Alexander Stania

Icecore


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Die Ärzte geben mir noch höchstens ein Jahr. Dann ist es vorbei.“ Ein kurzes Schweigen und ein verständnisvoller Blick ohne falsches Mitleid begegneten Tangatjen.

       „Es tut mir sehr leid, alter Freund. Wie du gesagt hast, wir haben viel erlebt, und diese Reise wird nicht nur der Höhepunkt deines Leben sein, sondern auch der meines. Ich bin sehr stolz darauf, diese Expedition mit dir machen zu können.“ Mit diesen Worten hob Octavian seinen Becher Tangatjen zum Prost entgegen.

      Distanz 125

      Um halb acht trafen sie sich wieder zum Abendessen im Speisesaal. Zu ihnen an den runden Plastiktisch, der mit einer minderwertigen Tischdecke bedeckt war, hatte sich Octavian Goga gesellt. Der Biologe war Jenay, Annika und Thomas auf Anhieb sympathisch. Sie unterhielten sich sehr angeregt, während sich am Buffet eine lange Schlange gebildet hatte. In dem rechteckigen, zwanzig mal zwanzig Meter breiten Raum hatten sich schon vor ihnen einige Leute eingefunden. Grob geschätzt waren es etwa zwanzig bis dreißig Menschen. Annika fragte sich, ob das alles Expeditionsteilnehmer waren. Auf jeden Fall war sie die einzige weibliche Person, da die Russin Mascha nicht anwesend war. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, da sie permanent das Gefühl hatte, angestarrt zu werden. Besonders fiel ihr eine große, dunkel gekleidete Person auf, die sie leicht an Clint Eastwood erinnerte. Er saß etwa zehn Meter weit von ihrem Tisch entfernt, dennoch hatte sie den scharfen Blick bemerkt. Annika versuchte, sich wieder auf ihre Tischrunde zu konzentrieren. Sie hatte nicht das Gefühl, hier willkommen zu sein. Das sanfte Lächeln von Jenay, der ihr gegenüber saß, ließ sie sich schnell an das angenehme Gefühl erinnern, als es offensichtlich zwischen ihnen geknistert hatte. Es war kaum eine halbe Stunde her, als sie sich beide ihrer Gefühle zueinander bewusst geworden waren. Bevor sie diese Tatsache aussprechen konnten, waren sie allerdings unsanft vom Klopfen ihres Vaters gestört worden. Annika hatte mit solch einem emotionalen Sturm nicht gerechnet. Aber wieso auch nicht.

       „Ich denke, wir können uns auch mal anstellen“, sagte Dr. Chakalakel voller Vorfreude auf das Essen.

       „Das finde ich auch, die Schlange hat sich schon fast aufgelöst. Na, hoffentlich ist noch was übrig geblieben“, unterstützte ihn sein alter Freund, Dr. Goga. Doch gerade als sie sich alle in Bewegung setzen wollte, wurden sie wieder ausgebremst.

       Eine tiefe Männerstimme setzte sich über den Lärm im Speisesaal hinweg. Sie war so markant, dass in wenigen Sekunden Ruhe im Raum eingekehrte. Denn jeder wusste sofort, wer da sprach. Der dunkel gekleidete Mann, der Annika gemustert hatte.

       Das Quietschen von Scharnieren, die seit Jahrzehnten nicht geölt worden waren, zerschnitt die gerade erst eingekehrte Stille. Die Türen des Speisesaals wurden von zwei Angestellten des Hotels geschlossen.

       Der kahlköpfige Mann blickte ohne das geringste Lächeln in die Runde.

       „Heute Nachmittag sind die letzten Expeditionsteilnehmer eingetroffen. Das Team ist nun komplett. Da ich kein Freund von unnötigen Leerlaufzeiten bin, nutze ich dieses Abendessen gleich dazu, die weiteren Schritte der Expedition anzukündigen.“ Er legte eine Pause ein, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu vergewissern. Tangatjens und Octavians Blicke trafen sich fast gleichzeitig. Keiner sagte etwas, aber in ihren Gesichtern lasen sie dieselbe Frage. Thomas, Annika und Jenay warteten unbeeindruckt darauf, dass sich diese Person als Alexander Müller, Geschäftsführer von DDC, vorstellen würde. Doch Tangatjen und Octavian hatten einen anderen Verdacht.

       „Mein Name ist Dr. Seeger, Leiter dieser Expedition, Oberhaupt und Gründer von Blizzard.“ Dr. Seeger deutete mit einer Geste zu der blonden Person, die rechts neben ihm saß.

       „Mit meinem Geschäftspartner und Geschäftsführer von Deep Digging Constructions, Herrn Alexander Müller, haben die meisten schon telefonisch Kontakt gehabt. Er wird auch in diesem Projekt alles Finanzielle regeln und ein Auge auf unser Budget haben.“ Dabei huschte Dr. Seeger ein leicht angedeutetes Lächeln über die Lippen. Annika wurde dieser Mann dadurch nicht unbedingt sympathischer.

       Dr. Seeger war gerade dabei, den Mann zu seiner Linken vorzustellen. „Sollten Sie Fragen zum Ablauf und zur Koordination haben, dann fragen Sie ihn hier. Das ist Korbinian Regenfus, unser Missionssupervisor.“ Der Durchschnittseuropäer, dessen einzige Auffälligkeit sein permanent verschlafener Blick bildete, stand auf. Die verstrubbelte Frisur und das zu große, zerknitterte Hemd verstärkten den Eindruck einer Person, die gerade in ihren Sachen aufgewacht war. Korbinian nickte Dr. Seeger kurz zu, und er erwiderte das Zeichen ebenfalls mit einem Nicken. Nun übernahm der Supervisor das Wort. In seiner Simme erklang zur Verwunderung derjenigen, die ihn nicht kannten, ein frischer, aufgeweckter Ton.

       „Wie Dr. Seeger bereits gesagt hat, ist er keine Person von langen Leerlaufzeiten. Aus diesem Grund gab er mir vor ein paar Stunden grünes Licht für den Start unserer Mission. Am liebsten wäre ihm, wir würden sofort nach dem Abendessen aufbrechen.“ Mit seinem müden Blick lächelte er Dr. Seeger an, im Glauben, dass dieser seinen kleinen Witz humorvoll aufgenommen hatte. Doch in dem Gesicht des kahlköpfigen Mannes war keine Spur einer Emotion zu entdecken. Durch Dr. Seegers schmale Augenschlitze konnte er dessen Augen fast gar nicht sehen. Schnell und etwas verunsichert wendete sich Korbinian wieder seinen Zuhörern zu.

       „Da einige von Ihnen bisher noch keine Antarktiserfahrungen gemacht haben, können wir erst übermorgen aufbrechen. Wir nutzen den morgigen Tag, damit kleidungs und ausrüstungstechnisch alles auf den richtigen Stand gebracht werden kann. Morgen früh werden nacheinander alle von uns mit neuer Ausrüstung eingedeckt. Hierfür haben wir extra für uns alle einen Container voller Ausrüstung einfliegen lassen, der drüben im Hangar steht. Sollten Sie allerdings noch spezielle Fragen haben, dann wenden Sie sich an unseren Antarktisspezialisten.“ Er streckte seinen linken Arm aus und wies mit offener Handfläche in die Richtung eines gut aussehenden, sonnengebräunten Mannes Mitte dreißig. Dieser Mann stand ebenfalls auf und schickte ein strahlendes Lächeln durch den Raum. Obwohl er wie Korbinian weite Kleidung trug, wirkte er eher sportlich und agil. Korbinian wollte gerade mit seinem Vortrag fortfahren, als der sportliche Mann ihm das Wort abnahm.

       „Mein Name ist Adrian Kolarik. Vielleicht kennen einige von Ihnen mein Gesicht bereits aus dem Fernsehen oder haben vielleicht ein Buch von mir gelesen. Sollte einer von Ihnen eine Frage haben, dann stehe ich jederzeit bereit, sie zu beantworten. Schließlich ist unser Zielort alles andere als ein Ferienparadies!“ Mit diesen Worten setzte sich der große durchtrainierte Mann. Korbinian mochte es eigentlich gar nicht, wenn ihm jemand einfach ins Wort fiel. Vor so vielen Leuten konnte er aber nicht den Beleidigten heraushängen lassen. So schluckte er seinen Ärger herunter. Er setzte gerade wieder an, seine Rede weiterzuführen, als ihm Dr. Seeger über den Mund fuhr.

       „Übermorgen, um sechs Uhr früh, werden wir aufbrechen. Jeder, der dabei sein möchte, sollte spätestens um fünf Uhr früh im Hangar neben dem Flughafenhauptgebäude sein. Etwas zu essen und genauere Informationen gibt es unterwegs.“ Dr. Seegers Blick blieb an dem Tisch haften, an dem sich Thomas und seine Begleiter befanden, wobei Annika das Gefühl hatte, er würde nur sie ansehen. Dann sprach er weiter.

       „Und das Dokumentationsfilmteam möchte ich mindestens eine Stunde früher mit kompletter Ausrüstung dorthaben. Herr Müller wird dann mit Ihnen alles Weitere besprechen. Wir sehen uns in zwei Tagen.“ Dr. Seeger verließ seinen Platz. Er lief zwischen den Tischen hindurch und verschwand durch die Eingangstür des Speisesaals.

       Alle schauten ihm verdutzt nach. Hatte er überhaupt etwas gegessen? Dr. Chakalakel beugte sich fast bis zum Zentrum des runden Tisches.

       „Wisst ihr, wer das war?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

       „Ich würde sagen, das war unser Boss“, sagte Jenay unbeeindruckt und lächelte Annika frech an.

       „Ich weiß es“, sagte Thomas mit ernster Mine. „Dr. Seeger ist der ehemalige Geschäftsführer von Seeger Bergbau. Den alle für tot halten. Das erklärt einiges.“

       „Ach ja? Was erklärt es überhaupt?“ Annikas Frage kam etwas ruppig, aber sie wollte jede Art von Mystifizierung im Keim ersticken.

       „Auf diesen Namen bin ich bei meinen Recherchen öfter gestoßen. Hat mir auch Ärger eingebracht. Tangatjen hat es uns schon einmal erzählt. Diese Firma entwickelte wie die DDC sehr fortschrittliche