Alexander Stania

Icecore


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Man sagte, dass niemand überlebt hat. Und nun …“ Thomas unterstrich seine Aussage mit einer schwungvollen Handbewegung. Annika erinnerte sich wieder an die Erzählung in der Wohnung ihres Vaters. Der Mann hatte scheinbar über zwanzig Jahre lang seine Existenz verborgen und im Untergrund an diesem Projekt gearbeitet. Was steckte in solch einem Mann, der so lange auf solch konsequente Weise ein Ziel verfolgte? Er war bereit, ein Vermögen und ein Viertel seines Lebens zu opfern. Annika war auf tiefster Gefühlsebene völlig verwirrt. Einerseits hatte sie plötzlich ein gewisses Entdeckerfieber gepackt, andererseits aber war ihr das alles nicht ganz geheuer.

       Seitdem der dunkel gekleidete Mann den Saal verlassen hatte, hatte Alexander Müller das Reden übernommen. Er informierte seine Zuhörer noch darüber, dass alle Zimmer bis zu ihrer Rückkehr in zwei Wochen belegt blieben und dass diese Unkosten die DCC übernahm. Danach hatte Korbinian das Wort und fing an, alle Personen und deren Funktion im Raum von einer Liste vorzulesen. Jeder Aufgerufene stand auf und lächelte kurz in die Runde:

       Arzt Dr. Knut Möree, Systemadministrator Peter Wyssmann, GSAOperator Akira Kyato, Bohrer Operator Oswald Wolle, Helikoptertechniker Sascha Russlov, Fahrzeugtechniker Arnold Flußlager, Bohrtechniker Sevrem Pajak, Bohrtechniker Karlos Beretta, Dokumentarfilmer Thomas Nowak, Assistentin Dokumentarfilm Annika Nowak, Geologe Dr. Tangatjen Chakalakel, Geologieassistent Jenay Chochin, Biologe Octavian Goga, Verpflegungssupervisor Felix Armarkt, Sprengstoffexperte Bronko Hanse, Kommunikationsexperte Benedikt Welle, Allrounder Otto Klotz, Allrounder Viktor Klotz.

      Bis auf die letzten zwei Namen der kräftig gebauten BudSpencerDoubles würde Annika sich sowieso keine Namen so schnell merken. Geschweige denn, diese je richtig zuordnen können. Irgendwann mitten in diesem Namengeplätscher war auch ihrer gefallen. Sie war aufgestanden, hatte alle mit ihrem Lächeln beglückt und sich wieder hingesetzt. In den Augen der Anwesenden hatte sie unterschiedliche Emotionen wahrgenommen. Einige erwiderten ihr Lächeln, andere wirkten eher verstört darüber, dass so eine junge Frau mit dabei war. Doch keiner hatte sie so sehr gemustert wie Dr. Seeger, und niemand hatte sie freundlicher angestrahlt als Adrian Kolarik. Als sie sich setzte, ging ihr nicht mehr diese Expedition oder Jenay durch den Kopf, sondern dieser äußerst attraktive Mann.

       Korbinian setzte sich, und da niemand sonst das Wort ergriff, konnte endlich gegessen werden. Doch zuallererst mussten sie sich zum Buffet begeben.

       Wieder wollte Tangatjen den Startschuss geben, da war auch schon Adrian Kolarik an ihrem Tisch, zog einen freien Stuhl vom Nachbartisch und setzte sich ausgerechnet zwischen Dr. Octavian Goga und Annika.

       „Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich Sie vom Buffet abhalte, aber Sie fünf werden die Ersten sein, die morgen früh zum Hangar gehen müssen.“

       „Entschuldigung angenommen“, erwiderte Annika angetan, bevor Octavian ein schwerfälliger Seufzer herausrutschte.

       „Wenn ich ehrlich bin, halten Sie uns auf. Ich habe genug Vorträge angehört.“ Mit diesem Satz erhob sich Octavian und ging zum Buffet. Alle am Tisch schauten dem kleinen, leicht untersetzten Wissenschaftler nach. Auch Adrian war überrascht, richtete seine Aufmerksamkeit aber wieder auf jene, die noch am Tisch waren. Er besprach mit ihnen die Reihenfolge, in der sie zum Containerlager gehen sollten, und beschrieb ihnen erneut den Weg. Bevor er ging, zwinkerte er Annika noch einmal zu und verschwand dann zum nächsten Tisch.

       „So ein übler Bursche ist er doch gar nicht. Weiß überhaupt nicht, was Octavian hat“, stellte Annika fest.

       „Ich kann Octavian verstehen. Mir gefällt der Typ auch nicht.“ Jenay hatte mit verschränkten Armen eine abweisende Trotzhaltung eingenommen, und Annika erkannte sofort, warum Jenay etwas gegen Adrian hatte. Ohne etwas zu sagen, stand Jenay auf und ging zum Buffet. Machte er ihr gerade eine Szene? Annika hätte nicht gedacht, dass Jenay so empfindlich war.

       Als er nach einiger Zeit vom Buffet zurückkam, blickte sie ihm erst sehr ernst entgegen, aber als sie die zwei Schüsseln mit dem Eintopf in seinen Händen bemerkte, fiel der Schatten von ihrem Gesicht. Jenay setzte sich neben sie und schob eine der Schüsseln vor sie.

       „Ist leider alles, was es noch gibt, und was es sonst noch gibt, hat die Katze.“

       „Ist für die Katz’“, verbesserte Annika ihn sanft. Jenay blickte sie etwas zu lange fragend an, sodass sie unsicher wurde, ob sie ihn überhaut verstanden hatte.

       „Du meintest doch das Sprichwort?“

       „Sprichwort? Nein, da war eine Katze. Ach, ist nicht so wichtig. Lass es dir schmecken.“ Er lächelte sie liebevoll an.

       „Danke, Jenay.“ Annika erwiderte sein Lächeln auf dieselbe Weise.

      Distanz 124

      Thomas fühlte sich wie in einem Raumanzug. Es fehlten nur noch ein Sauerstoffbehälter auf dem Rücken und ein Helm mit einem großen runden Sichtfenster. Beides war Gott sei Dank nicht nötig. Für die Bedeckung von Mund und Nase trug er einen Wärmeschutz, der stark an den Kragen eines dicken Rollkragenpullovers erinnerte. Über den Augen trug er eine selbsttönende Skibrille mit verbreitertem Seitenschutz. An den Bügelenden waren Stofflappen, die der Antarktisforscher bei Bedarf über die Ohren legen konnte.

       „Kaum wiederzuerkennen“, sprach die weibliche Stimme hinter ihm, während Thomas sich im zwei Meter hohen Spiegel vor sich betrachtete. Er war einer der Ersten, die am nächsten Morgen zum Hangar aufbrechen mussten. Nun war er in Maschas Containerlager und durfte sich mit neuer Ausrüstung eindecken.

       „Aber damit es zu keinen Missverständnissen auf dem Gletscher kommt, werde ich die Namensschilder auf der Brust und dem Rücken der Anzüge beschriften“, sagte Mascha und streckte ihm ein paar Stiefel hin, die alles andere als elegant aussahen. Thomas setzte sich auf einen Metallhocker und zog die wuchtigen Stiefel an. Sie erinnerten ihn an eine Mischung aus Militärstiefeln, Moonboots und Skistiefeln. Als Thomas wieder auf den Beinen stand, hatte er das Gefühl, ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. In diesen Schuhen musste er sich jedenfalls keine Sorgen machen, dass er sich die Füße abfror.

       Plötzlich hörte er das unangenehme Quietschen der Hangareingangstür. Er blickte zu der etwa zehn Meter entfernten Geräuschquelle. Durch das einfallende Licht konnte er die eintretende Person nicht erkennen. Erst nach ein paar Schritten erkannte er seine Tochter.

       „Oh wie schön, endlich mal eine Frau einzukleiden.“ Mascha warf Thomas einen neckischen Blick zu. Thomas musste bei dem Gedanken, dass seine Tochter in diesen Raumanzug gesteckt wurde, schmunzeln.

      Nachdem sich Annikas Augen an den nur spärlich ausgeleuchteten Hangar angepasst hatten, stach ihr als Erstes das große Flugzeug ins Auge. Es hatte die Größe einer Herkulestransportmaschine und war fast so groß wie die Boeing 737. Wie eine Herkules verfügte sie über eine große Heckladerampe. Über diese wurde gerade ein mit Panzerketten ausgestattetes Fahrzeuge ins Innere des Fluggefährtes geladen. Annika war kein Technikfetischist und konnte nur sagen, dass dieses Fahrzeug mit einer Pistenraupe nichts zu tun hatte. Etwa fünf dunkle Gestalten sah sie um das Flugzeug schleichen und die Maschine verladen. Zwei glaubte sie, anhand ihrer Körpergröße zu erkennen. Es mussten die KlotzBrüder sein, denn nur diese beiden waren von so wuchtiger Gestalt.

       Vor dem großen Flugzeug stand der garagengroße Metallcontainer. Wie bei einem Flohmarkt lag die Ware ausgebreitet am Boden oder hing an ausrangierten Kleiderständern. Dazwischen stand Mascha und grinste ihr freundlich entgegen. Annika war bereits in der Mitte des Hangars, als ihr auffiel, dass dieses vermeintliche Flugzeug keine Tragflächen hatte. Dann sah sie die acht gewaltigen Rotorblätter, die sich unter ihrem Gewicht durchbogen. Das war mit Abstand der größte Hubschrauber, den sie je gesehen hatte.

       „Beeindruckend, nicht wahr?“, interpretierte Mascha Annikas Gesichtsausdruck. „Ich bin jedes Mal erstaunt, obwohl ich schon öfter eine Mil Mi26 geflogen bin. Das ist der größte in Serie produzierte Transporthubschrauber weltweit. Made in Russia!“, sagte die Russin stolz in akzentfreiem Englisch.

       „Vor Kurzem dachte ich noch, wir würden mit einem Flugzeug in die Antarktis fliegen.“ In Annikas Stimme schwang unterschwellig etwas Furcht mit, was Mascha sofort merkte.

       „Das ist viel sicherer als ein Flugzeug. Bei all den Gletscherspalten wäre es total riskant, mit