Alexander Stania

Icecore


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vorbeiliefen und sich den zwei Tanklastzügen näherten, von denen Schläuche zu den Hubschraubern führten.

       „Der rennt überall herum und filmt“, antwortete Jenay, ohne sich zu ihr umzudrehen. Sie packte ihn bei der Hand, um ihn zu bremsen.

       „Ach was. Ich dachte, er sucht mich?“ Auf eine Antwort wartend, legte sie ihren Kopf in den Nacken und grinste ihn an. Jenay schaute sie an und erwiderte ihr schelmisches Lächeln.

       „Danke, dass du mich von diesem Antarktisspezialisten befreit hast!“

       „Mir ging er schon den ganzen Flug auf die Nerven, da dachte ich mir, dir vielleicht auch“, erwiderte Jenay.

       „Das hast du sehr aufmerksam beobachtet“, hauchte sie ihm entgegen, was Jenay wegen des Motorenlärms gar nicht mehr hörte. Das brauchte er auch nicht, da ihm Annikas Körpersprache deutlich zu verstehen gab, dass jetzt ein Kuss anstand. Ihre Lippen hätten sich auch fast berührt, wäre nicht in diesem Moment Thomas angekommen.

       „Tut mir leid, dass ich euch gerade jetzt unterbreche. Ich müsste mir mal Jenay und sein Mikro für ein Interview ausleihen. Dich könnte ich eigentlich auch gebrauchen.“

       Annika und Jenay wechselten noch kurz einen Blick.

       Aber Thomas kannte keine Gnade.

       „Los, wir müssen uns beeilen ? sobald die mit dem Tanken fertig sind, geht es weiter.“

      Distanz 117

      Alfons Sergo konnte zum Erstaunen von Thomas, Annika und Jenay auch etwas Deutsch. Seine Aussprache war aber so undeutlich, dass sie ihn nicht verstehen konnten. Thomas wollte mit dem Interview Informationen über die südlichen Shetland Islands, aber auch die restlichen Sprachen, die der kleine Mann angeblich gut beherrschte, führten zu keinem befriedigenden Ergebnis.

       Thomas hatte bereits einen anderen Kandidaten im Visier. Doch das Gespräch wollte er erst mal ohne Kamera führen. Er bedankte sich bei Alfons und entließ seine jungen Kollegen. Sein Blick schweifte zwischen den anderen Expeditionsteilnehmern umher, die sich um und zwischen den zwei Hubschraubern die Füße vertraten. Er hatte Mühe, seine Zielperson ausfindig zu machen, da sich alle in ihrer orangefarbenen Einheitskleidung sehr ähnelten. Nur Felix Armarkt stach mit seinem weißen Anzug wie immer heraus. Er konnte ihn nicht entdecken und beschloss, im Mannschaftshelikopter nachzusehen.

      Distanz 116

      Thomas hatte Helena über die Laderampe betreten. Sofort hatte er die gesuchte Person entdeckt. Außer Dr. Seeger waren nur Herr Müller und Adrian Kolarik an Bord. Beide waren in die Ausarbeitung eines Schriftstücks vertieft, welches Herr Müller auf seinem Schoß hatte. Dr. Seeger saß in der vordersten Reihe ganz alleine und beschäftigte sich, soweit Thomas dies beurteilen konnte, mit rein gar nichts. Aber er schien nicht zu schlafen, dafür war seine Haltung zu unentspannt. Thomas’ Gefühl sagte ihm, dass er diesen totgeglaubten Mann nicht stören sollte. Die Neugierde aber war stärker. Er ging geradewegs bis zur ersten Sitzreihe vor und kam dabei an den beiden arbeitenden Männern vorbei.

       „Gut, dass Sie gerade vorbeikommen, Sie wissen wahrscheinlich noch gar nicht, dass wir einen Moderator haben.“ Mit einer kleinen Handbewegung deutete er auf Adrian, der lässig neben Müller saß.

       „Wir haben gerade ein Konzept ausgearbeitet, an welchen dramaturgisch sinnvollsten Punkten meine Moderationen den Film am besten unterstützen“, sprudelte es aus Adrian heraus. Thomas schaute ihn ausdruckslos an, was den frisch gekürten Dokumentationsfilmmoderator etwas verunsicherte.

       „Ich glaube, mein Gesicht würde dem Film zu mehr Erfolg verhelfen. Vielleicht haben Sie mich auch schon mal in der einen Wissenschafts oder Outdoorsportsendung gesehen. Oder vielleicht ein Buch von mir gelesen?“

       Thomas rührte sich immer noch nicht. In seiner Karriere als Journalist und Kameramann war er genug aufgeblasenen Typen begegnet, die von sich behaupteten, ihr Gesicht kenne jedermann. Dabei kannte Thomas sogar Adrian Kolarik. Zwar nicht aus dem Fernsehen oder Büchern, sondern durch einen Fachvortrag über die Antarktis. Adrian konnte sein Wissen ganz gut vermitteln, aber die ständigen Versuche, etwas Humor mit in seinen Vortrag einfließen zu lassen, nagten sehr stark an den Nerven aller Zuhörer.

       „Ich finde, dass ein Moderator einem Dokumentarfilm die Glaubhaftigkeit nimmt. Besonders, wenn er prominent ist.“

       Adrian gefiel diese Meinung gar nicht, denn schließlich würde nicht nur der Film von ihm profitieren, sondern auch umgekehrt.

       „Ich bin aber ein anerkannter Forscher in diesem Fach. Die Pole der Erde sind mein Spezialgebiet, und das wissen sehr viele Leute.“

       „Ich finde, dass es eine gute Möglichkeit ist, dem Zuschauer über Adrian gezieltere Informationen zu vermitteln“, sagte Herr Müller.

       „Die Zusatzinformation erledigt ein OffSprecher, und der hat den Vorteil, dass wir seinen Text auf das geschnittene Material abstimmen und dass er nicht das halbe Bild verdeckt“, antwortete Thomas emotionslos, aber in einer Lautstärke, die auch Dr. Seeger verstehen musste.

       „Am besten wäre es, wenn die OffStimme vom Leiter der Expedition kommen würde.“ Damit hatte Thomas wohl die Aufmerksamkeit des kahlköpfigen Mannes erregt, der sehr viel Ähnlichkeit mit Clint Eastwood besaß. Dr. Seeger drehte sich zu den drei Männern um und fixierte ihn mit einem sehr ernsten Blick.

       „Mr. Nowak, setzen Sie sich doch für einen Moment zu mir, damit wir über die Sache reden können.“

       Adrian schaute Herrn Müller hilfesuchend an, als er diese Worte Dr. Seegers vernahm. Thomas entschuldigte sich höflich bei den beiden, stand auf und setzte sich dann in die vorderste Reihe.

       Thomas fühlte sich nicht wirklich wohl, neben dem Mann zu sitzen, der seit achtzehn Jahren seine Existenz geheim gehalten hatte und von dem er nur wusste, dass er einmal ein Bergbaumaschinen¬hersteller war und seine Familie bei einem Anschlag verloren hatte.

       „Soll ich Ihnen etwas verraten, Thomas? Ich brauche diesen Dokumentarfilm nicht, und ich möchte nichts damit zu tun haben. Der von mir eingesetzte Geschäftsführer fand es äußerst wichtig, um die hohen Kosten dieser Expedition abzufangen und vielleicht auch noch einen Gewinn zu erzielen. Ich will nur wissen, wofür meine Töchter und meine Frau gestorben sind. Was danach kommt, das heißt, ob meine Firma weiter existiert oder nicht, ist mir egal.“

       Thomas glaubte ihm jedes Wort. Der Einundsechzigjährige hatte es mit einer trockenen Gelassenheit gesagt, die keinen Raum für Humor oder Sarkasmus ließ.

       „Und was ist mit Ihnen? Sie sind auch nicht wirklich hier, um einen Dokumentarfilm zu drehen, nicht wahr?“

       Thomas wurde plötzlich klar, dass dieser Mann wahrscheinlich mehr über ihn wusste, als er gedacht hatte.

       „Sie haben recht, mich treibt ein ähnlicher Grund wie Sie an, aber ich werde trotzdem die Tätigkeit, für die ich angeheuert wurde, gewissenhaft ausüben.“

       „Das haben Sie schön gesagt, aber das ist mir auch egal. Mir geht es nur darum, dass Sie mit der gleichen Leidenschaft wie ich dieses Geheimnis aufklären wollen. Egal, wie viel wir riskieren müssen. Sind Sie dafür bereit?“ Dr. Seeger durchbohrte Thomas dabei mit einem sonderbar stechenden Blick. Thomas konnte nur an seine Tochter denken. Wäre sie nicht dabei, wäre er zu allem bereit.

       „Ich versuche auch seit achtzehn Jahren, Antworten auf das Verschwinden meiner Frau zu finden, und bin bereit, für diese Antworten viel zu riskieren, aber ich habe noch meine Tochter, und alleine ihretwegen kann ich nicht alles riskieren.“ Thomas versuchte, genauso emotionslos wie sein Gegenüber zu sein, doch das gelang ihm nicht.

       „Dass Ihre Tochter mitgeht, war nicht meine Entscheidung. Jetzt ist sie dabei, aber ich werde auf sie keine Rücksicht nehmen.“ Thomas begann sich zu fragen, wie weit sein Gegenüber wohl gehen wollte.

       „Wenn es Sie beruhigt, wir haben die modernste Technik und die besten Leute, die man für Geld kaufen kann. Glauben Sie mir, die meisten bei dieser Mission sind bereit, alles zu geben. Das wird dann schon reichen.“ Wie Thomas die letzten zwei Sätze verstehen sollte, wusste er nicht. Doch an diesem Tag noch sollte er sich ein klares Bild davon machen, mit welchen Leuten er es hier zu tun