Alexander Stania

Icecore


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obwohl sie während des Atlantikflugs geschlafen hatte.

       Sie checkten in das dem Flughafen nächstgelegene Hotel ein. Es war zwar nicht so komfortabel wie das, in dem Thomas zuletzt untergebracht gewesen war, aber es sah sauber und gepflegt aus. Jeder von ihnen nahm sich ein Einzelzimmer. Tangatjen war der Einzige, der auch auf seinem Zimmer blieb und sich gleich schlafen legte. Die anderen drei verabredeten sie noch zu einem Gutenachttrunk an der Hotelbar.

       Annika fand es sehr schade, dass sie ihre Reise an so vielen interessanten Orten vorbeiführte, ohne dass Zeit war, sich diese anzusehen. Außerdem störte sie das Benehmen ihres Vaters, der ewig nicht ins Bett ging und sich mit Jenay zunehmend dem chilenischen Wein hingab. Sie redeten natürlich nur über das Thema „Antarktis“ und die geheimnisumwobene BlizzardOrganisation. Wieso konnten sie nicht mal über etwas anderes sprechen? Morgen würden sie sowieso alle schlauer sein. Annika warf endgültig das Handtuch und begab sich auf ihr Zimmer.

       An der Bar hörte Jenay ab einer gewissen Zeit nur noch zu, und der sonst ruhige Thomas redete in einer Tour über seine Entdeckungen in Amerika und die seiner Meinung nach größte Vertuschungsaktion in der Geschichte. Jenay hatte seine eigene Theorie. Vielleicht war es Teil einer sehr alten, hochtechni¬sierten Zivilisation, die zur Zeit des Superkontinents Gondwana existierte. Was auch immer dort lag und für die Amerikaner zu groß war, um es an die Oberfläche zu schaffen, es musste sich um ein außergewöhnliches Geheimnis handeln. Für Jenay war es ein Muss, dabei zu sein, wenn man diesem Geheimnis auf den Grund ging.

       Irgendwann bemerkte er, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing und Thomas nicht mehr zuhörte. Nach einer Stunde und zwei weiteren Gläsern chilenischen Weins gestanden sie es sich ein und torkelten auf ihre Zimmer.

      Distanz 134

      So gegen zehn Uhr trafen sich Annika und Dr. Chakalakel im Frühstücksraum des Hotels. Sie hatten sich auch schon ihr Frühstück am Buffet zusammengestellt, als sich Jenay zu ihnen gesellte. Annika merkte ihm an, dass es wohl gestern etwas später und feuchtfröhlich geworden war. Sie konnte es allerdings nur an seinen leicht unmotorischen Bewegungen und seinen Augen erkennen, die glasig wirkten. Doch seine dunkle Hautfarbe kaschierte den angeschlagenen Eindruck, sodass sie den Grad der Verkaterung nicht einschätzen konnte. Thomas’ Auftritt hingegen war eindeutig. Er war kreidebleich und fühlte sich auch so, wie er aussah. „Ich kann mich erinnern, dass ich früher wesentlich mehr vertragen habe“, brummte er, nachdem er sich zu seinen Begleitern gesetzt hatte.

       Annika brauchte keinen Kater. Durch die unterschiedlichen Zeit und Klimazonen war ihr leicht schlecht, und Kopfschmerzen hatte sie auch.

       Um 15.45 Uhr startete dann die Herkules, eine viermotorige, riesige ehemalige Frachtmaschine der chilenischen Luftwaffe, deren Frachtraum nachträglich mit Sitzplätzen für Zivilpassagiere bestückt worden war. Annika und ihre Freunde saßen alle in einer Reihe. Hinter ihnen saßen noch fünf weitere Fluggäste. Die restlichen Plätze waren hochgeklappt, und in den Reihen waren jede Menge Postsäcke festgebunden. Ganz am Ende, kurz vor der Heckladerampe, stand ein festgeschnallter Jeep. Das war bisher der abenteuerlichste Flug. Jedes Gefühl, in einem Urlaubsflieger zu sitzen, war nun endgültig erloschen. Das Wetter hatte sich im Vergleich zu gestern stark verbessert, aber in dieser Propellermaschine merkten sie noch einige heftige Turbulenzen.

       Annika war froh, dass man ihnen bei diesem Flug nichts zu essen servierte. Sie umklammerte Jenays Hand und lächelte ihn gequält an. Sein Gesichtsausdruck wirkte ebenso verzerrt wie ihrer. Thomas hielt die Augen geschlossen, schlief aber nicht, und Tangatjen sagte nicht wirklich überzeugend: „Das sind Militärmaschinen. Die halten noch viel mehr aus.“

       Als sie sich im Landeanflug auf Punta Arenas befanden und die Herkules in eine tiefere Luftschicht stieß, wurden sie von den heftigsten Windstößen erlöst. Schließlich setzte die Herkules auf dem kleinen Flughafengelände von Punta Arenas auf.

      Distanz 133

      Freundlicherweise hatte das chilenische Flughafenpersonal Gepäckwagen zur Herkules gebracht. Sie schnappten sich zwei und beluden sie mit ihren Koffern, dann ging es zu Fuß quer über das Rollfeld zum Hauptgebäude des Flughafens. Ein eiskalter Wind peitschte über die großflächige Flugplatzebene. Das Wetter war hier noch mal deutlich kälter, und der Wind verstärkte den Eindruck. Busse, die Fluggäste zu ihren Maschinen brachten, suchte man vergebens. Aber auch große Jets waren nirgends zu entdecken. Sie versuchten, im Windschatten von allerlei Transportflugzeugen zu bleiben. Tanklaster und Transporter rollten zwischen den Flugzeugen umher und behinderten sie dabei, zügig voranzukommen. Das Gelände machte nicht den Eindruck, für Touristen angelegt worden zu sein. Tangatjen Chakalakel bestätigte dies auf Annikas Frage hin. Dies war nur ein kleiner Güter und Frachtflughafen. Nach Blizzards Vorgaben sollten sie nicht zum regulären Zivilflughafen in Punta Arenas fliegen, sondern hierher. Annika hatte den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis über ihr Kinn gezogen und versuchte so, ihren Hals und ihr Gesicht vor dem Wind zu schützen. Die kurze, gefütterte Lederjacke hielt den Körper normalerweise ganz gut warm, aber dort, wo Annikas Bauch und Hüfte leicht frei lagen, griff der eiskalte Wind unbarmherzig zu. Sie schimpfte mit sich, nicht schon in Puerto Montt ihren Mantel aus dem Trolly ausgepackt zu haben. Mitten auf dem Rollfeld war es jetzt zu umständlich. Sie musste durchhalten, bis sie das Hauptgebäude mit dem kleinen Tower erreicht hatten. Doch dann wurde ihr Weg versperrt. Ein Traktor zog eine Herkules direkt vor ihnen zwischen sie und das Hauptgebäude. Ein chilenischer Flughafenarbeiter mit neongelb gestreifter Sicherheitsweste schrie gegen den Wind in einer Sprache, die keiner von ihnen verstand. Doch sie wussten instinktiv, dass er wollte, dass sie Abstand hielten. Während sie also warten mussten, drehte der Wind scheinbar extra noch mal auf. Vielleicht kam es Annika auch nur so vor. Sie ließ ihren Trolly los und versuchte, den sensiblen Anschlussbereich zwischen ihren Jeans und der Lederjacke mit beiden Armen abzudecken. Plötzlich schob jemand von hinten ihre Arme zur Seite und umschlang mit etwas Weichem ihre Hüfte. Mit einem Schulterblick konnte sie die Arme Jenay zuordnen. Als sie an sich herunter sah, erkannte sie, dass er im Begriff war, seinen weichen Wollpullover um ihre Hüften zu binden. Vor ihrem Bauchnabel machte er einen Knoten und hatte dabei von hinten seine Arme um sie geschlungen. Als sie sich dann zu ihm umdrehte, hatte er sich schon auf einen Verlegenheitsabstand gebracht. Sie lächelte ihn dankbar an, und er erwiderte ihr Lächeln verlegen. Dabei schloss er den Reißverschluss seiner Outdoorjacke. Voller Erstaunen fiel ihr auf, dass er seinen Pullover gerade noch getragen hatte.

       „Ist dir jetzt nicht kalt?“, fragte Annika.

       „Die Jacke ist dick genug. Hält sehr schön warm“, schrie er gegen den Motorenlärm der Herkules an.

       „Hey, ihr Turteltauben, der Weg ist wieder frei, es kann weitergehen“, rief Thomas ihnen schonungslos zu. Richtig blass konnte Jenay nicht werden, aber immerhin dunkelrot.

       Sie hatten die Herkules weit hinter sich gelassen, und das Flughafengebäude füllte ihr Blickfeld. Es war nicht sehr groß, vielleicht sechs Meter hoch. Darauf thronte der Tower, der eher ein flacher runder Zylinder war, mit Fenstern rundherum. Das Gebäude war wohl mal ganz dunkelrot gestrichen worden. Nach dem ersten Anstrich war hier aber seit längerer Zeit keine weitere Verbesserungsarbeit durchgeführt worden. Von der roten Farbe waren nur noch Flecken und meterlange Streifen übrig. Weiter südlich, etwas abgesetzt vom Hauptgebäude, standen mehrere halbrunde Wellblechhallen, die in ihrer Höhe das Hauptgebäude um etwa vier bis fünf Meter überragten. Es handelte sich um vier Hangars, vor denen zwei Flugzeuge standen, die aus ihrer Position gesehen die Größe einer Boeing 737 hatten. Thomas stellte erstaunt fest, dass diese Fluggeräte keine Flügel, sondern sechsblättrige Rotoren hatten. Es waren die größten Hubschrauber, die er je gesehen hatte, und wäre er nicht an die anderen gebunden, dann hätte er sich auf den Weg gemacht, sie sich genauer anzusehen. Doch der Wind trieb sie so schnell wie möglich in das Flughafenhauptgebäude.

      Distanz 132

      In dem kleinen Frachtflughafen interessierte sich niemand für die Neuankömmlinge, und da die vier ihr Gepäck bereits hatten, verließen sie das nicht mehr als zweckmäßig eingerichtete Flughafengebäude gleich wieder auf der anderen Seite. In Touristengebieten sprangen den Reisenden die Taxifahrer nur so entgegen und schlugen sich fast um die Gunst des potenziellen Kunden. Aber hier machte sich der Fahrer nicht mal die Mühe auszusteigen, um ihnen beim Gepäckeinladen