Charles Keller

Böse Welt


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die ohnehin nicht ganz funktionstüchtigen Augen. Zumindest einmal wusste er auf Anhieb, wo er war.

      Immer, wenn er in der Folge auch nur ganz kurz, versuchsweise eher, aufblinzelte, sah er, wie der ansonsten untätige Beobachter die lässige Hab-Acht-Stellung fix mit angestrengter Konzentration anreicherte, und fragte sich – von Mal zu Mal interessierter – warum wohl?

      Bald konnte Gregor den jungen Mann astrein erkennen; sogar bekannt kam der ihm vor. Nahezu gesichert hingegen schien ihm – mit zunehmender Rückkehr klaren Gedankenguts – dass etwas vorgefallen sein müsse, was diese unverkennbare Sonderbewachung zwingend nötig mache.

      „Tut mir Leid, aber ich ....!“, schauspielerte er bereits wieder grandios – und gleichermaßen effektiv.

      „Ach was, keine große Sache, .... ist ja noch mal gut gegangen!“

      Ganz ungeniert – und ausführlich – rekapitulierte nun der Azubi, wie sich zudem herausstellte, die schrägen Ereignisse, die sich von alleine sicher nie mehr im krankhaft wissbegierigen Patientenhirn eingefunden hätten. In hohem Bogen vom intensivstationierten Bett gesprungen sei er – im postoperativen Drogenrausch zum ambitionierten Leichtathleten mutiert – von allen guten Geistern verlassen und völlig losgelöst – nun ja, von allen Schläuchen und Käbelchen in erster Linie. Eben noch rechtzeitig habe man ihn gefunden – abermals ordentlich blutend, mit ausgerissenen Drainagen – um ihn gleich noch einmal auf ein halbes Stündchen in den OP zu verfrachten.

      „Sapperlot! .... ganz schöne Action, kann ich ihnen sagen!“

      „Mensch, Junge, was machst denn du für Sachen?“

      „Ich bin mir – ausnahmsweise – mal keiner Schuld bewusst, aber – dir auch einen schönen Tag, Vater!“

      Mit Ach und Krach vermochte er sich daran zu erinnern, wie man ihn letztlich noch nach der Nummer eines Verwandten gefragt hatte, bevor ...., und gleichfalls, dass er in dem Moment kaum Herr seiner Sinne gewesen sein könne. Ansonsten hätte er sich gewiss für die seiner Schwester entschieden und dem alten Herrn die Chance auf eine feinfühligere Benachrichtigung gegeben.

      „Weißt doch, bei unsereiner wird selbst die klitzekleinste Reparatur zur Herausforderung für die halbgöttliche weiße Klempnerzunft!“

      Zwar ging sein Erzeuger, wie immer, nicht auf die geringschätzige Haltung gegenüber jeglicher großkopfig-germanischer Instanz ein, brachte dennoch seine Freude darüber zum Ausdruck, dass dem anämischen Bleichgesicht bereits wieder nach Scherzen zumute war.

      Nicht mit dem geringsten Wörtchen bedacht wurde erwartungsgemäß der tolldreiste Hechtsprung bei der alsbaldigen ärztlichen Visite – die dann zumindest dem wortkargen, aber erleichterten Besucher günstigste Gelegenheit lieferte, sich aus dem ungeliebten klinischen Staube zu machen.

      „Ade, mein Sohn, und gute Besserung!“

      Nicht zuletzt im Sinne des redselig-verräterischen Pflegeschülers verzichtete Gregor seinerseits auf die Erwähnung dieses erneuten, höchst nachlässigen Vorfalls.

      Ungeheuerlicherweise gedieh die Inspektion zu einer (fremd)wortgewaltig ausufernden Eigenlobhudelei, wie sie selbst unter besoffenen Automechanikern nicht großspurig-lächerlicher hätte geraten können.

      Im Nu fühlte er sich zurückversetzt auf seinen gymnasialen Schulhof, umringt von all den erbakademischen Kotzbrocken, die dort bereits ihre kaum mehr zu verhindernden Nobelpreise verbal in Angriff nahmen. Gut – die famosen Künste des Anästhesisten dürften schon auch noch mit dazu beigetragen haben!

      „So, mein Herr, jetzt dürfen sie ....“

      „Nach Hause?“

      „.... auf Station natürlich nur!“

      Nach drei Tagen Intensivbetreuung wurde er nun aber so was von fix abgekabelt, mit seinen Habseligkeiten bedeckt und grußlos beim Lift zur Abholung bereitgestellt.

      Vielleicht mochte die unüberhörbare ambulante Pressanz kurz zuvor, das cholerische Geschrei des obersten Gefäßmetzgers und die gewisslich nur übersehene Blutschliere an der Flurwand ja gar nichts mit dem unvermittelten Rauswurf zu tun gehabt haben – aber wahrscheinlich eher doch.

      Wenigstens kam er auf die Art gerade noch rechtzeitig in die Nähe eines Fernsehers, um einer vergleichsweise professionellen, blitzsauberen Operation ansichtig zu werden. Mitten in einer dieser kreuzlangweiligen Nachmittagssendungen wurde man per Live-Schalte ins spätsommermorgendliche New York verschickt, wo sich justament ein ausgewachsenes Linienflugzeug in einen der Bürotürme des World-Trade-Centers gebohrt hatte.

      Für etliche Minuten herrschte eine gespenstische Stille im 3-Bett-Zimmer – nur der TV-Reporter wollte ums Verrecken sein Maul nicht halten, kommentierte auch noch die hundertfünfzigste Wiederholung des todbringenden Vorgangs mit Inbrunst.

      Wie man sich eben vom ersten Schock erholt hatte, sich einig war, dass es nun langsam genug sei der journalistisch-scheinheiligen Verbalisierung des Massensterbens, krachte eine zweite Maschine in den anderen Turm.

      Nahezu weggefegt nunmehr Gregors eigene Leiden. Obgleich seit frühester Jugend eingefleischter Kritiker des ungezügelten US-amerikanischen Imperialismus – und politischen wie militärischen Dämpfern stets freudigst zugetan – litt er nun mit einem jeden der sicherlich unzähligen Opfer in der beileibe nicht ganz unschuldig-friedfertigen westlichen Kapitalisten-Zentrale.

      Für den Rest des Tages jedenfalls weitaus mehr als an den beiden langen wie tiefen, ihm optisch bis dato ohnehin noch völlig unbekannten Schlitzen in seinem Oberschenkel.

      Am nächsten Tag bereits war es den furchtbaren Bildern von dieser Jahrhundert-Katastrophe, den filmisch tausendfach in sich zusammensinkenden Wolkenkratzern, nicht mehr gegeben, eine auch nur ansatzweise ähnliche Niedergeschlagenheit zu generieren.

      Als Gregor erwachte – erwachen durfte, wie er überaus demütig meinte – hatte die Realität den sterilen Tempel der schulmedizinischen Ratzfatz-Heilung längst wieder. Die Zimmergenossen diskutierten gar schon reichlich pietätlos die Möglichkeit, dass – die Amis vielleicht höchstselbst ....?

      „Dir haben sie doch ins Gehirn geschissen!“, machte er sich – fürs Erste einmal – bei dem scheintot-greisen Verfechter dieser aberwitzigen These unbeliebt.

      „Au, au, au! Ich denke, da ist nichts mehr zu retten – die müssen runter!“, kommentierte ausgerechnet die jüngere der beiden Frisösen den prüfenden Griff in die fast anderthalb Wochen nicht mehr gewaschene Wolle des eben provisorisch remobilisierten Patienten.

      „Das könnt ihr vergessen! Dann geh ich halt wieder und lass mir eine kommen, die gescheit mit ’nem Kamm umgehen kann!“, blaffte der frustrierte Eigner der zahllosen verfilzten Haarnester.

      „Sachte, sachte, mein lieber Herr Jesus“, beschwichtigte ihn nun die Ältere – die Chefin wohl – „wir probieren es mal! Einverstanden?“

      Am Morgen hatte man ihm zum ersten Mal erlaubt aufzustehn und mithilfe des fahrbaren fünfachsigen Infusionsständers, an welchem die gewaltige 24-Stunden-Heparin-Spritze angebracht war, die Kunst des Gehens wieder zu erlernen. In einem unbeobachteten Moment hatte er natürlich sofort die Biege gemacht und war eine qualmen gegangen – gut, getorkelt eher – und dabei auf den kleinen Damen-und-Herren-Salon im Eingangsbereich aufmerksam geworden.

      Eine geschlagene Stunde, nur unterbrochen von einer gemeinsamen Zigarettenpause, brauchten die beiden Coiffeusen zur Restauration seiner Lockenpracht.

      Relativ zackig vonstatten ging dagegen das Waschen, Schneiden der Spitzen, Ausrasieren des Halses und Flechten eines präventiv-pflegeneutralenen Zopfes.

      Wieder zurück, erntete er erstmals weibliche Blicke, die in ihrer zeitlichen Ausdehnung die Sekundenmarke deutlichst überschritten. Für eine löblich-lobende Wortmeldung reichte es allerdings einzig bei Nadja, einer gleichermaßen ansehens- wie liebenswürdigen Russin. Alle anderen hingegen verrieten mit ihrem seltsam zurückhaltenden, wenn nicht gar stur