Alexander Stania

Icecore


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Seine wahre Leidenschaft neben Geologie und Archäologie lag in der Quantenphysik. Es war allerdings nur sein Hobby, aber manchmal brachte er Ansätze davon in seine Vorlesungen an der Uni mit ein. Sein Beruf hatte ihn so mancher Geheimnisse über die weltlichen Religionen beraubt. Nun fiel es ihm zunehmend schwer, an einen klassischen Gott zu glauben. Aber ein Atheist wollte er auch nicht sein, und so hatte er sich in die Welt der Atome und Quarks gestürzt. Dort hoffte er, einen Anhaltspunkt für Gott und das Leben nach dem Tod zu finden.

       Für Octavian wurde die Quantenphysik zur Religion, und er saugte alles auf, was für ihn irgendwie paranormal oder einfach unerklärlich war. So hatte ihn die Geschichte von Tangatjens Eiskernbohrungen vor achtzehn Jahren, welche ihm dieser bei einer KilimandscharoExpedition anvertraut hatte, bis heute beschäftigt. Sehr gerne wäre er diesem Geheimnis auf die Spur gekommen. Eine private Expedition in die Antarktis hätte er vielleicht mit viel Mühe und Kosten auf die Beine stellen können. Wie aber sollte er in eine Tiefe von eintausendsechshundert Metern kommen? Er hatte es eigentlich schon aufgegeben, bis ihn Tangatjen anrief und ihm anbot, mitzukommen. Natürlich hatte er zugesagt, lediglich seiner Frau hatte er das wahre Ziel nicht verraten. Sie ließ ihn sein Hobby zwar ausleben, aber in die Antarktis hätte sie ihn nicht gehen lassen. So befand er sich offiziell in Peru auf einer wissenschaftlichen Exkursion mit seinem alten Freund Tangatjen Chakalakel.

       „Die anderen Kollegen haben entweder Hausverbot bekommen, oder sie trauen sich nicht. Wie sieht es bei dir aus, hat deine Frau dich einfach so weggelassen?“, fragte Octavian mit einem lausbübischen Grinsen.

       „Ich hab noch nicht geheiratet“, antwortete Tangatjen.

       „Immer noch nicht? Du bist doch bestimmt schon fünfundfünfzig!“

       „Neunundfünfzig!“, korrigierte Tangatjen.

       „Na, dann ist es fast zu spät. Sollte nur ein Scherz sein“, schob Octavian noch schnell hinterher, da er nicht wusste, ob der Inder das als lustig empfand. Tangatjen lächelte meistens, und diese kleine Spitzfindigkeit verursachte nicht das geringste Zucken in seinen Mundwinkeln.

       „Hab es lange versucht, aber als eingefleischter Geologe sucht man meistens an der falschen Stelle. Ich habe dieses Spiel meinem Assistent Jenay überlassen, und wenn er sich nicht völlig ungeschickt anstellt, klappt es auch bald.“

       „Jenay ist der junge Geologiestudent, den du schon am Telefon erwähnt hast, oder? Hast du den Deutschen auch mitgebracht?“

       „Ja, ihn und sein hübsche Tochter.“ Dabei legte Tangatjen die Betonung auf hübsch und unterstrich dies noch mit einem Augenzwinkern.

       Octavians Lächeln wurde breiter. „Ich verstehe!“

      Distanz 129

      Ein Stockwerk direkt unter Octavian und Dr. Seeger befand sich die Suite des Hotels. Sie bestand aus einem Zimmer, das etwa doppelt so groß war wie die restlichen Räume. Sie hatte ein eigenes Bad mit WC und war mit schöneren und neueren Teppichen ausgestattet.

       Durch eine dünne Wand mit japanischen Mustern wurde die Suite in ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer getrennt. Das Himmelbett aus hellem massiven Fichtenholz und die passenden Hirschbacher Bauernmöbelreplikate passten optisch unerwartet gut zur Trennwand aus Papier. Lediglich die dunkelbraune Tür, die wie alle anderen Zimmertüren des Hotels ziemlich heruntergekommen aussah, hob sich für ein empfindliches Auge negativ ab. Leichte Schläge ließen das alte Holz der Tür vibrieren, sodass sogar lockere Lackstücke abbröckelten.

       „Kommen Sie herein!“, sagte eine Person, die in einem der zwei Ledersessel saß und lässig ihre Beine übereinander geschlagen hatte. Diese Person war eindeutig männlich, was jeder an dem markanten faltigen Gesicht ablesen konnte. Dieser Mann war auch nicht mehr der jüngste, obwohl dies der schlanke Körperbau unter dem schwarzen Anzug nicht verriet. Es lag allein an dem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht und den Augen, von denen nur noch schwarze Schlitze zu sehen waren. Hätte jemand wie Annika einen Vergleich aus der Filmindustrie herangezogen, wäre ihr wohl Clint Eastwood in den Sinn gekommen. Allerdings hatte dieser Mann keine Haare, und an seiner rechten Schläfe zog sich eine große Narbe bis hinter das rechte Ohr.

       Sein linker Arm ruhte auf der Sessellehne. Die rechte Hand lag auf dem Touchpad eines Laptops, von dessen Displayschein sein Gesicht mit bläulicher Farbe bestrahlt wurde. Auf dem Display waren mehrere Internetbrowser geöffnet. In einigen von ihnen waren Fotos von Annika und ihren Begleitern zu sehen. Der Mann widmete weiterhin seine Aufmerksamkeit dem Laptop, während sein Besuch den Raum betrat. Diese Person war nicht ganz so alt, hatte aber auch die fünfzig bereits hinter sich gelassen. Auch ihm sah man sein Alter nicht an. Sein jugendlich geschnittenes Gesicht und die glatten, blonden, halblangen Haare machten ihn jünger, als er war. Er hatte einen grauen Wollpulli an und darunter ein dunkelblaues Sweatshirt, von dem nur der Rollkragen zu sehen war. Der kahlköpfige Mann zeigte mit einer einladenden Geste zu dem noch leeren Sessel gegenüber.

       „Mascha hat mir eben berichtet, dass die letzten Teammitglieder eingetroffen sind“, sagte er, während er seine linke Hand zu seiner Nase führte, um dort seine Lesebrille abzunehmen.

       „Ja, die Letzten sind endlich eingetroffen ? und das noch ganz gut im Zeitplan. Ich denke, dass wir übermorgen starten können“, sagte der blonde Mann mit einem zuversichtlichen Grinsen.

       „Das sehe ich auch so. Ich wollte aber mit dir über diese neuen Gäste reden. Besonders über dieses junge Mädchen!“ Er verjüngte fragend seine Augenlider.

       „Wieso sollen wir sie eigentlich mitnehmen?“

       „Das ist die Assistentin des Dokumentarfilmers!“, antwortete der Mann etwas unsicher.

       „Sie ist die Tochter von Thomas Nowak!“ Dabei ließ er auf dem Laptop ein Bild aus der Taskleiste aufpoppen, welches Annikas Webseite und ein Foto von ihr zeigte.

       „Wir betreiben hier doch keine Vetternwirtschaft, oder?“

       „Ich weiß, sie ist noch recht jung, aber sie hat einige Projekterfahrung, was das Medium Film angeht. Sie war auf der Filmhochschule in Ludwigsburg, und da dachte ich mir, dass jemand wie sie unserem Dokumentarfilm sicherlich nicht schaden kann. Ein dramaturgischer Aufbau und spannende Bilder sind heutzutage auch bei Dokumentarfilmen sehr wichtig. Darüber hinaus kennt sie sich mit digitalen Spezialeffekten aus.“

       Alexander Müller war gerade im Begriff, die junge Frau noch weiter in den Olymp zu heben, als der dunkel gekleidete Mann seinen Redefluss sehr unsanft unterbrach.

       „Das mit dem Dokumentarfilm ist auf deinem Mist gewachsen! Ich möchte nur wissen, ob dieses Mädchen nicht unnötiger Ballast ist!“

       „Sie ist zierlich und wiegt nicht viel, was den Ballast angeht“, scherzte Müller.

       „Ich plane diese Mission seit fünfzehn Jahren, und mein Ziel war es nie, einen Film zu drehen. Diese Expedition ist in keiner Weise zum Vergnügen gedacht.“ Je länger der dunkle Mann sprach, umso härter wurden die Worte.

       „Falls du es vergessen hast: Jeder, der hier mitmacht, kommt vielleicht nicht wieder lebend zurück. Wissen die das auch?“

       Alexander Müller fühlte sich ziemlich überrollt von der Art seines Chefs, besonders weil er gedacht hatte, dass dieses Thema abgehakt sei.

       „Dieser Doktor hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und Thomas Nowak wolltest du doch auch dabeihaben!“

       „Mag sein, Alex. Ich möchte nur von dir wissen, ob dieses Mädchen ein Risiko darstellt?“

       „Okay. Du vertraust Thomas. Ich denke, dass wir seiner Tochter auch vertrauen können. Aus dem Grund ist sie die geeignetste Assistentin. Und wir brauchen eine Assistentin. Thomas braucht sie. Für einen Dokumentarfilm reicht nun mal nicht nur einer.“ Der Mann im dunklen Anzug hörte geduldig den etwas unbeholfenen Erklärungen von Alex zu.

       „Sag mir einfach einen Grund, wieso ich sie mitnehmen soll.“

       Alex war selbst über sein planloses Gestammel verwundert. Er war in Erklärungsnot geraten und versuchte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche war das Finanzieren dieses Unternehmens oder der letztendliche materielle Gewinn. Alex hatte sich wieder gefangen. „Wir brauchen