Luise Hennich

Krötenküssen


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Meine Eltern würden in die eisigste Kälte dieses Planeten reisen und dort im Dunkeln verschwinden.

      Ich würde mit einer mir unbekannten Großtante und einem unberechenbaren Hund zurückbleiben und versuchen, mein Leben so normal wie möglich weiter zu leben.

      Tante Rosie wurde benachrichtigt und versprach, rechtzeitig vor der Abreise meiner Eltern da zu sein, meine Eltern widmeten sich der Beschaffung warmer Unterwäsche und was sonst noch notwendig war, um das kommende Jahr zu überleben und ich beschloss, einen Maulkorb für Wotan zu besorgen.

      Der Tag der Abreise nahte unwiderruflich.

      Mein Vater und insbesondere meine Mutter wurden in dem Maße stiller und bedrückter, in dem sich die Koffer und Kisten in unserem Hausflur stapelten. Ich dagegen hatte mich inzwischen an den Gedanken der fast sturmfreien Bude gewöhnt und sah meinem Schicksal mit einer gewissen Gelassenheit entgegen.

      Eines Abends, zwei Tage vor dem geplanten Abreisetermin, trat meine Mutter in mein Zimmer. Ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster und lernte lateinische Vokabeln, als sie mir sanft die Hand auf die Schulter legte.

      „Mia, ich muss noch einmal mit dir reden“. Ihre Stimme klang zaghaft.

      Ich blickte über die Schulter und sah sie an.

      „Mir kommt die Idee, dich hier für so lange Zeit allein zu lassen, inzwischen vollkommen verrückt vor.“

      Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Noch könnte ich meine Teilnahme rückgängig machen und hier bei dir bleiben.“

      „Du spinnst wohl!”, entfuhr es mir. „Ihr habt alles vorbereitet, Tage damit verbracht, unzählige Kisten zu packen, du freust dich auf diese Expedition und wir haben schließlich Telefon und Internet um in Kontakt zu bleiben.“

      Sie nahm mein Kinn in ihre Hand und sah mich prüfend an. „Du sagst das jetzt nicht nur, weil du tapfer sein willst?“

      „Nein, weil ich weiß, wie viel euch diese Reise bedeutet und weil ich – wie ihr ja schon selber bemerkt habt – kein Baby mehr bin.“

      Sie blickte auf meinen Computer.

      „Versprich mir, dass wir uns regelmäßig schreiben!“

      „Klar, versprochen!“ Heimlich kreuzte ich zwei Finger hinter dem Rücken. Das fehlte mir noch – Mutti als Brieffreundin!

      „Und“, sie sah mich erwartungsvoll an. Was kam jetzt noch?

      „Lass uns regelmäßig skypen!“

      Skypen?! Ich war schon drauf und dran, ihr zu sagen, dass ich eigentlich keinen Bock darauf hatte, per Kamera überwacht zu werden, als ich bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Scheiße, sie war echt traurig, dass sie mich hier zurücklassen würde. Und wenn ich ehrlich war, war ich es auch. Doch ich schluckte die Emotionen runter und antwortete stattdessen betont munter:

      „Klar. ich freue mich schon darauf, euch zwei mit euren Schneeanzügen und roten Nasen zu sehen, während ich hier im Sommerkleidchen sitze“.

      Und dann kam er – der Tag des Abschieds von meinen Eltern.

      Wer nicht kam, war Tante Rosie.

      Die Abreise war für Samstag geplant. Tante Rosie hatte ihr Kommen für Freitagabend versprochen. Ich war sehr gespannt auf die unbekannte Tante. Meine Mutter hatte sich zurückgehalten mit der Beschreibung und nur angedeutet, dass Tante Rosie eine eher ausgefallene Person sei, aber dafür echt nett. Offensichtlich hatte sie verschwiegen oder verdrängt, dass Tante Rosie nicht zu den zuverlässigsten Zeitgenossen zu gehören schien, denn am frühen Nachmittag klingelte unser Telefon und ich hörte meine Mutter „Oh, das ist aber misslich!“, „Hoffentlich ist es bis morgen wieder in Schuss“, „Ach, Sonntag sagst du?”, ins Telefon stammeln. Kurz darauf stand sie hinter mir. Ich drehte mich um und ahnte schon, dass es unangenehme Neuigkeiten gab.

      „Tante Rosie war am Telefon. Sie kann erst am Sonntag kommen, offenbar ist ihr Auto kaputt und die Reparatur wird erst morgen im Laufe des Tages erledigt. Sie bricht dann gleich am Sonntagmorgen auf.“

      Meine Mutter machte ein betretenes Gesicht.

      „Wir können unsere Abreise leider nicht aufschieben. Das Flugzeug geht morgen um 14:00 Uhr ab München. Das heißt, du und Wotan wäret dann erstmal alleine hier.“

      „Na, dann kann mir ja nichts passieren“, erwiderte ich etwas sarkastisch.

      Meine Mutter sah mich besorgt an.

      „Nein, im Ernst, nun mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich komm schon klar, das ist kein Problem“, beteuerte ich und fand den Gedanken, eine Nacht alleine zu verbringen, nicht weiter der Rede wert. Wahrscheinlich war es sogar besser, wenn Wotan den Trennungsschmerz von meinem Vater erst einmal ohne fremde Gesellschaft verarbeiten konnte.

      Am nächsten Morgen waren wir alle früh auf. Meine Eltern waren sehr aufgeregt und liefen zwischen Frühstückstisch, Koffern und Kleiderschrank hin und her. In der letzten Minute fiel ihnen auf, dass ich auch mit ausreichend Geld versorgt werden musste und sie legten mir noch schnell zwei Kreditkarten auf den Esstisch, flüsterten mir die dazugehörigen Geheimnummern ins Ohr, beteuerten, dass alle laufenden Kosten für unser Haus automatisch monatlich beglichen würden und ich mich um nichts zu kümmern hatte, und schon hörten wir ein Hupen vor dem Gartenzaun.

      Der Fahrer des geologischen Instituts wartete draußen, um meine Mutter und meinen Vater zum Flughafen zu bringen. Gemeinsam schafften wird den unglaublichen Berg von Taschen und Koffern in den Wagen.

      Dann ging alles ganz schnell. Mein Vater nahm mich fest in den Arm und drückte mich.

      „Du schaffst das schon“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wir melden uns, sobald wir angekommen sind.“

      Meine Mutter unterdrückte ein paar Tränen und ich hatte auch einen großen Kloß im Hals, als sie mich umarmte.

      „Du wirst sehen, es wird prima mit Tante Rosie. Nach ein paar Tagen wirst du deine alten Eltern gar nicht mehr vermissen.“

      Dann beugten sie sich beide herunter zu Wotan, der neben uns stand und die Szene skeptisch beäugte.

      „Wotan, alter Freund, mach es gut. Sei nett zu Mia. Wenn wir in einem Jahr wieder da sind, wollen wir hier einen braven Hund sehen.“

      Wotan wedelte unsicher mit dem Schwanz und blickte zu mir hoch. Ich sah ihn an und in Anbetracht der Tatsache, dass er nun meine Restfamilie darstellte, kam er mir irgendwie nicht mehr so schrecklich vor.

      Nun war es unwiderruflich. Das Auto startete und fuhr den schmalen Weg, der von unserem Haus zur Hauptstraße führte, entlang. Ich sah die winkenden Silhouetten meiner Eltern kleiner und kleiner werden, bis der Wagen abbog und aus meinem Blick verschwand. Für einen Moment fühlte ich mich sehr alleine.

      Kapitel 2: Allein

      „Na, komm mit“, sagte ich zu Wotan und ging voraus Richtung Haustür.

      Mit einem Blick zurück vergewisserte ich mich, dass das Gartentor verschlossen war, damit das Fellmonster keine Jagd auf vorbeikommende Radfahrer machen konnte. Wotan folgte mir auf dem Fuß und gemeinsam betraten wir den Hausflur. Es war noch nicht einmal Mittag und ein langer Tag lag vor mir.

      Scheiße, nun saß ich echt alleine in der Provinz.

      Ich beschloss, zunächst einmal meine Hausaufgaben zu erledigen, ging hinauf in mein Zimmer, setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mein Mathebuch aus dem Stapel Lehrbücher hervor, der sich vor mir auftürmte. Ich streckte meine Füße unter dem Tisch aus und stieß unvermutet auf einen Widerstand. Was war das? Mit dem rechten Fuß stupste ich gegen etwas Großes, Festes. Ich blickte hinab und sah in ein zottiges Gesicht. Wotan hatte es sich unter meinem Schreibtisch bequem gemacht. Offenbar kam auch er sich einsam vor. Nun gut, wir konnten es uns auch gemeinsam gemütlich machen.

      Nach zwei Stunden hatte ich sämtliche Aufgaben