Alexander Stania

Icecore


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gerissen. Die Auswertung des völlig unbekannten Objekts lässt keine kalkulierbaren Gewinne erwarten. Wenn überhaupt ein Gewinn aus dem Fund gemacht werden kann. Deshalb sollten wir doch wenigstens dafür sorgen, dass wir etwas nach Hause bringen, was uns wenigstens etwas Geld einbringt.

       Und wenn ich dich daran erinnern darf: Ein gut gemachter Dokumentarfilm kann gewaltig viel Geld einbringen. Er sollte allerdings von Profis gemacht werden. Vielleicht beruhigt es dich ja, dass ich mit Korbinian und Pilot Stanislav Kronos gesprochen habe. Und sie gaben mir ihren Segen.“

       „Wäre nur schön gewesen, wenn du dir auch meinen Segen geholt hättest. Du trägst jedenfalls die volle Verantwortung für sie!“, sagte der kahlköpfige Mann, während er mit seinen rechten Fingerspitzen seine Schläfe berührte, als hätte er Kopfschmerzen.

       „Bernhard, ich weiß, dass die Planung dieses Projekts dein einziger Lebensinhalt in den letzten neunzehn Jahren war, aber irgendwann ist es zu Ende, und dann sollte man einen Plan für die Zukunft haben.“ Alex versuchte, seine Stimme so verständnisvoll wie möglich klingen zu lassen, da Bernhard meistens sehr empfindlich auf seine wahren Beweggründe reagierte.

       „Dafür hab ich ja dich“, musste er zugeben, denn er wusste, dass letztendlich nicht alles er zu entscheiden hatte. Besonders, was die Finanzierung seiner Mission anging.

      Distanz 128

      Ein Stockwerk darüber befand sich Thomas’ Quartier. Er hatte sich so lange damit beschäftigt, welche seiner Sachen er in die Hotelschränke einräumen sollte, dass er es aufgegeben hatte, sich über ein Nickerchen Gedanken zu machen. Normalerweise räumte er seinen Koffer sofort aus, oder er ließ alles drin. Das hing davon ab, wie lang er blieb. Doch hier war ihm nicht klar, wann die Reise weitergehen sollte. Es war nicht mal klar, wie es weitergehen würde und ob sie vielleicht dieses Hotel als Basis verwendeten. Denn wenn sie von hier direkt in die Antarktis aufbrachen, sollte er noch mal genauestens über die Ausrüstung nachdenken. In der Antarktis war jedes Gramm zu viel Gewicht, und er hatte jede Menge schwere Akkus für die Kameras dabei. Zwei externe TerabyteFestplatten für das ganze HDBildmaterial, welches in einer progressiven Auflösung von 1920 x 1080 schnell viel Speicherplatz fraß. Einen Koffer für verschiedene Objektive, Lichter und Mikrofone. Diese brauchten wiederum Akkus und Netzgeräte zum Anschließen an einen mobilen solarbetriebenen Stromgenerator. Überhaupt fühlte er sich von einer Netzteillawine überrollt. Laptop, PDA, Camcorder, Digitalkameras, Lichter, Elektrozahnbürste, MP3Player, PSP und das Mobiltelefon brauchten jeweils eines. Auf das Handy und ein paar weitere Geräte konnte er im Ewigen Eis verzichten. Aber konnte er es hier lagern? Auch bei der Bekleidung konnte er etwas abspecken.

       Er entschloss sich dazu, das KickoffMeeting abzuwarten, welches allerdings erst für morgen angekündigt war. Für den heutigen Abend reichten frische Kleidung und sein Kulturbeutel. Er kramte in seinem Koffer ziellos herum. Irgendwann hielt er das Bild von Verena und Annika in seinen Händen. Es stand normalerweise in seiner Wohnung, neben seinem Bett. Es zeigte die beiden an dem Tag am Flughafen, an dem er sie gehen ließ und das letzte Mal gesehen hatte. Er machte es sich wirklich nicht leicht, sie loszulassen. Im linken Arm hielt sie die kleine, neun Jahre alte Annika umarmt, und in der rechten Hand hielt sie das rote Tagebuch. Er stellte das Foto auf das Nachtkästchen des Hotels. Thomas hätte eigentlich kein Bild von ihr gebraucht. Er hatte ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen und für Gesichter ein annähernd fotografisches Gedächtnis. Durch dieses Talent war er Fotograf geworden und seine Tochter 3DKünstlerin. Diese Gabe ließ auch Verenas Erinnerung nie verblassen.

       Er war tatsächlich verrückt geworden. Ein hoffnungslos verrückter Romantiker ohne Aussicht auf ein Happy End. Er schaute dem Abbild Verenas auf dem Foto in die Augen und sprach:

       „Wenn diese Reise vorüber ist, werde ich dich gehen lassen.“ Dann packte er seinen blauen Kulturbeutel und die frischen Sachen und verließ sein Zimmer, um zum Gemeinschaftswaschraum zu gehen.

      Distanz 127

      Ein Zimmer neben Thomas schaute Jenay aus dem Fenster von Annikas Hotelzimmer. Er blickte nicht aus Interesse nach draußen, sondern versuchte aus Höflichkeit, seinen Blick von Annika abzuwenden, während sie ihren Skianzug anlegte. Er hatte ihr versprochen, einen Blick auf dessen Antarktistauglichkeit zu werfen. Doch in seinem tiefsten Inneren wuchs eine angenehme Erregung, welche er wiederum mit seiner anerzogenen Zurückhaltung zu unterdrücken versuchte.

       Etwas jenseits der Hauptstraße half ihm dabei, seine Konzentration aufrechtzuerhalten. Gegenüber dem Hotel lag der kleine Transportflughafen, an dem sie angekommen waren. Davor erstreckte sich die Straße, die der dreiste Taxifahrer mit ihnen entlanggefahren war. Gerade jetzt fuhr dort ein Sattelschlepper mit einem etwa acht bis zehn Meter langen Anhänger. Das Besondere dieses Fahrzeugs bildete die Fracht, welche unter grauen Planen auf dem Anhänger mit Sicherungsgurten festgeschnallt war. Jenay schätzte aufgrund der Umrisse, dass sich größere Geräte unter den Planen befanden. Vielleicht irgendwelche Baustellenarbeitsgeräte wie Bagger oder Planierraupen. Er schaute dem Transporter hinterher. Zwischen dem Hauptgebäude und den großen Hangars verschwand das Fahrzeug mit seiner geheimnisvollen Fracht. Irgendwie wirkte dieser Transport leicht verstohlen auf Jenay.

       „Du kannst dich umdrehen“, erklang Annikas angenehme Stimme.

       Er drehte sich langsam um und blickte Annika in ihrem enganliegenden Skianzug an. Der Schnitt betonte ihre weiblichen Rundungen auf natürliche Weise, ohne sie beim Betrachter als gewollt aufdringlich wirken zu lassen.

       „Sehr schön“, holperten verlegen die zwei Worte über Jenays trockene Lippen.

       „Und findest du, das reicht für die Antarktis?“, fragte Annika, während sie ihren Kopf leicht zur Seite kippte und ihn mit ihren großen grünen Augen kritisch ansah.

       „Ich hoffe doch“, sagte er mit noch trockener Kehle, als würde er gleich verdursten.

      Distanz 126

      Tangatjen hatte ein sehr ähnliches Zimmer wie die anderen. Lediglich der Grad der Abnutzungserscheinung und das Muster des Teppichs verliehen dem Zimmer etwas Individuelles.

       Den einzigen Stuhl im Raum hatte Tangatjen seinem alten Freund Octavian angeboten. Er selbst saß auf dem Bett. Beide tranken aus Plastikbechern einen Balvenie Double Wood, den Tangatjen noch am Flughafen von Puerto Montt gekauft hatte. Leider hatte er keine vernünftigen Whiskygläser mehr bekommen und musste zu diesem Kompromiss greifen. Octavian hatte damit keine Probleme, und so unterhielten sie sich entspannt und genossen den zwölf Jahre alten Whisky.

       Sie redeten viel über vergangene Reisen, lästerten über Kollegen und deren Vorträge sowie Veröffentlichungen. Natürlich rätselten sie über die bevorstehenden Ereignisse. Octavian schimpfte über einen in seinen Augen nicht anerkannten Wissenschaftler, Adrian Kolarik, der sich hier als MöchtegernAntarktisspezialist ausgab. Dieser junge Mann war in seinen Augen höchstens Skilehrer gewesen. Er hatte aber des Öfteren den Süd und Nordpol bereist und anschließend langweilige Reiseberichte verfasst. Da bis jetzt kein anderer ernst zu nehmender Wissenschaftler anwesend war, musste er sich mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer herumärgern. Octavian erzählte seinem Gegenüber auch von den Missionsteil¬nehmern, die er sonst noch kennengelernt hatte, und Tangatjen hörte aufmerksam zu. Doch seine Gedanken, leicht vom Alkohol vernebelt, schweiften langsam von den Worten seines Freundes ab. Sie zogen ihre Bahnen zu tiefer liegenden Sorgen und vergrabenen Ängsten. Ängste, die er unter anderen Umständen immer gut verdrängen konnte.

       „Die Zeit vergeht wie im Flug, alter Knabe. Viel haben wir gesehen, aber das wird wahrscheinlich mein letzte Reise werden“, sagte Tangatjen in einer neuen, schwermütigeren Tonart.

       „Wie alt bist du noch mal? Ein Geologe wie du wird sich doch erst zur Ruhe setzen, wenn ihm jemand die Beine abhackt“, entgegnete Octavian, der die Melancholie in Tangatjens Stimme nicht bemerkt hatte. Der Inder blickte gedankenverloren in seinen Plastikbecher voller Whisky. Niemanden außer seiner Haushälterin in Indien hatte er bisher davon erzählt. So war er nun mal. Die zwei Becher Whisky ließen ihn melancholisch werden.

       „Du darfst es den anderen nicht verraten, es würde sie nur unnötig verunsichern. Außerdem hätte es für diese Expedition keine Bedeutung.“ Octavian ahnte bereits, was Tangatjen sagen wollte, und setzte