Alexander Stania

Icecore


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Constructions, übernahm die Restbestände des zerstörten SeegerKonzerns. Deren Geschäftsführer ist Alexander Müller der Mann, der mich anrief. Am zehnten Januar starten sie von Punta Arenas in Chile. Das liegt am südlichsten Ende von Südamerika. Anfang des Jahres ist in der Antarktis Sommer, und es ist durchgehend hell, also perfekt für einen Ausflug jenseits des transantarktischen Gebirges im Wilkesland. Und wir dürfen mit.“

       Annika war sprachlos, dass es der Inder endlich auf den Punkt gebracht hatte. „Und diesen Leuten können wir vertrauen?“, hakte sie noch nach.

       „Das sind nicht irgendwelche Fanatiker, da kommen auch noch seriöse Wissenschaftler mit. Natürlich ist es keine offizielle Expedition. Wir wollen auch nicht die Aufmerksamkeit der Amerikaner erregen“, antwortete Thomas, als gehöre er schon zu Blizzard. Jenay beugte sich etwas näher zu Annika hin und blickte sie ebenfalls verschwörerisch an:

       „Da kommen nur Profis mit. Sonst wäre ich auch nicht mitgekommen.“

       Jetzt verstand sie, dass alle drei Anhänger der Verschwörungstheorie waren. Und dann waren da noch diese angeblich seriösen Wissenschaftler, die mithilfe einer geheimen Organisation fanatischen Zielen nachjagten. Und das alles finanziert von einem Bergbauunternehmen? Konnte es sich ein Unternehmen leisten, fanatisch zu sein? Wohl kaum. Sicherlich standen finanzielle Gründe dahinter. Der Dokumentarfilm konnte ein Grund sein und der Fund eines außerirdischen Artefakts ein weiterer.. Aber wie weit würden sie sich dabei in legalen Grenzen bewegen? Annika musste mit Grauen an die Zeit zurückdenken, als ihr Vater in der Gewalt der amerikanischen Behörden war. Unter keinen Umständen wollte sie Gesetze brechen.

       Und sie wollte auch nicht, dass ihr Vater es tat.

      Distanz 142

      Es war eine typische Warteschlange für Fluggäste, die ihr Gepäck am Münchner Flughafen abgaben. Genau in der Mitte davon befanden sich Thomas, Jenay und Dr. Chakalakel. Thomas schaute wieder auf die Uhr. Obwohl der Flieger erst in einer Stunde starten würde, wollte er mit allen zusammen einchecken, damit sie auch Sitzplätze nebeneinander bekamen.

       Hatte es sich Annika doch noch anders überlegt? Im Laufe der vergangenen Woche hatte sie sehr unentschlossen gewirkt. Vielleicht war es von Thomas keine gute Idee gewesen, sie auf diese Expedition mitnehmen zu wollen. Aber sie hatten schon seit geraumer Zeit nichts mehr miteinander unternommen, und er befürchtete, sie könnten sich entfremden. Er könnte es nicht ertragen, noch ein Familienmitglied zu verlieren.

       Thomas bemerkte in Jenays Gesicht ein breites Lächeln, und seinem Blick folgend sah er am anderen Ende des Terminals Annika auf sie zu marschieren. Annika winkte den drei Expeditionsteilnehmern zu und machte keine Anstalten, mit ihrem Trolly im Schlepptau am Ende der Schlange stehen zu bleiben. Sie hob unbekümmert das schwarzweiße Abgrenzungsband hoch und schlüpfte geschmeidig in die ZickzackSchlange zu den anderen. Dass sie ein paar Passagiere verstimmt ansahen, kümmerte sie überhaupt nicht.

       Jenay war sehr angetan von ihrem Auftreten. Sie bewegte sich sehr selbstbewusst in ihrem lässigen Outfit auf sie zu. Sie trug schwarze halblange Lederstiefel, Blue Jeans, eine schwarze gefütterte Lederjacke und eine Kappe mit Fellbezug. Jenay war froh, dass er seine Kordhose gegen ein paar Jeans eingetauscht hatte. Im Heimatdorf seiner Eltern hatte er die meiste Zeit des Jahres ein buntes Hemd und ein Stofftuch um die Hüften getragen. Aber hier versuchte er, sich dem Trend der Europäer besser anzupassen.

       „Schön, dass du doch noch gekommen bist! Ich hoffe für dich, dass du ein paar wärmere Sachen dabei hast“, sagte Thomas etwas spitz.

       „Na klar, bin bestens gerüstet. Du aber auch, wie ich sehe.“ Dabei deutete sie auf den Gepäckwagen hinter Thomas, auf dem sich neben den Koffern von Jenay und Dr. Chakalakel auch noch zwei Metallkoffer, drei schwarze große Kamerataschen und ein normaler SamsoniteKoffer stapelten. Die Kamerataschen konnte sie noch verstehen, schließlich hatte ihr Vater die Aufgabe, eine Dokumentation zu drehen. Aber was war in den Metallkoffern?

       „Zwei HDCamcorder, zwei Digitalspiegelreflexkameras, zwei Laptops, jede Menge Akkus, Kabel, Objektive und ein nicht ganz leichter Solarstromgenerator. In der Antarktis gibt es nämlich keine Steckdosen. Außerdem müssen wir alles doppelt haben. Sollte ein Gerät versagen, ist die Dokumentation gestorben“, antwortete Thomas.

       „Solange ich als deine Assistentin nicht alles schleppen muss …“, kommentierte Annika die belehrenden Worte ihres Vaters.

       „Und habt ihr auch genug warme Sachen dabei?“, wandte sie sich von ihrem Vater an die zwei Inder und wiederholte für Dr. Chakalakel ihren Satz auf Englisch.

       „Noch nicht alles“, antwortete Tangatjen.

       „In Punta Arenas werden wir die nötige Kleidung für die Antarktis kaufen. Dort ist es billiger, und wir müssen nicht so viel mitschleppen.“

       Dr. Chakalakel hatte sie in den letzten Tagen mehrmals darüber informiert, wie ihre Reiseroute sein würde, aber Annika konnte sich nur merken, dass sie irgendwann von Chile aus zur Antarktis reisen würden. Aber wie lange würden sie brauchen? Der Doktor wollte sich da irgendwie nicht richtig festlegen, zu viel würde wohl vom Wetter abhängen. Das Ganze würde aber höchstwahrscheinlich nicht länger als eine Woche dauern. Jenay erklärte ihr gern noch mal den Reiseplan.

       „Von München nach Frankfurt dauert es nur fünfzig Minuten, wir können sogar in der Maschine bleiben, aber dann geht es über den Atlantik. Dreizehn bis vierzehn Stunden Flugdauer von Frankfurt nach Buenos Aires. Aber an Bord des Airbus 380 gibt es ein Bordrestaurant. Schon mal mit einem Airbus 380 geflogen?“, fragte Jenay nach.

       „Das sind diese zweistöckigen Riesen, oder?“ Jenay nickte auf Annikas Frage zwei Mal.

       „Nein, bin ich noch nicht, aber so lange bin ich schon geflogen. Ich mag das gar nicht. Aber vielleicht kann man sich in dem fliegenden Schiff ganz gut die Füße vertreten“, scherzte Annika. Jenay lächelte sie breit an, aber Annika war unsicher, ob er den Scherz verstanden hatte.

       „Geht es in Buenos Aires gleich weiter, oder können wir dort eine Pause machen?“

       „Ein paar Stunden werden wir dort auf unseren Anschlussflug warten müssen, aber dann geht es weiter nach Santiago de Chile, Flugzeit eine Stunde und fünfunddreißig Minuten, und von Santiago de Chile nach Puerto Montt in knapp zwei Stunden. Dort machen wir dann einen Tag oder mehr Pause.“ Die letzten Worte sprach er ganz schnell aus, als er sah, wie Annikas Augen immer größer wurden.

      Distanz 141

      In Frankfurt ließ Jenay Annika am Fenster sitzen. Er hatte bereits das Vergnügen, acht Stunden an einem Flugzeugfenster zu sitzen, als sie von Indien nach Deutschland gekommen waren. Er fragte sich, ob es nicht kürzer gewesen wäre, in die andere Richtung um die Erde zu fliegen oder über Australien und Neuseeland gleich zur Antarktis. Dr. Chakalakel hatte die Route geplant, und der musste sich natürlich an die DDCCompany halten, die ihren Startpunkt in Chile hatte. Sie saßen alle vier in einer Reihe sehr weit vorne im Airbus, aber nicht in der ersten Klasse. Diesen Luxus erlaubte ihnen DDC nicht. Dann beschleunigte der Airbus 380 auf der Startbahn und erhob sich zu seiner dreizehnstündigen Flugreise in den Himmel Richtung Buenos Aires.

      Distanz 140

      Das Restaurant war den ganzen Flug immer voll besetzt, und so verbrachten die vier Reisegefährten die meiste Zeit des Fluges in ihren Sitzen, um dort zu essen, zu schlafen oder laut zu lachen. So kam es jedenfalls Thomas vor, denn Annika und Jenay alberten viel neben ihm herum. Einerseits hinderte es ihn daran, den Flug zu verschlafen, andererseits freute er sich darüber, seine Tochter herzhaft lachen zu sehen. In seiner Gegenwart war sie meistens sehr ernst. Wer konnte es einer Tochter verdenken, die ihren Vater aus dem Gefängnis holen musste? Wieder begann Thomas, sich in seinen Gedankengängen zu verteidigen. Er hatte damals in den USA kein wirkliches Verbrechen verübt. Nur Nachforschungen über seine Frau angestellt. Die Ausrede der amerikanischen Regierung, sie sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, war nach nur wenigen Recherchen unglaubhaft geworden. Sie hatten sich geschworen, jeden Tag miteinander zu telefonieren, bevor sie zu Bioniko in den USA ging. Er machte sich wieder Vorwürfe, weil er sie darin bestärkt hatte, diese Gelegenheit zu nutzen. Es sollten nur vier Monate sein. Vier Monate Auslandserfahrung,