Luise Hennich

Krötenküssen


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aber ich hatte noch nie eine zu Gesicht bekommen. Aber auch ohne Eulen war das tote Gemäuer irgendwie total gruselig.

      Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, griff meine Mutter noch immer schlaftrunken nach der Kanne und schenkte sich Kaffee ein.

      „Ich glaube, ich hatte etwas zu wenig Schlaf in den vergangenen Tagen”, sagte sie mit einer vor Müdigkeit rauen Stimme.

      Das konnte hinkommen, wenn man bedachte, dass sie erst am Abend zuvor von einer Konferenz in Tokio zurückgekehrt war und davor, glaubte ich mich zu erinnern, in Toronto einen Vortrag gehalten hatte.

      Über den Rand ihrer Kaffeetasse blickte sie über den Tisch und nickte meinem Vater und mir anerkennend zu. „Wie schön, dass ihr beide ein paar Ostereier aufgetrieben habt.“ Sie sah auf die lila-blau gefärbten Eier und lächelte mich an.

      „Ich musste improvisieren“, antwortete ich und erklärte: „Leider hatte ich vergessen, Farbe zu kaufen. Zum Glück habe ich noch ein paar Reste vom letzten Jahr gefunden. Die habe ich gemischt. Daher das ausgefallene Design“.

      Mein Vater nahm sich ein Ei und begann es abzuschälen.

      „Die sehen doch gut aus“, meinte er beiläufig, ohne wirklich auf die Farbe zu achten und schob das ganze Teil in seinen Mund, kaute und schwieg.

      Die beiden waren heute Morgen ja echte Stimmungskanonen!

      Normalerweise quatschten sie mich immer tot mit irgendwelchen Geschichten über irgendwelche Gesteinsschichten, die aus irgendwelchen Gründen total spektakulär waren. Doch an diesem Morgen schienen sie irgendwie an einer Art von Stimmlähmung zu leiden.

      „Ist alles in Ordnung?”, fragte ich und griff auch nach einem blöden Ei, nur um etwas zu tun.

      Meine Mutter blickte von ihrem Kaffee auf und sah mich an. „Mia, wir müssen etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ In mir schrillte eine Alarmglocke. So oder so ähnlich hatte auch das Gespräch begonnen, in dem sie mir gesagt hatten, dass wir in die Provinz ziehen würden.

      „Ist etwas passiert?“, fragte ich daher misstrauisch.

      Mein Vater stand auf und kam zu meinem Stuhl. Er setzte sich auf meine Lehne und legte seine Hand auf meine Schulter. Oh Gott! Was kam jetzt?

      „Könntest du dir vorstellen, für eine Weile allein zu bleiben?”, fragte er.

      Ich war schon öfter allein geblieben, wenn meine Eltern zu einer ihrer wissenschaftlichen Exkursionen aufbrachen. Allerdings nie besonders lange.

      Der Tonfall in seiner Stimme ließ mich aufhorchen.

      „Wie lange würde diese Weile denn sein?”, fragte ich misstrauisch. Prinzipiell genoss ich es, mein eigener Herr zu sein und über eine sturmfreie Bude zu verfügen – aber alles hatte seine Grenzen.

      „Diesmal würde es etwas länger sein, als du es bisher gewohnt bist“, sagte meine Mutter und beugte sich über den Tisch in meine Richtung. „Wir haben das Angebot bekommen, an Erdbohrungen in der Antarktis teilzunehmen. Das würde bedeuten, dass wir dort ein Jahr verbringen würden.“

      „Ihr beide zusammen?”, fragte ich schockiert. Das konnte ja wohl nicht ihr Ernst sein, dass ich alleine hier in dieser Einöde sitzen sollte.

      „Seid ihr verrückt? Soll ich etwa alleine in diesem Kaff bleiben?“, entfuhr es mir.

      „Du bist ja kein Baby mehr. Wir finden, du bist für dein Alter ungewöhnlich vernünftig und selbstständig“, hörte ich meine Mutter sagen.

      „Wir möchten dich nur ungern kurz vor dem Abitur aus der Schule nehmen und in ein Internat schicken. Deshalb haben wir gedacht, du bleibst hier und bekommst Gesellschaft.“

      „Gesellschaft?“

      „Wahrscheinlich kannst du dich gar nicht mehr an sie erinnern. Du warst noch sehr klein, als ihr euch das letzte Mal begegnet seid“, sagte meine Mutter

      „Wen meinst du?“

      „Ich spreche von meiner Tante, deiner Großtante Rosie. Sie würde für ein Jahr zu uns ziehen, da sie im Augenblick, sagen wir mal, ungebunden ist.“

      Das wurde ja immer besser. Nicht nur, dass sich meine Eltern im wahrsten Sinne des Wortes ans andere Ende der Welt verziehen wollten – ich sollte auch noch mit einer mir unbekannten und wahrscheinlich schon am Rande der Senilität befindlichen Verwandten hier am Arsch der Welt sitzen.

      „Das ist ein Scherz“, war alles, was ich hervorpressen konnte.

      „Kind, glaub mir, es fällt uns nicht leicht, dich so lange allein zu lassen. Aber diese Gelegenheit ist einmalig und kommt wahrscheinlich nicht wieder. Das ist kein Urlaub und auch keine Abenteuerreise, sondern ein Forschungsaufenthalt, der uns mit großer Wahrscheinlichkeit einige bahnbrechende Erkenntnisse bringen wird.“

      Ich fasste es nicht. Die beiden schienen wildentschlossen, mich hier mit einer Fremden sitzen zu lassen und erst in einem Jahr wieder zurückzukommen.

      „Und wann würdet ihr fahren?”, fragte ich in der Hoffnung, dass ich noch ausreichend Zeit hatte, um irgendwie aus dieser Nummer wieder rauszukommen.

      „In drei Wochen“, antwortete meine Mutter mit einem Zögern in der Stimme.

      „In drei Wochen schon?”, brachte ich krächzend hervor.

      „Wieso habt ihr mir nicht schon eher davon erzählt?“

      „Wir haben selber nichts davon gewusst; wir haben das Angebot erst in der letzten Woche erhalten und einige Tage gebraucht, um für uns darüber nachzudenken und zu entscheiden“, fügte mein Vater in entschuldigendem Ton hinzu. „Wir müssen so bald aufbrechen, da sonst schon der antarktische Winter beginnt und wir die Forschungsstation nicht mehr erreichen können. – Also entweder wir gehen jetzt oder das ganze Projekt ist für uns gestorben.“

      „Aber - was wird mit Wotan?”, fragte ich schwach.

      Bei diesen Worten erhob sich ein riesiges, zottiges, graues Tier, das bisher schlafend unter unserem Frühstückstisch gelegen hatte, schüttelte sich und verbreitete einen wenig angenehmen Geruch rings um uns her.

      Wotan war unser Hund – aber eigentlich war die Bezeichnung Hund zu schmeichelhaft für ihn. In Wirklichkeit war Wotan ein Monster in Pelzgestalt, das eines Morgens im Garten unseres Hauses in Blankenese gelegen hatte. Ohne Halsband, ohne Leine, ohne Hundemarke. Ein paar Tage lang hatten wir versucht, seinen Besitzer ausfindig zu machen, dann hatten wir versucht, ihn in einem Tierheim unterzubringen, dann hatte mein Vater ausgesprochen, was wir alle dachten:

      „Wir können ihn nicht ins Tierheim bringen, dort wird er früher oder später eingeschläfert!“

      Und das aus gutem Grund, denn es stellte sich heraus, dass Wotan – wie wir ihn aufgrund seiner Erscheinung getauft hatten – offenbar meinen Vater als seinen persönlichen Retter betrachtete und ihm dies mit treuer Ergebenheit und großer Liebe dankte. Meine Mutter und mich betrachtete er allerdings nur als notwendige Randerscheinungen seines Lebens und alle anderen Kreaturen, die seinen Weg kreuzten, potentiell als Feinde. Eine Vermittlung in fremde Hände schien unmöglich und so blieb er bei uns.

      „Äh, Wotan könnte ja bei dir bleiben“, antwortete mein Vater zaghaft auf meine Frage und kraulte das Tier hinter den Ohren.

      „Wie soll das gehen?”, fragte ich entsetzt. „Er hört nicht auf mich, schleift mich an seiner Leine hinter sich her, frisst jede Katze, die ihm vor seine Schnauze kommt und ist eine Gefahr für die Allgemeinheit.“

      „Na, nun übertreib mal nicht“, versuchte mein Vater zu beschwichtigen. „Du wirst sehen, wenn wir weg sind, wird Wotan ein folgsames Hündchen sein. Er wird schnell verstehen, dass er auf dich angewiesen ist. Du musst nur energisch genug auftreten, dann klappt das schon.“

      Ich wollte noch etwas einwenden, doch mein Vater kam mir zuvor.

      „Außerdem“, fügte er hinzu, „finde ich es gut, wenn du einen Bewacher im Haus hast.