Alexander Stania

Icecore


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und mit sehr vielen Gefahren verbunden. Daher muss ich auf ein paar Regeln bestehen:

       Die oberste Regel lautet: Niemand entfernt sich mehr als fünf Meter von der Gruppe oder den Helikoptern. Es sei denn, eine gewisse Fläche ist von mir freigegeben.

       Wenn wir mehr als fünf Meter über eine ungesicherte Gletscherregion gehen, dann tun wir das aneinandergeleint. Dass es dort bodenlose Gletscherspalten gibt, brauche ich hier wahrscheinlich keinem zu erzählen. Aufgrund der extremen Kälte und der Schneeverwehungen bildet sich allerdings in sehr kurzer Zeit eine trügerische dünne Schneedecke über jedem Abgrund. Diese macht die Spalte nahezu unsichtbar.“ Adrian vermittelte seine Worte mit einer fast schon übertriebenen Ernsthaftigkeit.

       „Es müssen immer mindestens drei Personen an einer Kette hängen. Sollte einer in eine Gletscherspalte fallen, lassen sich die anderen sofort fallen, damit keiner mitgerissen wird. Am besten, Sie gehen zu viert, aber das klären wir vor Ort ab.“ Adrian hob demonstrativ seinen Arm, an dem ein Handschuh an seinem Jackenärmel hing.

       „Passen Sie gut auf Ihre Handschuhe auf. Wer seinen Handschuh verliert, verliert seine Hand!

       Auf dem Gletscher werden wir uns in über viertausend Metern Höhe befinden. Bedingt durch die Erdrotation, ist die Luft an den Polen noch mal dünner als am Äquator. Wir befinden uns in einer Atmosphäre, die einer äquatorialen Höhe von fünftausend Metern entspricht. Wie es bereits Korbinian vorweggenommen hat, haben wir das ganze Projekt so gestaltet, dass wir schnell dorthin gelangen, sofort die Arbeit aufnehmen und so bald wie möglich wieder abziehen. Der Grund ist die gefürchtete Höhenkrankheit. Sie kann jeden jederzeit heimsuchen. Niemand, egal, wie fit er ist, ist sicher davor. Und wir können auf niemanden verzichten.

       Die Symptome einer Höhenkrankheit sind Übelkeit gepaart mit starken Kopf und Gliederschmerzen. Schwindelgefühle treten ebenfalls oft auf. Bitte geben Sie sofort Dr. Möree Bescheid, wenn einer von Ihnen diese Symptome hat.“

       Dr. Knut Möree hatte sehr tiefe und lange markante Falten, die sich von jedem Auge senkrecht über die Wangen bis zum Unterkiefer zogen. Die tiefen Geheimratsecken in seinem weißen kurzen Haar und die dicken, augenvergrößernden Plusbrillengläser verliehen ihm das Aussehen eines Wesens von einem fremden Stern. Neben Dr. Seeger, der etwas abseits der Gruppe stand, ergaben sie ein äußerst unheimlich wirkendes Paar.

       „Eine Person, die unter der Höhenkrankheit leidet, muss so bald wie möglich in eine tiefe Region mit höherem Luftdruck gebracht werden, ansonsten droht ihr der Tod. Für diesen Fall haben wir aufblasbare Druckausgleichskammern, in der die betroffene Person ausharren muss, bis wir sie zurück zur KohnenStation gebracht haben.“

       Annika wurde es bei dem Gedanken ganz unwohl, in einer aufblasbaren Druckkammer eingesperrt zu werden. Sie dachte, dass die Kälte ihr größtes Problem war. Besonders fragwürdig erschien ihr die Unterbringung des Teams, welches mittlerweile mindestens zwei Dutzend Menschen umfasste. Da sie noch nie Angst hatte, dumme Fragen zu stellen, hob sie spontan die Hand.

       „Ich hätte da eine Frage. Können Sie mit den Helikoptern jederzeit zurück zur Station?“

       Adrian lächelte. „Sehr gute Frage. Natürlich ist der Treibstoffvorrat genau kalkuliert und erlaubt keine Hin und Herflüge. Von der KohnenStation begleitet uns ein Flugzeug, das jederzeit für Noteinsätze oder andere Dinge herangezogen werden kann.“ Adrian fixierte Annika mit seinen letzten Worten und zog sein Lächeln noch mehr in die Breite. Jenay kochte vor Eifersucht.

       „Ein weiterer Grund, warum sich keiner von der Gruppe entfernen soll, sind Blizzards. Ein Wetterphänomen, bei dem das Licht durch aufgewirbelte Schneekristalle diffus in alle Richtungen gebrochen wird. Eine Person in einem Blizzard verliert schnell die Orientierung. Durch permanente Fallwinde können Blizzards zu sehr heftigen Schneestürmen heranwachsen.

       Wir betreten eine Welt voller lebensbedrohlicher Gefahren. Also seien Sie vorsichtig und bleiben Sie beim Team.“ Adrian hatte fast das Ende seiner Rede erreicht. Er verlor nur noch ein paar Worte über die Ausrüstung und die Einheitskleidung, die sie trugen.

       Er übergab an Dr. Seeger, der keine Anstalten machte, auf die Hebebühne zu steigen. Seine Worte waren kurz und trocken. Der Inhalt beschränkte sich darauf, dass er professionelle Arbeit erwarte und keine Fehler. Dann ging es los.

      Distanz 120

      Der Großteil der Besatzung stieg in die Mil Mi26, die noch im Hangar stand. Ihre Plätze waren alle zugeteilt, und Annika saß mit ihrer Kameraausrüstung ganz vorne neben Alexander Müller am Rand. Sie hätte sehr gerne neben ihren Freunden gesessen, doch Dr. Chakalakel, Jenay und Octavian saßen ganz hinten in der letzten Reihe. Herr Müller hatte sie ganz bewusst neben sich setzen lassen, damit sie besser filmen und er wahrscheinlich Regisseur spielen konnte. Der blonde Geschäftsmann war ihr irgendwie nicht ganz geheuer, aber sie konnte nicht sagen, weshalb. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich irgendwie unter Beobachtung fühlte. Dieses Gefühl verstärkte auch Dr. Seeger, der mit Dr. Möree am anderen Ende der vordersten Sitzreihe saß. Den einzigen Lichtblick bildete Adrian Kolarik, der seinen Platz in ihrer Reihe gleich neben Herrn Müller hatte.

       In ihren orangefarbenen Einheitsanzügen sahen sie alle aus wie Astronauten. Es fehlte eigentlich nur noch, dass sie mit den Füßen nach oben und den Köpfen nach unten hingen, bereit, in den Weltraum geschossen zu werden. Ein hydraulisches Brummen begleitete das Schließen der Laderampe. Durch ein kleines Seitenfenster konnte sie Thomas sehen, der von draußen den Hubschrauber filmte. Die Mil Mi26, der Dr. Seeger den Namen „Helena“ gab, rollte an ihrer Schwester „Leandra“ vorbei, deren achtblättrige Rotoren sich bereits drehten und ein lautes Flattern erzeugten. Thomas hielt mit seiner HDKamera ohne Unterbrechung auf Helena, die ihre Rotorblätter schon im Rollen in Bewegung setzte. Das Rotorengeräusch, das in unendlich vielen Schlägen die Luft zerriss, wurde zusammen mit den zwei aufheulenden Turbinen unter den Rotorblättern zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Der Wind und der Lärm, den diese Maschine erzeugte, wurden immer stärker und kündigten an, dass die Hubkraft bald so groß war, um Helena in die Luft zu heben. Doch es wurde noch mal deutlich lauter, und Thomas wünschte sich, Oropax in die Ohren gesteckt zu haben. Zusätzlich war der erzeugte Wind so stark, dass er Mühe hatte, die Kamera ruhig zu halten. Einen Wackeleffekt mussten sie beim Nachbearbeiten jedenfalls nicht mehr hinzufügen, dachte Thomas vergnügt. Er fühlte sich richtig lebendig. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen solche technischen Mittel zur Verfügung stehen würden. Es war einfach fantastisch, aus so einer kurzen Distanz einen derart riesigen Hubschrauber zu filmen. Die Helena hob ab und fuhr, kurz nachdem sie den Kontakt mit dem Boden verlor, ihr Fahrgestell ein. Sie schwebte unter ohrenbetäubenden Luftschlägen über das Rollfeld und blieb in etwa fünfzig Metern Höhe in der Luft stehen. Durch den Sucher seiner Kamera konnte er Mascha und einen ihrer russischen Kollegen im Cockpit sehen. Sie lächelte und zeigte mit dem Daumen nach oben. Schnell drang der anschwellende Lärm weiterer Turbinen und Rotorschläge in Thomas’ Bewusstsein. Leandra, der zweite Helikopter, fuhr seine Motoren in Fluggeschwindigkeit hoch. Dies war das Zeichen für Thomas, seine Dreharbeiten abzubrechen und schleunigst in die zweite Mil Mi einzusteigen. Während er die Laderampe hinaufrannte, fing sie an, sich zu schließen. Im Laderaum empfing ihn der Systemadministrator Peter Wyssmann, der durch sein breites Lächeln und die dicken Plusgläser in seiner ovalen Brille die Ausstrahlung eines sehr freundlichen jungen Burschen hatte. Durch die sich gerade schließende Laderampe donnerte der Lärm der Rotoren, sodass Thomas nichts verstehen konnte. Peter gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er mit ihm nach vorne in die Maschine gehen solle. Thomas folgte ihm vorbei an den unter Plastikplanen abgedeckten Geräten und Holzkisten, bis kurz vor die Tür, die zur Bordtoilette und zum Cockpit führte. Hier waren ihre Sitze angebracht worden, auf die sie sich sofort setzten und die Gurte anlegten. Leandra hob ab. Sie saßen sich gegenüber mit dem Rücken zur Bordwand und mussten ihre Köpfe stark verdrehen, um zu den Fenstern heraussehen zu können. Thomas war innerlich so aufgeregt, dass er das Weiterfilmen völlig vergessen hatte und seine HDKamera fest auf seinem Schoß umklammert hielt. Es war nicht sein erster Hubschrauberflug, aber die Größe der Maschinen und der Aufwand an Personal und Equipment stellten alles in den Schatten, was er bisher als Journalist und Kameramann erlebt hatte. Ab jetzt hatten sie keine Gemeinsamkeiten mehr mit Touristen, die einen gefahrlosen Abenteuerurlaub machten.