Alexander Stania

Icecore


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treffen sollten. Der Taxifahrer verharrte kurz in Gedanken, beschleunigte dann gemütlich sein Fahrzeug und fuhr die Straße hinunter am Flughafen und den Hangars vorbei. Der Flughafen befand sich einige Kilometer außerhalb von Punta Arenas, sodass in der näheren Umgebung wenig Häuser standen. Wäre das Wetter nicht so stürmisch und der Himmel mit grauen dicken Wolken verhangen gewesen, hätten sie einen schönen Ausblick auf die Ausläufer der Anden gehabt.

       Der Taxifahrer steuerte sie die stark abgenutzte Straße hinunter. Am kompletten Flughafen vorbei. Am Ende der Straße wendete er und fuhr die Straße wieder hoch, bis er genau auf der Höhe des Flughafenterminals war und dort hielt. Dann gab er seinen Fahrgästen mit einem Geräusch zu verstehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. „So eine Abzocke!“ Thomas zahlte und lud die Koffer aus.

       Das Hotel sah etwas verwahrlost aus und schief. Auch die vielen Balkone waren in sich schief. Die Geländer waren aus Holz, das mal weiß gestrichen, aber jetzt völlig abgenutzt war, wie auch die Fensterrahmen und die Türen. Der Rest der Fassade war orange, aber auch dieser Anstrich war von etlichen Farbabsplitterungen übersät. Würden nicht überall auf den Balkonen Pflanzen und Blumen wachsen und an einigen Fenstern Gardinen hängen, wäre es sicherlich schon zum Abriss freigegeben worden. Das war nun ihr Hotel für die nächsten drei Übernachtungen! In großen Buchstaben in Neonröhrenleuchtschrift stand der Name an der Fassade: Hotel Paradise. Die in einem Zug geschwungene Röhre leuchtete momentan nicht, aber es war auch noch nicht dunkel. An diesem fernen Ort und auf dieser Seite der Erdkugel wurde es erst sehr spät richtig finster. Doch der eine der vier Leuchtsterne unter dem Schriftzug blinkte unrhythmisch vor sich hin. Ein Wackelkontakt sicherlich ? oder alle anderen Lampen waren schon kaputt.

       Annika wollte bei diesem stürmischen Wetter keinen weiteren Gedanken an die Außenfassade verschwenden. So beeilte sie sich, den anderen durch das schiefe Eingangstor zu folgen.

       Distanz 131

      Von innen schien das Hotel nicht ganz so heruntergekommen sein. Durch sein wild zusammengestelltes Mobiliar wirkte es sogar irgendwie gemütlich. Der Boden war mit verschiedensten Teppichen ausgelegt, deren einzige Gemeinsamkeit darin lag, abgenutzt zu sein. Die halbkreisförmige Kiefernholztheke der Rezeption passte nicht zu den mit Leinen überzogenen Sesseln, die in der anderen Hälfte des Eingangsbereichs eine kreisförmige Sitzecke bildeten. Auf diesen Sesseln machten es sich vier Russen bequem. Das konnte Annika am Ton hören, obwohl sie deren Sprache nicht verstand. Drei Männer und eine Frau. Als Jenay und Annika zur Rezeption schritten, wo Dr. Chakalakel und Thomas sich mit dem Concierge unterhielten, würdigten die vier Russen die Neuankömmlinge nur mit einem kurzen Blick, ohne ihr Gespräch wirklich zu unterbrechen. Annika wollte mit ihrem Vater eigentlich über den Taxifahrer reden, wurde aber dann von dem Anblick dieser vier zwielichtigen Personen abgelenkt. Wieso hatte sie gleich ein Unbehagen im Magen, wenn sie vier Russen sah? Sie schob es auf die vielen Kinofilme mit ihren Klischees über kleine Ansammlungen ausländisch sprechender, düster wirkender Menschen. Annika musste sich eingestehen, dass sie in diesem Punkt sehr viele Vorurteile hatte. Wirklich unheimlich sahen sie bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht aus. Wäre da nicht dieser harte russische Akzent, hätte Annika sie vielleicht in ihren dicken gestrickten Rollkragenpullis für Norweger oder Schweden gehalten. Alle vier waren hochgewachsene Menschen, und die eine blondhaarige Frau mit dem kurzen lockigen Haar überragte sogar zwei der Männer. Sie wirkte für eine große Frau sehr robust gebaut, nicht wie die dünnen Models auf den Laufstegen. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und die Russin lächelte sie an. Verschämt blickte Annika zur Seite, aber aus den Augenwinkeln sah sie, wie die große Frau aufstand, sich von ihren Gesprächspartnern entfernte und direkt auf sie zuschritt. Annikas Unbehagen wuchs mit jedem Schritt, den die Russin auf sie zukam. Sie hoffte, dass diese Frau nur zufällig in ihre Richtung steuerte und vielleicht zur Rezeption wollte. Annika wollte schon Jenay in ein Gespräch verwickeln, aber es war bereits zu spät.

       „Hey, gehört ihr auch zum SeegerTeam?“, sprach die Russin sie in akzentfreiem Englisch an. Annika war verwundert, dass sie so deutlich englisch sprach, und vergaß fast, höflich zu antworten.

       „Nein, wir sind nur auf der Durchreise“, lautete Annikas zaghafte Antwort.

       „Doch, doch, wir gehören dazu“, warf Dr. Chakalakel hektisch dazwischen.

       Was für ein SeegerTeam? Wir sind doch wegen der DDC oder Blizzard hier, fragte sich Annika. Auch Jenay wirkte verwirrt. Thomas hingegen hatte einen sonderbar erwartungsvollen Blick.

       Natürlich, Seeger war der ermordete Geschäftsführer dieses Bergbauunternehmens. Und diese Expedition trug seinen Namen. Annika lächelte der Russin mit einem bejahenden Nicken zu.

       „Dann müsst ihr die Teammitglieder aus Deutschland und Indien sein. Mein Name ist Mascha Karbonov, Helikopterpilotin und Empfangsdame.“ Die letzten zwei Worte sprach sie in einem leicht akzentuierten Deutsch. Annika war beeindruckt von der Sprachvielfalt der großen Frau, der sie vor wenigen Sekunden noch ungern in einer dunklen Gasse begegnet wäre. Doch nun machte sie einen recht sympathischen Eindruck, und nebenbei zeigte sie Humor.

       „Wann werden wir Herrn Müller treffen?“, drängte der kleine Inder sich wieder neugierig von der Seite an die Russin.

       „Herrn Müller?“, fragte Marscha mit einem Grinsen. „Da ihr die Letzten seid, auf die wir noch warten mussten, wird es sicherlich bald losgehen. Ich denke, morgen wird es ein KickoffMeeting im Speisesaal geben. Herrn Müller werden Sie dann sicherlich auch noch sehen. Machen Sie sich doch erst mal alle auf Ihren Zimmern frisch! Wer dann noch Lust hat, kann mir und meinen Kollegen an der Hotelbar Gesellschaft leisten“, sagte Marscha lächelnd.

       „Von 18.00 bis 20.00 Uhr gibt es im Speisesaal Abendessen!“, ließ der Concierge im gebrochenen Englisch hinter der Rezeptionstheke verlauten.

       „Und wenn du noch ein paar warme Klamotten brauchst, sollten wir unbedingt morgen shoppen gehen.“ Marscha zwinkerte Annika zu, drehte sich um und ging zu ihren Kollegen in die Sitzecke.

       Annika wunderte sich etwas über die extreme Freundlichkeit. Besonders über die ShoppingEinladung.

       Sie ließen sich ihre Zimmerschlüssel geben und machten sich auf zum zweiten Stock dieses Gebäudes. Da das Haus über keinen Aufzug verfügte, war Treppensteigen die einzige Möglichkeit. Das Treppenhaus war sehr breit und führte am Ende der Empfangshalle direkt zum ersten Stock. Dort endete diese Treppe, und eine Galerie bildete den Flur zu den Zimmern des ersten Stocks. In zwei der Ecken entdeckten sie weitere Treppen, die nach oben führten. Auch diesmal half ihnen niemand, ihr Gepäck zu tragen, und so polterten sie mit ihren Koffern und Taschen über die bereits verschrammten Treppenstufen. Auf dem Weg nach oben blieben ihre Blicke an diversen Bildern hängen, die das Treppenhaus und die Flure schmückten. Die Motive zeigten Landschaften von Chile, Hügel und Täler, in denen Wein wuchs.

       Sie erreichten ihre Zimmer. In diesem Stockwerk pfiff der Wind viel stärker durch die schiefen Gänge. Jenays Zimmer befand sich gleich rechts von Annikas, das ihres Vaters auf der linken Seite. Allein Dr. Chakalakel musste bis ans Ende des Flurs laufen, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Sie verabredeten sich um sieben zum Abendessen im Speisesaal.

       Dann ging jeder in sein Zimmer.

      Distanz 130

      Die anderen waren schon längst in ihren Zimmern, als Tangatjen seinen Schlüssel in das zerkratzte Türschloss steckte. Alles hier war ziemlich heruntergekommen. Tangatjen machte sich keine Hoffnung, dass es hinter der Zimmertür besser aussah. Gerade als er in sein Zimmer gehen wollte, bemerkte er, dass eine etwa gleich große Gestalt von der Seite auf ihn zutrat. Etwas erschrocken drehte er sich um.

       „Hallo Tangatjen, alter Freund! Wie geht es dir?“, erklang die Stimme der unbekannten Gestalt. Mit dem Klang der Stimme konnte er auch das rundliche, mit kleinen Fältchen übersäte Gesicht mit der knubbeligen Nase sofort einordnen. Es war sein rumänischer Freund Octavian Goga, mit dem er vor neun Jahren um den Kilimandscharo gewandert war.

       „Schön, dich wiederzusehen, Octavian. Seit wann bist du denn schon da?“

       „Ich bin bereits seit zwei Tagen hier. Du bist der erste wissenschaftliche Kollege, der eingetroffen ist. Jedenfalls der erste ernst zu nehmende“,