Alexander Stania

Icecore


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So endete Thomas’ erstes Gespräch mit Dr. Bernhard Seeger, und er nahm wieder seinen Platz im zweiten Hubschrauber ein. Wenige Minuten später, nachdem die Rotorblätter die nötige Hubgeschwindigkeit hatten, flogen Helena und Leandra wieder über das offene Meer.

      Distanz 115

      Annika war eine Viertelstunde, nachdem sie gestartet waren, von Mascha samt ihrer Kameraausrüstung ins Cockpit gerufen worden. Mascha war zwar nur die Copilotin, durfte aber dennoch fliegen, da ihr Kollege, Barenko Rebulsky, im Gegensatz zu Mascha nicht so versessen darauf war. Er saß ziemlich lässig in seinem orangefarbenen Schneeanzug, dessen Oberteil er einfach nach unten geklappt hatte. Der siebenundvierzigjährige, dunkelhaarige Lockenkopf qualmte eine Zigarette. Er konnte gut Englisch und quatschte ununterbrochen in Annikas Filmaufnahmen. Aber das störte sie nicht. Gewissermaßen unterstrich der russische Akzent die Atmosphäre dieser Reise. Das Einzige, was Annika beim ersten Kontakt mit dem Russen verunsicherte, war die vernarbte Haut, die unter der Thermokleidung hervortrat. Als hätte er starke Verbrennungen erlitten.

       Der Grund, warum sie im Cockpit mit ihrer HDKamera gerufen wurde, zeigte sich jetzt am Horizont. Die ersten Eisberge tauchten auf. Jede Menge kleinere Eisschollen waren wie vereiste kleine Inseln schon unter ihnen vorbeigezogen. Das Auftreten der weißen Riesen, die wie Backenzähne aus dem Meer stachen, kündigte auch an, dass der antarktische Kontinent nun vor ihnen lag. Annika war vom Anblick der Eisberge beeindruckt.

      Auch Thomas war fasziniert. Vor ihnen flog etwas seitlich versetzt in zweihundert Metern Abstand Helena, und vor dieser Kulisse aus Eisbergen ergab das Ganze ein fantastisches, abenteuerliches Bild. Je weiter sie in die südliche Richtung flogen, desto mehr verschmolzen die treibenden Eistrümmer zu einem Ganzen, dem antarktischen Kontinent. Irgendwann war kein Meer mehr zu erkennen, und die zwei Helikopter flogen über das völlig mit Eis bedeckte Palmerland, den halbinselartigen Ausläufer der Antarktis. Auf der linken Seite ragte der Mount Vinson, der höchste Berg der Antarktis, fünftausendeinhundert¬vierzig Meter in die Höhe. Auch er zog langsam an ihnen vorüber.

       Thomas hatte nicht bemerkt, dass sie im Steigflug waren, seitdem sie den antarktischen Kontinent überflogen. Sie hatten bereits eine Höhe von zweitausend Metern über dem Meeresspiegel, aber die Höhe zum Boden schien unverändert. Vom Mount Vinson betrug die Entfernung zur Kohnen2Antarktisforschungsstation noch knapp tausend Kilometer. Etwa achthundert Kilometer im Landesinneren ruhte sie in zweitausendsechshundert Metern Höhe auf dem Rockefeller Plateau. Noch vier Stunden Flug.

      Trotz einiger kleiner Luftturbulenzen, welche die Helikopter immer wieder durchschüttelten, versuchten die meisten zu schlafen. Die zwei MilMi26Hubschrauber benötigten von den südlichen Shetland Islands acht Stunden Flugzeit, um zur KohnenStation zu gelangen. Für die meisten doch zu lange, um durch die kleinen Sichtfenster die faszinierende Umgebung zu bestaunen.

      Distanz 114

      Mascha hatte Annika wieder in das Cockpit gerufen, damit sie den Anflug auf die Kohnen2Antarktisforschungsstation filmen konnte. Auf dem endlos weiten Rockefeller Plateau wirkte die Station nicht besonders beeindruckend. Von Nahem sah Kohnen 2 aus wie sechs gleich große, graue Würfel. Die Klötze, die hintereinander in zwei Reihen standen, zierten mehrere lange Antennenmasten und eine kleine Kuppel, in der sich wahrscheinlich eine Satellitenschüssel versteckte.

       Die weiße Hochebene, die sich vor ihnen über den gesamten Horizont erstreckte, verdeutlichte im Kontrast zur vergleichs¬weise kleinen Station deren Abgelegenheit und Isolation. Kohnen 2 repräsentierte das einzige Häufchen Zivilisation im Umkreis von mehreren Tausend Kilometern Eis.

       Hundert Meter neben den Stationsgebäuden hatte das KohnenPersonal mit Schneeraupen den Boden zum Landen begradigt. Am Rande der Landefläche erwarteten sie bereits mehrere Personen in Antarktisschutzkleidung, die dem Aufbau der orangefarbenen Thermokleidung stark ähnelten.

       Einer dieser Personen war Oliver Tielago, ein großer, breitschultriger Mann mit Vollbart. Er war der Stationsleiter der deutschen Forschungsstation, die sich hier oben in der Mitte des Rockefeller Plateaus mit Eiskernbohrungen beschäftigte. Die meisten Antarktisforschungseinrichtungen befanden sich aus Versorgungsgründen an der Küste. Außerdem war der antarktische Sommer dort wesentlich milder als an diesem rauen Ort, der permanent mit den katabatischen Fallwinden zu kämpfen hatte.

       Allerdings hatten Eiskernbohrungen im Küstenbereich wenig Sinn, und die unberechenbaren Wetterbedingungen ließen Flüge ins Inland oft zu einem Glückspiel werden. Zudem war es ein guter Ausgangspunkt für Eiskernbohrungseinsätze, weil hier das Risiko für die Höhenkrankheit nicht so groß war.

       Für Dr. Seeger war es der perfekte Ausgangsort für seine Expedition.

       Wie sich die beiden Männer begrüßten, zeigte allen, dass Oliver Tielago nicht einfach ein Mensch war, der auf Dr. Seegers Gehaltsliste stand. Auch der zweite Mann, dem Dr. Seeger energisch die Hand schüttelte, musste wohl ein guter Bekannter sein. Sein Name war Dieter Hase. Er war einer der ältesten Bekannten von Dr. Seeger, wie Alexander Müller Annika verriet. Dieter hatte seine Kapuze nicht über den Kopf gezogen, und so zeigte er blonde Haarstoppel, die von großen Geheimratsecken langsam verdrängt wurden. In seinen mageren Gesichtszügen waren ähnlich lange Bartstoppeln, und die dicke kleine Minusbrille verlieh ihm einen nicht geraden gesunden Gesamteindruck. Er war vierundvierzig, sah aber älter aus als Dr. Seeger.

       Alle Expeditionsteilnehmer hatten über die Laderampen der Helikopter das Eis betreten. Jeder von ihnen trug seine mit Fellrand besetzte Kapuze über dem Kopf und hatte seine getönte Schneeschutzbrille auf. Ohne die aufgenähten Namensschilder konnte man die Teammitglieder nun fast nicht mehr unterscheiden. Bis auf den Verpflegungssupervisor und Annika, die deutlich kleiner war als alle anderen. Alle vom Seegerteam waren von Korbinian aufgefordert worden, in das nahe gelegene Stationsgebäude der KohnenStation zu gehen. Als Tangatjen mit seinen Füßen das Eis betrat, konnte er seine Begeisterung kaum verbergen. Thomas, Jenay und Octavian hingegen hatten das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Noch nie hatte Annika so klare und saubere Luft eingeatmet. Sie fühlte sich fast etwas schwindelig. Ansonsten fand sie es gar nicht so kalt wie erwartet. Im Gesicht spürte sie eine Spannung, die von der Kälte herrührte, aber sie hatte in manchem deutschen Winter Schlimmeres erlebt. Am Horizont waren schemenhaft Berge zu erkennen, die sich vom klaren Himmel kaum abhoben. Ob das das Transantarktische Gebirge war?

       Sie liefen alle an Oliver Tielago vorbei, der jeden Einzelnen mit Nicken begrüßte. Die russische Hubschrauberbesatzung kümmerte sich um das Betanken von Helena und Leandra.

       Im Inneren des Stationsblocks C konnten sich die zweiundzwanzig Gäste ihrer äußersten Schutzkleidung entledigen. Annika fühlte sich gleich wieder wie eine Frau und nicht mehr wie ein Teddybär. Ihr fiel auf, dass sich innerhalb der Expeditionsgruppe bereits kleinere Untergruppen gebildet hatten: Sie, ihr Vater, Jenay, Dr. Chakalakel und Octavian waren eine, und zeitweise gesellten sich Herr Müller und Adrian Kolarik hinzu. Eine andere Gruppe setzte sich aus der technischen Crew zusammen, die sich darum kümmerte, wie sie nach unten kommen würden. Dann gab es noch zwei, drei andere Gruppierungen, von denen sie Fachgebiet und Namen vergessen hatte.

       Ein Besatzungsmitglied der KohnenStation öffnete eine Schiebetür zu einem etwas größeren Raum, in deren Mitte sich zwei lange Metalltische befanden. Auf den Tischen standen bereits tiefe Teller und Besteck. Am Ende des Speisesaals war die Ausgabetheke zu erkennen, welche den Raum von der angrenzenden Küche abtrennte. Auf der Theke fand sich ein reichhaltiges Angebot an Speisen. Salate, Antipasti, eine Käseplatte, Chickenwings, Rollbraten, Nürnberger Bratwürste, ein großer Topf mit der Aufschrift „Gulaschsuppe“, Nudeln, Reis, Fisch, panierte Kalamariringe, Obst und noch einiges mehr. Annika war verblüfft über die Reichhaltigkeit des Buffets. Sie hatte höchstens eine Gulaschsuppe erwartet. An den erstaunten und zugleich glücklichen Gesichtern ihrer Mitstreiter konnte sie erkennen, dass es den anderen ebenso erging.

       „Wegen des körperlich anstrengenden Klimas am Südpol verliert jeder schnell Gewicht, daher ist Nahrungsaufnahme sehr wichtig. Und am besten essen Mann und Frau, wenn’s schmeckt.“ Da Oliver Tielago bekannt war, dass einige der Anwesenden kein Deutsch verstanden, aber alle Englisch, hatte er sich nicht erst die Mühe gemacht, auf Deutsch zu sprechen. „Bitte bedienen Sie sich, ist alles von Blizzard gesponsert.“ Bei dem Namen „Blizzard“