Luise Hennich

Krötenküssen


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dass du noch gekommen bist“, begrüßte er mich brüllend, als ich mich zu ihm durchgedrängelt hatte.

      „Hier ist heute Abend der Teufel los“, fügte er noch in der gleichen Lautstärke hinzu und verstummte dann. Ich setzte mich neben ihn und versuchte erst gar nicht, gegen den Lärm anzuschreien. Also saßen wir schweigend nebeneinander und betrachteten die Gestalten auf der Tanzfläche.

      Martin leerte sein Glas und brüllte mir plötzlich unvermittelt mit maximaler Lautstärke ins Ohr: „Magst ein Bier?“

      „Lieber eine Cola“, schrie ich ohne Umschweife zurück. Meine Stimme schien mir nicht gewachsen für den Austausch von Höflichkeiten. Martin erhob sich und schritt Richtung Theke. Ich blickte ihm nach, wie er im Getümmel verschwand und ließ meinen Blick wieder Richtung Tanzfläche schweifen.

      Die beiden anderen waren nicht mehr zu sehen. Während ich die Tanzfläche systematisch mit den Augen nach ihnen absuchte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und blickte erschrocken auf. Kathi stand neben mir und lachte mich an. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Sie bewegte die Lippen und ich versuchte, mein Ohr so nah wie möglich an ihren Mund zu bringen.

      „Hey, Mia, ich hab dich gar nicht kommen sehen. Bist du schon lange da?”, konnte ich mit Mühe verstehen.

      „Ich sitze hier schon eine Weile“, brüllte ich zurück.

      „Allein?”, glaubte ich zu hören und versuchte mit wilden Handzeichen Kathi klar zu machen, dass Martin auf dem Weg zur Bar war und vermutlich gleich zurückkehren würde.

      Kathi und Frank setzten sich zu mir an den Tisch.

      „Wie kommt es, dass du hier heute Abend noch aufschlägst?”, schrie Kathi mir zu. „Meine Eltern sind heute Morgen abgereist und mein Kindermädchen ist noch nicht da. War mir zu einsam zuhause“, brüllte ich zurück.

      „Wo sind sie denn hin, deine Eltern?”, wollte Frank wissen.

      „In die Antarktis“, erwiderte ich so laut ich konnte. Frank sah mich an, als ob er mich nicht richtig verstanden hätte. Er schüttelte den Kopf und sagte laut:

      „Was? Wo sind sie hin? Ich habe Antarktis verstanden.“

      „Ant-ark-tis“ brüllte ich noch einmal. Frank sah Kathi ungläubig an, doch diese nickte und schrie: „Verrückt was, die reisen ans Ende der Welt und lassen Mia hier allein zurück.“

      Irgendwie kam es mir plötzlich selber unwirklich vor und ich bemerkte, dass ich es den ganzen Tag über vermieden hatte, über die Unwiderruflichkeit dieser Entscheidung nachzudenken.

      Gerade als ich mir ausmalte, dass meine Eltern in diesem Moment wahrscheinlich schlappe zehntausend Kilometer von mir entfernt dabei waren ihre Fellhandschuhe rauszukramen, kam Martin zurück und hielt in der einen Hand ein großes Bier, in der anderen eine Cola. Entschlossen nahm ich das Bier und trank einen großen Schluck. Martin blickte irritiert. „Ich dachte, du wolltest kein Bier!“, sagte er, kippte die Cola hinunter und machte sich erneut auf den Weg zum Tresen. Der Typ war wirklich unerschütterlich. Wenig später stand er mit einem frischen Bier vor mir und prostete mir zu.

      Kathi und Frank blickten uns an und machten Zeichen, dass sie sich erneut Richtung Tanzfläche begeben wollten. Martin sah mich erwartungsvoll an und stellte sein Glas ab. Ich schüttelte abwehrend den Kopf. Das fehlte mir noch, mich hier auf der Tanzfläche zum Affen zu machen! Doch Martin ließ nicht locker. „Nun komm schon“, brüllte er mir ins Ohr. „Unterhalten kannst dich hier eh’ nicht.“

      Unzweifelhaft hatte er Recht. Eine Unterhaltung war nicht möglich und den Abend damit zu verbringen, sich gegenseitig anzuschweigen, war auch keine Alternative. Mit mehr als gemischten Gefühlen erhob ich mich und folgte Martin auf die Tanzfläche. Zum Glück, war es hier so voll, dass meine unrhythmischen Bewegungen sicher nicht weiter auffallen würden. Am Rand der Tanzfläche machte ich ein paar unsichere Schritte zum Takt, den ich zu hören glaubte, und dann ging das Licht aus.

      Schlagartig verstummte die Musik, und es war stockdunkel im Mister X. Spitze Schreie ertönten und die Menschen erstarrten für einen kurzen Augenblick. Reflexartig griff ich nach Martins Hand, und zog ihn mit mir von der Tanzfläche. Ich hörte, wie Bewegung in die dunkle Menschenmasse kam und versuchte, mich zu erinnern, in welcher Richtung der Ausgang lag. Doch ich hatte die Orientierung verloren.

      „Wo geht es raus?”, fragte ich Martin. „Hier entlang“, antwortete er und begann, uns durchs Dunkle zwischen den anderen Körpern hindurch zu manövrieren. Ich folgte ihm im wahrsten Sinne des Wortes blind und wir tasteten uns langsam an Tischen und Theken vorbei zur Tür. Inzwischen hatte sich eine Art Menschenströmung gebildet, die dieselbe Richtung einschlug, so dass wir nach einer Ewigkeit, die wahrscheinlich nur einige Minuten dauerte, einen frischen Windhauch aus der geöffneten Tür spürten, der uns schließlich ins Freie geleitete.

      Martin ließ meine Hand los und wir atmeten erleichtert auf. Doch irgendetwas war immer noch nicht richtig. Ich blickte mich irritiert um und versuchte herauszufinden, war es war. Ich schaute rüber auf die gegenüberliegende Straßenseite und sah – nichts! Das war es! Das Licht war nicht nur im Mister X ausgefallen, auch draußen war es stockdunkel. Die Straßenbeleuchtung war aus, die umliegenden Häuser lagen im Dunkeln und selbst die Ampeln zeigten kein Signal mehr. Nur der Vollmond beleuchtete die Szene und setzte uns alle in ein fahles, weißes Licht.

      Ich versuchte angestrengt, Kathi und Frank irgendwo zu entdecken. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die meinen Namen rief. Es war Kathi.

      „Hey Kathi, wir sind hier!”, antwortete ich und zog Martin in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

      „Wenn ich schon mal einen Fuß auf die Tanzfläche setze, geht gleich das Licht aus“, versuchte ich einen Scherz, als wir endlich neben Kathi und Frank standen.

      „Aber warum geht das Licht in der ganzen Stadt aus, so schlecht tanzt du nun auch wieder nicht“, grinste Frank mich an.

      „Was nun?”, fragte Kathi.

      Ich fühlte mich mit einem Mal schrecklich müde. „Ich mache mich auf den Heimweg“, erklärte ich. Die drei sahen mich an.

      „Im Dunkeln?”, fragten sie mich wie aus einem Munde. „Es war ja auch dunkel, als ich hergekommen bin.“ Ich schaltete die Taschenlampe meines Smartphones an und suchte in ihrem Lichtkegel nach meinem Fahrrad. Im trüben Licht entdeckte ich es dort, wo ich es abgestellt hatte.

      „Wollt ihr etwa hier warten, bis das Licht wieder angeht? Wer weiß, wie lange das dauert.“ Ich wandte mich meinem Fahrrad zu und holte es aus dem Ständer. Schiebend näherte ich mich wieder den dreien. „Dein Licht brennt nicht“, bemerkte Kathi. Stimmt, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Das Mondlicht war zwar ungewöhnlich hell an diesem Abend, aber ich war mir nicht sicher, ob es ausreichen würde, um den Weg nach Hause zu finden.

      „Ohne Licht kannst du nicht alleine fahren. Ich begleite dich“, schlug Martin zu meiner Überraschung vor. So ritterlich hatte ich ihn nicht eingeschätzt. Aber unter diesen Umständen nahm ich sein Angebot, mit seinem gut beleuchteten Rad vor mir her zu fahren, gerne an.

      Gemeinsam machten wir uns auf den Weg und hatten schon bald die Ortschaft hinter uns gelassen. Ich heftete mich an Martins Rücklicht und war froh, einen leuchtenden Fixpunkt vor mir zu haben. Zwar war Martin noch nie bei uns zu Hause gewesen, aber ich war nicht überrascht, zu sehen, dass er meinen Heimweg kannte. In so einer kleinen Stadt war es wahrscheinlich schon vor meiner Ankunft bei meinen Mitschülern bekannt gewesen, wo ich wohnen würde.

      Bald erreichten wir die Abzweigung, die von der Landstraße zu unserem Haus führte.

      Martin machte Anstalten abzubiegen, doch ich rief ihm zu, dass ich es nun alleine schaffen würde. Schließlich hatte ich diesen Abschnitt ja auch auf dem Hinweg ohne Licht bewältigt. Martin sah mich skeptisch an. Ich bestand jedoch darauf, das letzte Stück alleine zu fahren, rief Martin noch: „Danke schön fürs Bringen“ zu und bog in den holprigen Feldweg ab. Martin rief mir: „Dann bis Montag“ zurück und machte sich auf den Heimweg.

      Für