Alexander Stania

Icecore


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beim Bohren in etwa eintausendsechshundert Metern Tiefe auf etwas, das ihren Bohrkopf völlig zerstörte. Als sie ihn näher untersuchten, stellten sie fest, dass er sich nicht nur deformiert hatte, sondern mit einer unbekannten metallischen Legierung verschmolzen war. Mithilfe der Atomspektroskopie versuchten sie, die genaue elementare Zusammensetzung des fremden Materials zu bestimmen. Dies scheiterte daran, dass sich die Legierung nicht in einen gasförmigen Zustand überführen ließ. Für dieses Verfahren war das nötig, aber das unbekannte Material ließ sich einfach nicht verdampfen. Für die meisten stand fest, dass es nicht von der Erde stammen konnte. Wilde Spekulationen machten die Runde, ScienceFictionKlassiker wurden zitiert. Es war, als hätten sie den „Goldenen Gral“ der Antarktis gefunden.

       Aber so aufregend wurde es dann doch nicht. Zumindest nicht für Tangatjen Chakalakel, der wieder zurück nach Indien musste. Hector versprach ihm aber, ihn wegen des Fundes auf dem Laufenden zu halten. Tangatjen hörte jedoch nie wieder etwas von ihm. Natürlich versuchte er, Näheres über seinen norwegischen Freund herauszufinden. Er stolperte, ähnlich wie Thomas seinerzeit in den USA, über Geheimniskrämerei und Lügen, bis er mit Sicherheit sagen konnte, dass alle norwegischen Kollegen tot waren. All dies hatte er über Recherchen von Indien aus herausgefunden. Durch seine Fragen über den außergewöhnlichen Fund unter dem Eis wurden Personen auf ihn aufmerksam, die auch ihm nach dem Leben trachteten. Wäre da nicht eine Organisation aus dem Schatten getreten, die sich „Blizzard“ nannte, wäre er wahrscheinlich schon lange tot. Hinter Blizzard steckte ein deutscher Konzern. Diese Information konnte er mit der Zeit herausfinden. Wer und wieso sie ihn rechtzeitig gewarnt hatten, erfuhr er erst vor vierzehn Tagen. Kurze Zeit danach rief er Thomas an.

      Distanz 143

      Dr. Tangatjen Chakalakel machte eine Pause und schaute erwartungsvoll in die Runde. Annika sah ihren Vater mit leicht offen stehendem Mund an. Thomas nickte bestätigend.

       „Wie ich es dir damals erzählt habe.“

       „Was hat Ihre Frau beruflich gemacht?“, fragte ihn Dr. Chakalakel. „Sie war Genetikerin, kurz vor ihrem Diplom“, antwortete Thomas mit starrem Blick, der verriet, dass er gedanklich schon woanders war.

       „Dann müssen sie etwas Biologisches entdeckt haben. Wieso sollten sie damals sonst eine Genetikerin mitgenommen haben?“, warf Jenay ein.

       Das ging Annika zu weit.

       „Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass dort ein Ufo gefunden wurde? Sozusagen ein Roswell der Antarktis?“ Annika hatte Probleme, an solche Dinge zu glauben, da für sie Außerirdische nur in Büchern und Filmen vorkamen. Das war irgendwie falsch.

       „Was ist Roswell?“, fragte Dr. Chakalakel.

       „Das soll eine UfoAbsturzstelle gewesen sein. Area 51 ist doch sehr bekannt …“, versuchte Jenay dem Doktor zu erklären, doch der schüttelte nur den Kopf. Annika fühlte eine innere Unruhe aufkommen, angeblich hatte sie diese Ungeduld von ihrer Mutter geerbt.

       „Jetzt erzählen Sie doch mal von der Antarktisexpedition! Der bevorstehenden!“, fügte Annika noch schnell hinzu, damit der Doktor nicht wieder in die Vergangenheit abrutschte.

       Tangatjen Chakalakel faltete seine Hände wie zum Gebet und lehnte sich seinen Zuhörern entgegen:

       „Wie ich erwähnte, hat sich die Organisation Blizzard nach Jahren wieder bei mir gemeldet. Sie sind es, die alles finanzieren und organisieren. Seit Jahren beobachten sie einen speziellen Fleck in der Antarktis. Es ist der Ort, an dem ich damals meine Eiskernbohrungen gemacht habe. Seitdem die Amerikaner die Norweger vertrieben haben, besetzen sie diesen speziellen Ort mit einer amerikanischen Forschungsstation. Nur damit kein anderer auf die Idee kommen könnte, dort Bohrungen vorzunehmen. Nach Regierungswechseln und großen Haushaltslöchern in den USA musste der Betrieb dieser Station dann letztendlich eingestellt werden.“

       „Antarktisstationen können sehr viel Geld verschlingen. Besonders wenn sie über so lange Zeit ständig erneuert werden müssen“, fügte Thomas ein. Dr. Chakalakel fuhr fort:

       „Als die Amerikaner endlich abgezogen sind, startete die BlizzardExpedition zu diesem fernen Ort, um heimlich Bohrungen durchzuführen.“ Dr. Chakalakel machte eine Pause, die Annika nutzte, um ihm gezielt Fragen zu stellen.

       „Wer steht überhaupt hinter Blizzard? Kennen Sie Namen? Und wieso sind die sich so sicher, dass dort noch etwas zu entdecken ist?“ Thomas schaute seine Tochter so verwundert an, als hätte er sich diese Frage nie gestellt.

       „Vielleicht haben die Amerikaner schon alles ausgegraben und sind deshalb weg“, führte sie ihre Bedenken genauer aus.

       Dr. Chakalakel schmunzelte.

       „Es ist noch da. Das bestätigte mir Herr Müller. Das ist der Mann, der mich übrigens anrief und zur Expedition einlud. Er sagte mir, sie haben bereits mehrere Testbohrungen in Umkreis von fünfhundert Metern gemacht und sind immer auf das gleiche Ergebnis wie ich vor vierundzwanzig Jahren gekommen: mit einer unbekannten Legierung verschmolzene Bohrköpfe. Das bedeutet, dass es mindestens einen Durchmesser von einem Kilometer hat. So etwas können auch die Amerikaner nicht abtransportieren. Besonders, wenn es unter einer Meile Eis liegt.“ Er spülte seine Worte mit einem großen Schluck Wasser hinunter.

       „Aber wieso fahren sie wieder dorthin? Um noch mehr Bohrungen zu machen? Was erwarten die sich davon? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber als Wissenschaftslaie wundere ich mich einfach, dass diese Organisation noch mal dorthin fährt, um weitere Eiskernbohrungen zu machen. Ergibt das Sinn?“ Bei ihren letzten Worten wandte sie den Blick zu ihrem Vater.

       „Sie werden dort bohren, um runterzugehen“, antwortete Thomas trocken.

       Annika fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Die Expedition, die in ihrem Kopf eine kleine Antarktisreise von Verschwörungs¬anhängern war, wuchs schlagartig zu einem Großprojekt an. Was war nötig, um in eine Tiefe von eintausendsechshundert Meter unter das Eis zu gelangen? Auf jeden Fall größere Maschinen. Diese mussten auf einen Gletscher in dreitausend Metern Höhe gebracht werden. Noch einmal fragte sie Dr. Chakalakel, wer genau hinter Blizzard steckte.

       „Also, ich weiß nur so viel: Ein deutsches Bergbauunternehmen wurde seinerzeit vom amerikanischen Militär beauftragt, eine Tunnelbohrmaschine zu entwickeln, mit der man sehr tief in antarktische Gletscher bohren kann“, antwortete Dr. Chakalakel. „Seeger Bergbau war die Firma, die das richtige Knowhow hatte. Sie haben sich schon 1988 mit Bohrungen auf dem Mars befasst. Jedenfalls hatten sie damals sehr fortschrittliche Technologien entwickelt, sind aber nach dem Auftrag für die Amerikaner schnell bankrottgegangen. Damals gab es diesen Bergbauskandal, für den Seeger Bergbau verantwortlich gemacht wurde, und das gab ihnen den Rest.“

       „Was ist denn da passiert?“, fragte Annika. Dr. Chakalakel musste überlegen, aber Thomas übernahm die Erklärung:

       „Ende 1994 gab es im Ruhrgebiet ein Bergbauunglück in einem Tunnel, in dem die neuesten Maschinen von Seeger Bergbau eingesetzt wurden. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, fehlerhafte Maschinen eingesetzt zu haben. Ein paar Menschen sind gestorben, und dann war der Ruf des Unternehmens zerstört. Nach meiner Internetrecherche hatten viele amerikanische Investoren ihre Finger im Spiel, bis hin zu einer Person Namens Major Hidge vom amerikanischen Militär.“ Thomas hatte wieder diesen verschwörerischen Blick, mit dem er leidenschaftlich über die wildesten Theorien sprach.

       „Der Firmenchef Dr. Seeger und seine Familie kamen kurze Zeit später bei einem Autounfall ums Leben. Als ich das alles entdeckte, wurde mir klar, dass hier mutmaßlich Menschen aus dem Weg geräumt wurden, um etwas sehr Wichtiges geheim zu halten!“

       Annika bereute ihre Frage mittlerweile, denn sie konnte diese Verschwörungsgeschichten nicht mehr hören. Nach Thomas’ Wahrheitssuchaktion in Amerika hatte er die dort gesammelten Informationen zu einer riesigen Verschwörungskonstruktion zusammengesetzt. Über mehrere Jahre hatte er nicht aufgehört, davon zu sprechen. Bis sie ihm eines Tages deutlich die Meinung gesagt hatte. Dann war lange Zeit Ruhe gewesen ? bis jetzt. Und dementsprechend stellte sie ihre Frage recht schroff: „Was hat das denn jetzt alles wieder mit dieser Expedition zu tun? Ich will doch nur einfach wissen, wer das Ganze macht.“ Thomas war es sichtlich unangenehm, dass seine Tochter vor seinen Gästen so aus dem Häuschen geriet. Annika empfand