auch hier sehr warm. Annika konnte leider nur aus einem der Flughafenfenster die wunderschöne Aussicht auf das Gebirge genießen, welches sich wie ein Schutzwall vor dem Flughafen auftürmte. Wie gerne hätte sie hier ein paar Tage verbracht, um in den Anden wandern zu gehen.

       Dr. Chakalakel erzählte ihnen beim Essen im Restaurant von diversen anderen Expeditionen, die er bereits unternommen hatte. Meistens gingen die Reisen ins benachbarte Himalajagebirge, aber auch Afrika und Sibirien hatte er besucht. Nie aber Amerika. Das war seit achtzehn Jahren überhaupt seine erste Reise so nah an den USA vorbei. Er war sich sicher, dass es dort noch Personen gab, die ihm nach dem Leben trachteten.

       Letztendlich war ihr gemeinsames Gesprächsthema wieder bei Blizzard und der DDCKooperation gelandet.

       „Welche Interessen stecken hinter Blizzard oder der DDC?“, fragte Annika. „Sind es wirtschaftliche, wissenschaftliche, oder wollen die einfach nur einen Dokumentarfilm drehen?“ Die letzte Frage richtete sie an ihren Vater. Da sie weiterhin englisch sprach, fühlte sich Dr. Chakalakel angesprochen, der dann auch antwortete.

       „Ich glaube, von allem etwas. Ein rumänischer Kollege, mit dem ich in Afrika auf einer Tour zum Kilimandscharo war, wird auch mit dabei sein. Dr. Octavian Goga ist ein erfolgreicher und seriöser Biologe.“

       „Unsere dokumentarische Arbeit soll in erster Linie nur die Forschungsarbeit visuell festhalten. Ob dann daraus ein Dokumentarfilm für die breite Öffentlichkeit wird, wurde noch nicht angesprochen“, fuhr Thomas an Tangatjens Stelle fort. „Das wird wohl davon abhängen, was wir finden.“

       Annika glaubte, in Jenays Stimme Vorfreude und Unbehagen gleichermaßen zu hören.

      Distanz 135

      Noch zwei kurze Flüge trennten sie von Punta Arenas und der Übernachtung in einem Hotelbett. In Puerto Montt herrschte schon ein kühleres Klima, denn es lag viel weiter südlich in Chile. Am Flughafen merkten sie deutlich den Unterschied und passten sich mit dickerer Kleidung den niedrigen Temperaturen an. Auch das Wetter war viel stürmischer, und Regenmassen trommelten gegen die Flughafenfenster. Ihr Weiterflug wurde für den heutigen Tag gestrichen, und da nur einmal