Alexander Stania

Icecore


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Dass Dr. Seegers Einfluss und Verbindungen bis in die Tiefen der Antarktis reichten, hatten sie schon mitgekriegt, aber scheinbar war die gesamte Station ein geheimer BlizzardStützpunkt. Dr. Seeger hatte die vergangenen achtzehn Jahre gut genutzt, um sich auf diese Sache vorzubereiten. Aber wo war er jetzt gerade? Wahrscheinlich weilte der ehemalige Bauunternehmer nicht das erste Mal hier und hatte sich in sein privates Quartier zurückgezogen. Sehr gesellig hatte Dr. Seeger auf Annika bisher nicht gewirkt.

      Distanz 113

      Nachdem sich alle etwas vom Buffet geholt hatten, wurde sogleich an den Tischen gegessen. Thomas und sein Anhang hatten sich um ein Ende der zwei Tische gesetzt. Alle außer Thomas hatten eine vertraute Person gegenüber von sich sitzen. Thomas’ Gegenüber war Sevrem Pajak, neben ihm Karlos Beretta, beides Bergbauingenieure. Thomas hätte am liebsten neben dem Systemadministrator Peter Wyssmann gesessen und sich weiter mit ihm über den technischen Ablauf der Mission unterhalten. Vielleicht konnte er den zwei Bohringenieuren auch interessante Informationen entlocken.

       „Diese große Gletscherspalte erspart uns jede Menge Arbeit. Auch wenn es der Cavecrawler in sechs Stunden in diese Tiefe schaffen könnte, würde es Ewigkeiten dauern, bis wir genügend Leute und Ausrüstung da runter geschafft hätten“, sagte Sevrem Pajak, dessen polnischer Akzent keinen Zweifel aufkommen ließ, woher er stammte. Er war ein großer schlanker Mann mit dunklen langen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er verkörperte das genaue Gegenteil seines Kollegen Karlos Beretta. Der Italiener war halb so groß, sehr breit gebaut, und statt einem Überschuss an Haarlänge hatte er einen dicken Schnauzbart, der bei geschlossenem Mund sogar etwas seine Unterlippe verdeckte.

       „Außerdem ist das Bohren in einer Eisdecke noch mal eine völlig andere Herausforderung als das Bohren durch Gesteinsschichten. Und bisher hat auch niemand ein so großes und tiefes Loch in die Antarktis gebohrt“, sagte Karlos in gut verständlichem Deutsch.

       „Wo liegen denn die Herausforderungen?“, wollte Thomas etwas genauer wissen.

       Karlos schaute ihn etwas verwundert an.

       „Die enorme Eisschicht der Antarktis ist nur aus gefrorenem Wasser.“ Karlos machte bewusst eine Pause, damit Thomas das Problem selbst erkannte. Thomas war über das breite Lächeln, mit welchem ihn der Italiener angrinste, so paralysiert, dass er nicht schnell genug antwortete.

       „Hier schmilzt einfach alles verdammt schnell wieder zu. Auch die große Gletscherspalte ist in spätestens zwei Wochen Geschichte. In dieser Eiswüste hat einfach nichts wirklich Bestand, außer es ist sehr tief von der Eisschicht umschlossen. Dann wiederum ist es konserviert für die Ewigkeit. Paradox, nicht wahr?“

       Trotz dessen hektischer Art versuchte Thomas, die Worte des Bergbauingenieurs zu verstehen.

       „Der Cavecrawler ist deshalb nicht einfach eine Tunnelgrabmaschine, sondern er schwimmt regelrecht durch die Eisschicht. Mit seinem beweglichen Laserbohrkopf und dem Kettenantrieb kann er sich jederzeit in alle Richtungen weitergraben, während das geschmolzene Wasser hinter ihm einfach wieder zufriert. Wir hätten den Cavecrawler eigentlich Untereisboot nennen sollen“, sagte Karlos mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.

       „Zu Beginn des Projekts waren wir noch damit beschäftigt, ein Tunnelfahrzeug zu entwickeln. Die Bestrebung, ein dauerhaftes Tunnelsystem zu erschaffen, verwarfen wir erst später“, versuchte Sevrem die Namenskreation zu verteidigen.

       „Außerdem ist der Energieverbrauch des Cavecrawlers noch viel zu hoch, um in einer vernünftigen Zeitspanne bis zum Zielort hin und zurück zu gelangen. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf eine Testfahrt mit unserem Baby.“ Mit diesen Worten strahlte er Karlos an, der ihm seine Vorfreude mit einem hektischen Nicken bestätigte.

       Thomas hingegen hoffte nur, dass er als Kameramann diese Fahrt nicht von innen miterleben musste.

      Distanz 112

      Nachdem alle gegessen hatten, erkundeten Annika und Jenay die Station. Beide hofften, ein ungestörtes Plätzchen zu finden, aber weil sie mit den vierundzwanzig anderen Reisenden die kleinen Unterkünfte dieser Station überschwemmt hatten, waren überall Menschen. Mit dem stationierten Personal kamen sie zurzeit auf über dreißig Personen. Die Anlage war für ein anspruchsloses Dutzend ausgelegt. Einige Verbindungsgänge, in denen keine Poster oder Plastikpflanzen standen, ähnelten den engen Räumen eines UBootes. Schweißnähte und dicke Schrauben stellten sich ungeniert zur Schau. Der Rest der Station, den Gäste sehen durften, erinnerte dank der Einrichtung an eine Ferienhütte. Im Aufenthaltsraum hingen sogar Gardinen.

       Da die Station fast aus allen Nähten platzte und sich wegen der überall unterhaltenden Parteien ein immer lauter werdender Geräuschpegel aufbaute, beschlossen Annika und Jenay, ihren orangefarbenen Außenschutz anzulegen, um Dr. Chakalakel zu besuchen, der sich außerhalb der Station aufhielt.

       Sie hatten fast zweimal die komplette Station umrundet, als sie dann endlich den Inder auf einem kleinen Schneehügel entdeckten. Trotz der orangefarbenen Schneebekleidung war Dr. Chakalakel leicht zu übersehen. Das lag zum einen an der grell reflektierenden weißen Schneelandschaft und zum anderen daran, dass sich das Wetter verändert hatte. Schneeverwehungen zogen sich wie kleine Flüsse über den antarktischen Boden, und es wurde zunehmend nebliger. Die Berge, die sie bei ihrer Ankunft noch sehen konnten, waren jetzt außerhalb nur noch graue Schemen, und die knallige Farbe der Schutzanzüge wirkte stark entsättigt. Tangatjen Chakalakel wirkte vor dieser endlosen weißen Schneekulisse wie der letzte Mensch auf Erden.

       Annika und Jenay positionierten sich neben ihm auf dem kleinen Schneehügel. Trotz der atemaktiven Gesichtsmaske, die Mund und Nase vor dem eiskalten Wind schützte, und der großen Sonnenbrille konnten sie ihm seine absolute Zufriedenheit ansehen. Seine ganze Körperhaltung sprach tausend Worte. Der Fellkragen der Kapuzen tanzte aufgeregt im Wind, der nirgendwo auf der Erde so frisch und rein war wie hier im Ewigen Eis. Das Geheul des Fallwindes war das einzige Geräusch. Doch plötzlich zerstörten die scharfen Schläge der Hubschrauberrotorblätter die majestätische Atmosphäre.

       Sie waren wieder bereit zum Aufbrechen.

      „Wieso haben die Helikopter diese Namen?“, fragte Thomas ohne ehrliche Neugierde in seiner Stimme.

       Korbinian blickte weiterhin unbeeindruckt durch seine halb geschlossenen Augen, die ihm sein müdes Aussehen verliehen.

       „Meinen Sie mit den Namen Helena und Leandra?“, gab er die Frage zurück. Thomas löste seine Augen wieder vom Ladebalken und nickte Korbinian zu.

       „Das sind die Namen von Dr. Seegers Töchtern. Oder das waren sie viel mehr. Sie sind ja tot“, sagte Korbinian knapp. Durch diese Information gewannen die zwei Hubschrauber plötzlich an Persönlichkeit.

       Die Sekunden zogen sich subjektiv dermaßen lange hin, dass Korbinian seinen Mund bereits für eine Frage öffnete. Doch dann verschwand der Ladebalken, und die ersehnte Meldung erschien. CameraBackup complete, die Videodaten waren endlich auf der externen Festplatte gespeichert. Sofort schaltete Thomas die Camcorder aus und fuhr das Raidsystem herunter, klappte alle Koffer zu, und Korbinian verstaute die Netzgeräte in der Tragetasche.

       Wie von der Tarantel gestochen, verließen sie das Stationsgebäude und verabschiedeten sich nur im Vorbeirennen von Oliver Tielago und der Kohnen2Crew, die draußen wartete. Der Lärm und der Wind der Helikopter brüllten ihnen entgegen, während sie die Heckladerampen hochrannten, die sich auch sogleich schlossen. Helena und Leandra hoben sich majestätisch vor der weißen Hochebenenkulisse der Antarktis in die Luft, kippten nacheinander nach vorne und beschleunigten. Nachdem sie ihr Trägheitsmoment überwunden hatten, schossen sie davon und hinterließen eine dichte Wolke aus aufgewirbeltem Schnee. Die KohnenCrew blickte ihnen noch eine Weile vom Boden aus hinterher.

      Distanz 111

      Thomas war erneut im Cockpit der Leandra und saß auf einem freien Sitz hinter den Russen Stanislav Kronos und Oleg Lokeskow. Da er in der Eile die HDKamera nicht mehr in den Koffer gepackt hatte, fing er gleich an zu filmen. Zum Glück hatte Korbinian die zweite Kamera mit in die andere Maschine genommen, sonst hätte Annika gar nichts tun können. Vor ihm aus dem Cockpitfenster konnte er deutlich Helena sehen, die vorausflog. Er schwenkte mit der Kamera am hellgrau gezackten Horizont entlang. Das mussten die Gipfel