Alexander Stania

Icecore


Скачать книгу

Peter Wyssmann hingegen sah diese Expedition nicht ganz so dramatisch. Obwohl er in diversen Firmen gearbeitet hatte, deren Personalzahl nicht selten die Tausend überschritt, hatte er bisher seinen Job als Systemadministrator nicht unter so abenteuerlichen und körperlich anstrengenden Bedingungen verrichten müssen. Wahrscheinlich hatte seine sehr gute körperliche Verfassung ihn von den Mitbewerbern für den Job abgehoben. Vielleicht war ihm auch sein Ruf als sportbegeisterter Fußballspieler, Freeclimber und Computerfachmann vorausgeeilt. Auf jeden Fall bereute er es bis jetzt nicht, mitgekommen zu sein. Die wahren Motivationen hinter dieser Expedition interessierten ihn weniger, solange es nichts Militärisches war. Dass Dr. Seeger nicht gut auf die USA zu sprechen war, gab ihm schon mal das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Er blickte von seinem Fenster zu dem ihm gegenübersitzenden Thomas und bemerkte dessen Aufregung.

       „Coole Sache, was?“

       Thomas drehte seinen Kopf zu Peter. „Sau cool!“

       Leandra hatte ihren Platz neben Helena eingenommen, und die beiden Megahelikopter schwebten majestätisch nebeneinander in fünfzig Metern Höhe über dem Rollfeld. Fast alle Menschen, die um diese Uhrzeit auf dem Frachtflughafengelände zu tun hatten, blickten in diesem Augenblick in die Richtung der Helikopter. Dann neigte sich Helena nach vorne und beschleunigte. Leandra tat es ihr nach, und beide sausten über den Flughafen hinweg und hinterließen in den Ohren ihrer Zuschauer noch den Nachklang der gewaltigen Rotorschläge. Die Hubschrauber flogen nach Süden über die chilenische Landschaft, bis sie die Küste erreichten. Über dem offenen Meer stiegen die Helikopter auf eine Höhe von eintausend Metern. In drei Stunden würden sie auf den südlichen Shetland Islands zum Tanken landen.

      Distanz 119

      „Wie wäre es, wenn Sie Ihre Kamera nehmen und mal ein wenig die Leute filmen?“ Alexander Müller hatte extra eine halbe Stunde gewartet, bis er Annika darauf ansprechen wollte.

       „Dürfen wir denn hier einfach herumlaufen?“, antwortete sie etwas zögerlich. Alexander wollte antworten, doch Adrian schnitt ihm das Wort ab. „Na klar, sollten wir heftige Turbulenzen erwarten, werden es uns die Piloten schon sagen.“ Adrian streckte sich ihr entgegen und hing schon fast über Alexander, der zwischen ihnen saß.

       „Wie wäre es, wenn du mit mir anfängst und ich ein paar wissenschaftliche Informationen über unsere Expedition in die Kamera spreche?“

       „Ja, wieso nicht“, entgegnete sie ihm mit einem Anflug von Begeisterung, die Herr Müller nicht teilte.

       „Ich persönlich wollte eigentlich die Rolle des Moderators übernehmen“, mischte sich Alexander ein. Für diese Worte erntete er von Adrian ein bewusst gekünsteltes Lächeln.

       „Bei allem Respekt, Herr Müller, aber … ich denke, als Produzent und Regisseur haben Sie bereits alle Hände voll zu tun.“ Adrians Versuch, Alexander Müller auf schmeichelhafte Art davon abzubringen, auch noch die Moderation zu übernehmen, wurde von dem Geschäftsmann sofort durchschaut. Aber er musste ihm recht geben. Adrian hatte schon einige Bücher veröffentlicht und war sogar in der ein oder anderen Talkshow aufgetreten. Er war jedenfalls besser geeignet als er, den die Öffentlichkeit noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Solange Adrian nicht auch noch eine prozentuale Beteiligung verlangte, sollte es ihm recht sein.

       „Na, dann zeigen Sie mal, was Sie können, Mr. Kolarik.“ Alexander lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück und ließ ihnen freien Lauf.

       Adrian setzte ein Denkergesicht auf und blickte Annika mit klarem, entschlossenem Blick in die Augen.

       „Ich habe eine gute Idee, wie wir beginnen können.“

       Beide schnallten sich ab, und Annika folgte ihm mit ihrer Kamera in den hinteren Teil des Helikopters. Dort, wo auch Jenay saß.

       Der junge Inder hatte den ersten Teil der Reise durch das kleine Seitenfenster der Maschine geschaut, bis ihm die Unterhaltung in der ersten Reihe aufgefallen war. Er konnte wegen den sich unterhaltenden Expeditionsmitgliedern zwischen ihnen nichts verstehen. Trotzdem bekam er mit, dass sich Annika und Adrian unterhielten. Dumme Eifersucht verdrängte das rationale Denken, und er verlor immer mehr die Fähigkeit, den zwei alten Freunden, die neben ihm saßen, zuzuhören. Sein Blick war permanent damit beschäftigt, sich eine freie Sicht durch den Wald wackelnder Köpfe zu suchen. Doch als die zwei von ihren Plätzen aufstanden und dann nach hinten zu ihm kamen, wandte er rasch seinen Blick an Tangatjen und Octavian und tat so, als ob er ihnen zuhörte.

       „Hey, du bist doch der TonAssi. Du kannst gleich mal dein Mikro schnappen und dich bereitmachen für eine Anmoderation!“

       Jenay hatte das mit dem TonAssi nicht ganz verstanden, aber er verstand doch ganz gut, was der große, breit grinsende, blonde Antarktiskasper von ihm wollte. Nicht nur er war darüber sprachlos, mit was für einer herablassenden Art er ihm Anweisungen erteilte. Annika war es sehr peinlich, und so eine Situation musste unbedingt geklärt werden. „Das ist nicht mein Tonassistent. Jenay ist Geologe und hilft uns nur.“

       Adrian hatte sofort bemerkt, dass sein Auftreten bei ihr alles andere als gut ankam.

       „Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Hilfst du uns trotzdem bei den Tonaufnahmen? Wir können doch Du zueinander sagen, oder?“ Adrian redete extra etwas schnell und viel, um sein Gegenüber auszuloten, um zu merken, wie viel er von der deutschen Sprache verstand.

       Jenay hatte diesmal alles verstanden und ärgerte sich darüber, dass er wieder mal viel zu schnell bereit war, einem Schlaumeier zu verzeihen. Er nickte und griff nach der Tasche mit dem Mikrofonequipment zwischen seinen Füßen.

      In einem Abstand von ein paar Hundert Metern flog Leandra ihrer Schwester Helena hinterher. Sie hatten nicht ansatzweise die Flughöhe einer Linienmaschine, und der Ausblick, den Thomas aus dem Cockpit hatte, ähnelte dem eines Kreuzfahrtschiffs auf hoher See. Er hatte seine Dreharbeiten fürs Erste abgeschlossen und unterhielt sich mit den beiden russischen Piloten Stanislav Kronos und Oleg Lokeskow. Der Kapitän dieser Maschine, Stanislav Krono, war mit dreiundfünfzig Jahren für einen Piloten schon in einem sehr gehobenen Alter. Der vollbärtige Russe mit dem dichten lockigen grauen Haar und den tiefliegenden dunklen Augen versicherte Thomas in Form kleiner Flugabenteuererzählungen, dass er noch richtig fit war, was seinen Beruf anging. Sein Copilot Oleg Lokeskow übersetzte alles in einem akzentuierten, aber gut verständlichen Englisch. Thomas fragte sich, ob die dicken Siegelringe mit russischen Zeichen, welche der Kapitän um jeden Finger trug, nur protziger Schmuck waren oder eine bestimmte Bedeutung trugen. Jedenfalls unterschied es ihn stark von seinem Copiloten, der gar keinen Schmuck trug. Oleg Lokeskow war neunundzwanzig Jahre alt und wirkte durch sein rundes, freundliches Mondgesicht mit der spitzen Nase und den wenigen kurzen Haarstoppeln auch etwas älter.

       In zwei Stunden würden sie ihre erste Etappe erreicht haben, und Thomas beschloss, sich noch etwas mit dem Systemadministrator zu unterhalten. Peter Wyssmann befand sich gerade im hinteren Teil der Maschine und saß in einem der Fahrzeuge, die von der grauen Plastikplane abgedeckt waren. Thomas konnte außer der massiven Metalltür, die nach oben aufklappte, auch nicht viel von dem Fahrzeug erkennen. Es schien auf jeden Fall kein Auto zu sein, eher so etwas wie ein Panzerwagen.

       „Darf man fragen, was Sie gerade machen?“, fragte Thomas den Computerfachmann, dessen Laptop auf seinen Knien ruhte. Thomas konnte zwar keine Kabel sehen, die den Laptop mit dem Bordcomputer des Fahrzeugs verbanden, aber er verstand genug von Computern, um zu erkennen, dass irgendeine kabellose Verbindung bestand. Peter war die Freundlichkeit und Offenheit in Person und hatte somit keine Probleme, über seine Tätigkeit zu reden.

       „Ich mache nur ein paar SoftwareUpdates bei den Fahrzeugen. Wir haben gestern Nacht noch die neuesten geologischen und geografischen Vektorkarten von unserem Zielgebiet bekommen. Thermografische Schichtenmessungen als Voxeldateien für unsere 3DGeonavigationssysteme. Sehen Sie.“ Peter drehte den Laptop so, dass auch Thomas das Display studieren konnte. Die grafische Benutzeroberfläche ähnelte dem Programm, das seine Tochter für ihre Arbeit benutzte, aber für ihn als Laien sahen sich wahrscheinlich alle 3DProgramme ähnlich. Zu viele Knöpfe und meistens ein Fenster, in dem etwas Räumliches dargestellt wurde. In diesem Fall war es ein Querschnitt durch den Gletscher. Es entsprach einer dieser 3DGrafiken, die er aus der Kernspintomografie her kannte.