Alexander Stania

Icecore


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Röhren in jede Himmelsrichtung wegstreckten, ein kurzarmiger, dickbauchiger Seestern. Auf Basis dieser Voxelgrafik hatte er Probleme, die richtige Größe einzuschätzen, da Details wie Fenster und Türen fehlten. Peter fuhr mit seinem Zeigefinger dicht über das Displayglas und kommentierte:

       „Diese Risse hier sind Gletscherspalten. Es können immer wieder neue hinzukommen, daher habe ich mir die neuesten Bilder noch schnell vom HotelHotspot runtergeladen. So sind wir zwar nicht zu hundert Prozent aktuell, aber ich denke, dass sich innerhalb eines Tages nicht gleich eine neue Gletscherspalte auftut.“

       „Könnt ihr nicht über direkte Satellitenverbindung die neuesten Updates direkt vor Ort runterladen?“, fragte Thomas verwundert.

       „Technisch gesehen kein Problem. Aber direkter Satellitenkontakt, wie GPS, ist uns untersagt, da jeder andere unseren Aufenthaltsort genauso gut feststellen kann. Dr. Seeger ist da vielleicht etwas paranoid, aber wie ich gehört habe, auch nicht ohne Grund.“ Achselzuckend drehte er seinen Kopf wieder zu seinem Laptop hin und navigierte mithilfe der Maus und einem Tastenbefehl auf dem Keyboard die 3DPerspektive so, dass der Betrachter nun das Areal komplett von der Seite sah. Aus dem breiten dunklen Riss, der sich diagonal vor der Forschungsstation entlangzog, wurde auf diese Weise eine tiefe Kerbe, dessen Ende die Voxelgrafik nicht mehr darstellte.

       „Ich habe etwas Probleme, die Größe einzuordnen, aber diese Gletscherspalte scheint im Verhältnis zur Station ganz schön groß zu sein. Oder täuscht das?“ Thomas fragte sich bereits, ob die Station vielleicht sehr viel kleiner war, als er dachte.

       „Sehr richtig bemerkt, das ist kein Spalt mehr, sondern eher ein kleiner Canyon. An der breitesten Stelle etwa zwanzig Meter breit und etwa eine Meile tief.“ Kaum hatte Peter das gesagt, musste Thomas an die Geschichte von Dr. Chakalakel denken. Hatte er nicht auch von einer Meile gesprochen? Waren nicht alle Eiskernbohrungen in tausendsechshundert Metern auf eine unbekannte Legierung gestoßen?

       „Heißt das, dass wir nicht bohren müssen, um da runterzugehen?“

       „Da wir jetzt unterwegs sind, kann ich es Ihnen ja erzählen. Eine langwierige Bohraktion wird nicht nötig sein, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Vor vier Wochen sahen die Pläne noch ganz anders aus. Hätte sich nicht wenig später dieser Riss aufgetan, wären wir mit Sicherheit noch lange nicht hier.“

       „Noch lange nicht?“, fragte Thomas in einer ausgedehnten Atempause.

       „Ich arbeite seit zwei Jahren an diesem Projekt und habe jede Menge hardgecoded. Wissen Sie, Dr. Seegers Plan war es, einen Bohrer zu entwickeln, der es schafft, in weniger als sechs Stunden in diese Tiefe zu bohren. Gleichzeitig wollte er ein Fahrzeug entwickeln, das zehn Personen gleichzeitig rauf und runter befördern kann. Und alles im Ewigen Eis. Eine extrem anspruchsvolle Aufgabe, die wir erst in zwei bis drei Jahren gelöst hätten. Immerhin ist dabei dieses Baby herausgekommen.“ Peter tätschelte dabei die Armaturen des Fahrzeugs, in dem er saß. Thomas hatte sich bisher den Innenraum, der auf den ersten Blick wie die Fahrgastzelle eines Armeefahrzeugs aussah, noch nicht genau angesehen. Neben dem Fahrer waren noch zwei Schalensitze und dahinter, von einer robusten Schaltkonsole abgetrennt, noch weitere drei Sitze. Peter hatte seinen forschenden Rundumblick bemerkt.

       „Dieser fasst immerhin sechs Personen, und ließe man die Laserbohrer auf Volldampf laufen, würde der Cavecrawler drei Meilen pro Stunde schaffen. Der Haken wäre nur, dass er nie wieder zurückkäme, jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Der Energieverbrauch und die dementsprechende Versorgung waren unser größtes Problem. Ich habe unzählige Routinen geschrieben, damit die Maschine möglichst effizient mit den vorhandenen Energieressourcen umgeht.“

       Während Peter noch mehr von seinen technischen Leistungen erzählte, waren Thomas’ Augen bei der Gletscherspalte hängen geblieben. Er hatte die ganze Zeit die Vorstellung verdrängt, in einen eintausendsechshundert Meter tiefen Schacht hinabsteigen zu müssen. Eigentlich behauptete er von sich, kein Kandidat für Klaustrophobie zu sein, aber wer bekam kein ungutes Gefühl, so tief auf engstem Raum zu sein? Vielleicht wäre es halb so wild, wenn er erst mal unten war, aber der Gedanke, in eine breite Gletscherspalte hinabgelassen zu werden, empfand er als wesentlich angenehmer.

      Adrian hatte fast zwei Stunden Informationen, Kommentare und Interviews vor laufender Kamera gegeben. Annika hatte nach kurzer Zeit ihre Stative ausgepackt. Jenay konnte weder stehen noch zuhören. Aber nichtsdestotrotz konnte der Antarktisspezialist sich gut vor der Kamera verkaufen. Auf Annika wirkte er etwas selbstverliebt, und auch seine unerschütterbare Selbstsicherheit gefielen ihr nicht so gut. Jenay ging er sogar ziemlich auf die Nerven. Wie gut, dass sie dann auch ihr Ziel erreichten und Korbinian alle bat, sich wieder anzuschnallen. Die zwei Helikopter befanden sich im Landeanflug auf die südlichen Shetland Islands.

      Distanz 118

      Immer lauter werdende Schläge knallten durch die Luft. Da es gleich zwei dieser gigantischen Hubschrauber mit ihren noch gigantischeren achtblättrigen Rotoren waren, knallte es gleich doppelt so laut. Alfons Sergo, ein kleiner dürrer Mann, der nie Zahnersatz bekommen hatte und daher keine Schneidezähne mehr besaß, hielt sich bei dem Lärm die Ohren zu. Er hätte sicherlich in seiner kleinen, schiefen Wellblechhütte warten können, bis die Hubschrauber gelandet waren, aber durch die nie geputzten Fenster hätte er alles verpasst. Er wäre am liebsten selbst Pilot geworden, hatte aber wegen seines Glasauges nie einen Flugschein machen können. So gründete er eine kleine Außenpostentankstelle für kleine Transportmaschinen und Hubschrauber, die auf dem Weg zur Antarktis waren. Doch diese zwei MilMi26Helikopter gehörten zweifelsohne zu den größten Fluggeräten, die seinen Außenposten je besucht hatten. Alfons wollte gar nicht wissen, wieso seine Gäste nicht auf dem offiziellen Flughafen der südlichen Shetland Islands gelandet waren. Ab einem bestimmten Geldbetrag stellt man einfach keine Fragen mehr.

       Leandra und Helena fuhren fast synchron ihre Fahrwerke aus und setzten auf dem sehr unebenen Kiesrollfeld auf. Alfons humpelte, so gut es mit seinem Holzbein ging, der sich öffnenden Seitenluke aufgeregt entgegen. Wie gut, dass die Mil Mi26 über eine eingebaute Treppe verfügte, denn Alfons hatte keine. Bisher war es bei den kleinen Hubschraubern und Flugzeugen auch nicht nötig gewesen. Nachdem alle Scharniere der ausfahrbaren Treppe mit einem lauten Rasseln eingerastet waren, kamen auch schon die ersten Menschen aus dem Helikopter.

       Langsam nahm der Wind ab, den die herunterfahrenden Rotorblätter verursachten.

       Thomas war der Erste, der die Laderampe herunterlief, sobald sie ganz offen stand. Mit seiner Kamera und dem Stativ bewaffnet, entfernte er sich von den Hubschraubern, sodass er die Brandung am nahe liegenden Kiesstrand deutlich hören konnte. Mit routinierten Handgriffen war das Stativ schnell aufgestellt und die Kamera eingerastet.

       Annika wusste, dass ihr Vater sich sehr engagiert für die Außenaufnahmen einsetzte, daher ging sie es recht locker an und filmte entspannt, wie ihre Mitstreiter sich abschnallten und über die Laderampe nach draußen gingen. Doch dann drängte sich wieder Adrian ins Bild und wollte das Geschehen kommentieren.

       „Adrian, bitte, ich wollte einfach nur die Situation einfangen!“, sagte Annika mit einem erschöpft wirkenden Lächeln und stellte dabei die Kamera in den StandbyModus. Aber er schien vor Energie nur zu sprühen.

       „Du hast recht, wir sollten einen Plan, ein Art Drehbuch verfassen, um meine Moderationen gezielter einbringen zu können. Das könnten wir eigentlich gleich machen, so lange wir auftanken. An dem öden Strand verpassen wir sowieso nichts Weltbewegendes. Und ich habe Zeit.“

       Annika musste sich einen lauten Seufzer stark verkneifen. Der lange Monolog von Adrian während des Fluges hatte sie schon den letzten Nerv gekostet. Leider war sie zu gut erzogen, um jemanden vor den Kopf zu stoßen, und war gerade dabei, einzuwilligen, als sie von Jenay gerettet wurde.

       „Annika, dein Vater braucht dich draußen. Uns beide!“, fügte er schnell noch hinzu. Annika zuckte entschuldigend mit den Schultern und folgte Jenay aus dem Helikopter.

       „Da ich der Produzent und der Regisseur dieses Projekts bin, sollten wir uns zusammensetzen und über eine sinnvolle Einbindung von Moderationen reden. Ich habe auch jetzt Zeit“, drang plötzlich die wohl vertraute Stimme von Alexander Müller in Adrians Gehör. Er war in seine eigene Falle getappt. Adrian stand normalerweise über solchen Dingen, trotzdem