Alexander Stania

Icecore


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mit zwei großen Tanks unter den Flügen in sein Kamerabild. Thomas öffnete sein geschlossenes Auge und schaute an dem Sucher seiner Kamera vorbei, um sich zu vergewissern, dass das Flugobjekt keine Einbildung war. Er zoomte so nah er konnte an das Flugzeug heran, sodass er sogar erkennen konnte, wer sich am Steuer befand. Seine Tochter. Seine Tochter flog das Flugzeug? Sie konnte gar nicht fliegen, und wieso sollte sie plötzlich auch in einer separaten Maschine an ihnen vorbeifliegen?

       „Das ist Dieter mit seiner Twin Otter. Unser Rückflugticket!“, kommentierte Oleg. Im selben Moment sah Thomas, dass Annika mit ihrem Körper eine zweite Person verdeckte, die das Flugzeug steuerte. Wieso war sie im Flugzeug der Kohnen2Station, und wieso war das ihr Rückflugticket? Wahrscheinlich hatte Alexander Müller sie kurz vor dem Start in die Twin Otter gesteckt, damit Annika beide Helikopter beim Fliegen filmen konnte. Nur zu dumm, dass ihre Kamera in der Obhut von Korbinian Regenfus war, der sich allerdings auf der Helena befand. Wieso Dieter und sein Flugzeug ihr Rückflugticket bedeuteten, musste er Oleg fragen.

       „Sehen Sie die vier Tanks an den Flügeln? Darin befindet sich der Treibstoff für den Rückflug der beiden MilMi26Hubschrauber“, sagte Oleg.

       „Das heißt, wenn dem Vogel was passiert, sind wir ziemlich aufgeschmissen?“

       „Wir müssen jedenfalls ein paar Tage länger bleiben, bis Hilfe kommt. Aber keine Sorge, dafür wurde genügend Verpflegung mitgenommen“, antwortete der russische Copilot.

       Thomas blickte wieder zur Twin Otter und sah seine Tochter winken.

      Tatsächlich hatte Alexander Müller Annika kurz vor dem Start von der KohnenStation in diesen Flieger gesetzt. Lieber wäre sie bei Jenay in der Helena mitgeflogen, aber Alexander Müller dachte, dass es eine gute Idee wäre, wenn sie von Dieters Flugzeug aus die Helikopter in der Luft filmte. Leider hatte Korbinian die zweite Kamera. Irgendwie war Annika froh darüber, dass sie keine Kamera dabei hatte. Endlich konnte sie die Weiten der Antarktis aus dem Cockpit in Ruhe genießen, ohne Adrian oder Alexander Müller im Nacken zu haben. Sicherlich ärgerte sich Müller jetzt, aber es würde auf dem Rückweg noch mal die Möglichkeit geben, die zwei MilMi26Helikopter nebeneinander in der Luft zu filmen.

       Außer Dieter Hase von der Kohnen2Station war sie die Einzige in diesem Propellerflugzeug. Die Twin Otter war eine kleine Passagiermaschine und hatte etwa die Größe eines Privatjets. Etwa fünfzehn Leute würden in ihr Platz finden, schätzte sie.

       Im Augenblick waren alle Sitze im Passagierabteil durch Kisten und jede Menge Container ersetzt. Dieter wollte ihr erst gar nicht erzählen, was in den Containern alles drin war, aber der Geruch nach Kerosin, der sich im ganzen Flugzeug festgesetzt hatte, verriet ihr Geheimnis. Anfangs hatte Annika schon ein sehr ungutes Gefühl gehabt, in diesen treibstoffgefüllten Bomber zu steigen. Die Aussicht aus der Cockpitscheibe machte es ihr aber leicht, nicht mehr an die brennbare Flüssigkeit um sie herum zu denken. Vor ihnen erstreckte sich das Transantarktische Gebirge. Eine Gebirgskette, die sich quer durch den antarktischen Kontinent zog und dabei wie ein Staudamm, eine Eisschicht von zum Teil über viertausend Metern aufstaute. Da sie mit ihrem Flugzeug bereits über zweieinhalb Kilometer Eis flogen, bohrten sich die schwarzen Gipfel noch zweitausend Meter vor ihnen aus dem Eispanzer in den Himmel. Annika konnte an den breiten Strömen aus Schnee und Eis, die durch die Furchen und Spalten des Bergmassivs jagten, sehen, dass hier die Fallwinde besonders heftig waren.

       Adrian hatte ihr auch bereits erklärt, dass diese Winde kein Produkt von Wind und Wetter waren, sondern aufgrund der Schwerkraft fielen, wie es der Name schon sagte. Schade, dass Jenay nicht mit ihr in die Twin Otter durfte, aber wäre noch ein Platz frei gewesen, wäre jetzt Adrian hier mit an Bord. Er hätte sicherlich diesen fantastischen Anblick und die tolle Atmosphäre mit seinen ständigen Kommentaren zerstört. Dann lieber alleine mit dem wortkargen Dieter Hase. Der magere Mann mit den wenigen blonden Haarstoppeln schwieg nicht aus Ignoranz, sondern aus Schüchternheit. Jedenfalls vermutete das Annika, auf die er einen äußerst harmlosen Eindruck machte. Selbst die etwas zu groß geratene Gletscherbrille mit den gelb getönten Gläsern verlieh ihm in keiner Weise etwas Lässiges. Besonders witzig sah es aus, dass sie unter der Gletscherbrille deutlich die kleine ovale Brille mit den starken Gläsern sah. Seit dem Start hatte sie immer wieder versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch er zog irgendwie nicht mit. Vielleicht beanspruchte ihn das Fliegen auch zu sehr. Mit zunehmender Annäherung an das Gebirgsmassiv wurden die Luftturbulenzen immer heftiger.

       Annika konnte erkennen, dass sie eine Unterbrechung in der Gebirgskette anflogen.

       „Das ist unser Tor zu den Hochebenen der Ostantarktis. Der Flug durch diesen Canyon wird wegen der massiven Bündelung der Fallwinde etwas holprig werden, aber keine Sorge, diese Strecke bin ich schon paar Mal geflogen.“ Das war gerade der längste Satz gewesen, den Dieter von sich aus gesagt hatte. Zwischen den Gipfeln, die den höchstens dreihundert Meter breiten Canyon schlossen, konnte Annika nur einen reißenden Strom aus Schnee und Nebel erkennen, der sich zum Tal hin in unendlich viele Bäche verzweigte.

       „Da wollen Sie durchfliegen?“, sagte Annika fassungslos.

       „Ja, klar. Habe die Strecke oft getestet, als ich Eiskernbohrungen dort oben gemacht habe. Ich weiß, das sieht nicht gerade einladend aus, und sicherlich war das Wetter schon mal besser, aber hier in der Antarktis kann man sich nicht auf den Wetterbericht verlassen“, sagte Dieter mit einem freundlichen Grinsen, das etliche Zahnlücken präsentierte.

       „Können wir denn nicht einfach drüber hinweg fliegen?“, fragte Annika, obwohl sie die Antwort bereits erahnte.

       „Wir schon, aber für die Rotoren der Mil Mi26 ist die Luft dann doch zu dünn. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir fliegen einfach durch, und die zwei Hubschrauber folgen ganz locker unserem Signal. Wir haben das schon getestet.“

       „Und das mit so großen Hubschraubern?“

       „Natürlich nicht. So, jetzt geht’s gleich los.“ Routiniert zupfte er das Mikro an seinem Headset zurecht und betätigte ein paar Schalter.

       „Kohnen Twin Otter an Helena und Leandra. Leuchtfeuer ist aktiv. Bitte schließen Sie auf und geben Sie mir ein Signal, wenn Sie bereit sind, mir in den Canyon zu folgen.“

      Distanz 110

      Leandra übernahm nun die Führung der zwei Helikopter, sodass sie nun direkt hinter der Twin Otter flog. Stanislav Kronos war der erfahrendste Pilot, was Flugreisen unter solchen Sicht und Wetterbedingungen anging. Thomas hatte sich auf dem Reservesitz hinter den zwei Piloten festgeschnallt. Obwohl Stanislav Kronos betont hatte, dass er schon durch dichtere Schneestürme geflogen war, fragte sich Thomas, ob dieser überflutete Canyon mit einem dieser Stürme vergleichbar war. In dem Moment, in dem die Twin Otter vor ihnen in der Nebelwand verschwand, waren seine Gedanken wieder bei seiner Tochter. Jetzt waren sie an der Reihe.

       Thomas bohrte ganz automatisch seine Finger in die Armlehnen, und seine Kiefermuskeln waren angespannt. Liebend gern hätte er jetzt den Sucher seiner HDKamera vor seinem Auge. Dadurch konnte Thomas irgendwie Abstand gewinnen, wie er es als junger Kameramann in diversen Krisengebieten praktiziert hatte. Leider hatte er Filmverbot und musste während dieser Achterbahnfahrt alles sicher verstauen. Nun versuchte er sich einzureden, dass sie nur in einen normalen Schneesturm flogen.

       Vor dem lauten Knall kam ein starker Ruck, oder war es umgekehrt? Der Knall hörte auch nicht auf. Es waren unendlich viele Schläge auf die Cockpitscheibe. Sie wurden von Hagelkörnern und Schneebrocken bombardiert.

       „Wie gut, dass wir Panzerglasscheiben haben“, schrie der Copilot Oleg. Thomas verstand nur Panzerglas. Hatte Dieter in seiner Twin Otter auch Panzerglas? Das war jedenfalls keine Militärmaschine. Zeitgleich hatte er diese Gedanken dem Russen zurückgeschrien. „Nicht wirklich. Seine Scheiben sind nicht so steil, und er muss auch nicht wegen des Windes in so eine Schräglage gehen.“

       Die Turbulenzen waren heftiger als in der Herkules, mit der sie von Puerto Montt nach Punta Arenas geflogen waren. Da sie aber diesmal gegen einen heftigen Wind anflogen und nicht von einem Luftloch ins nächste stürzten, blieb der Magen einigermaßen verschont.

      Im Passagierraum der Helena saßen Octavian und Jenay. Sie waren sehr angespannt und warteten nur auf das