Luise Hennich

Krötenküssen


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setzte Tante Rosie den Wagen in Bewegung und bog auf die Landstraße ab. Ich überlegte kurz. Wenn es das war, was sie meinte, war die Bezeichnung Bäckerei etwas untertrieben. Das Café Koch war das erste Haus am Platz, wenn man in einem so kleinen Ort überhaupt davon sprechen konnte.

      „Dort kauft der Oberbürgermeister seine Brötchen“, hatte mein Vater diese Bäckerei einmal ironisch charakterisiert. Nun ja, Tante Rosie war aus New York vermutlich Besseres gewohnt, so dass sie sicher nichts Besonderes daran fand.

      Binnen fünf Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Meine Tante parkte schwungvoll ein und ergriff ihre Handtasche, die auf der kleinen Rückbank lag. Neben diesem Kunstwerk aus Leder wirkte meine Schultasche, die ich schon seit mehreren Jahren benutzte, wie ein alter Sack. Ich beschloss, sie ebenso würdevoll zu schultern, wie es Tante Rosie tat.

      Wir betraten das Café und ließen uns an einem Tisch nieder. Tante Rosie studierte kurz die Karte und ließ dann ihren Blick suchend umherschweifen.

      „Bist du auch so hungrig wie ich?”, fragte sie mich und versuchte dann offenbar, mit der Bedienung, die am Nebentisch beschäftigt war, auf telepathischem Wege, durch unverwandtes Anstarren, Kontakt aufzunehmen.

      Offensichtlich war sie erfolgreich damit, denn diese drehte sich mit den Worten: „Ich bin gleich bei Ihnen“, zu uns um und Tante Rosie sah mich an.

      „Ich sag dir eins Mia, Menschen spüren es, wenn man sie anstarrt. Ich weiß nicht warum, aber es wirkt immer.“

      Ich sah sie zweifelnd an. Allerdings kam ich nicht mehr dazu, ihr meine Meinung zu dieser Theorie zu erläutern, denn die Bedienung machte ihr Versprechen wahr und stand mit gezücktem Notizblock vor uns.

      „Wir nehmen zweimal das Schlemmerfrühstück. Für mich bitte Kaffee.“ Tante Rosie sah mich fragend an: „Trinkst du auch Kaffee zum Frühstück.“

      „Ja, bitte“, brachte ich hervor. Schlemmerfrühstück? Eine Schale Corn Flakes mit Milch war für gewöhnlich alles, was ich morgens hinunter bekam.

      „Eigentlich esse ich morgens nicht so besonders viel“, wandte ich ein.

      „Ach, Kindchen, einmal ist keinmal. Wir lassen es uns jetzt mal gut gehen.“

      Tante Rosie schien bester Laune zu sein. Das Café Koch wurde seinem Ruf gerecht und die Bedienung ließ uns nicht lange auf unser Frühstück warten. Rasch kehrte sie mit zwei Kännchen Kaffee zurück und begann dann, unser opulentes Mahl aufzutischen. Eine große Käseplatte und eine überdimensionale Aufschnittplatte wurden von zwei gekochten Eiern, einer Auswahl Marmeladen, einer großen Schale Müsli, Quark und Joghurt begleitet. Ein riesiger Brotkorb, der neben Croissants und Brötchen auch noch Knäckebrot und Vollkornbrot enthielt, war die Krönung des ganzen. Der Begriff Schlemmerfrühstück war offenbar ernst gemeint.

      „Ach, du lieber Himmel, das können wir niemals aufessen!”, entfuhr es mir, doch Tante Rosie griff unverdrossen nach einem Brötchen.

      „Vor allem müssen wir jetzt schnell schlemmen, sonst kommst du zu spät in die Schule.“

      Sie hatte Recht. Es blieb uns noch ungefähr eine halbe Stunde, um unserem Schlemmerfrühstück gerecht zu werden. Also langte auch ich beherzt zu. Zu meiner Verwunderung schmeckte es mir ausgezeichnet, Tante Rosies Gesellschaft schien appetitanregend zu sein.

      Kauend blickte ich mich im Café um, in der Erwartung, vielleicht einen meiner Mitschüler zu erspähen, der sich noch kurz vor Unterrichtsbeginn ein Brötchen kaufte. Von unserem Tisch aus hatte ich einen guten Blick in den Verkaufsraum und ich konnte sehen, dass sich dort eine ganze Reihe von Menschen vor der Verkaufstheke drängte.

      Das war der Moment, in dem ich ihm zum ersten Mal begegnete.

      Inmitten all der bayrischen Hausfrauen und der Schüler stand er da.

      In einer schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt über das er, trotz der sommerlichen Temperaturen, einen langen schwarzen Mantel gezogen hatte. Auch seine Haare waren schwarz. Gefärbt oder echt – fragte ich mich für einen Augenblick. An den Füßen trug er Stiefel – in schwarz, die an den Seiten silberne Riegel hatten und an seinen Fingern steckten zahlreiche Silberringe.

      Er sah punkig aus und auch wieder nicht und passte so ganz und gar nicht in diese Umgebung.

      Ich betrachtete ihn gedankenverloren und studierte intensiv die Linien, die seine Oberarme unter den Ärmeln des Mantels zeichneten. Als er sich über den Verkaufstresen beugte und das Brötchenangebot studierte, ließ ich ungeniert meinen Blick über seinen festen Hintern in der verwaschenen Jeans wandern, der sich unter seinem Mantel abzeichnete. Er wies auf ein paar Croissants in der Auslage hin und langte dann in seine rechte Gesäßtasche um nach Kleingeld zu greifen. Ich ließ meinen Blick in seinen Nacken schweifen und entdeckte dort ein herzförmiges Muttermal, das sich links an seine Wirbelsäule schmiegte.

      „Hey, Mia, pass auf! Der Punk dreht sich gleich nach dir um, wenn du ihn weiter so anstarrst.“

      Tante Rosies Warnung kam zu spät.

      Er drehte sich zu mir um. Er wusste, dass ich ihn angestarrt hatte, er wusste, wie ich ihn angestarrt hatte und er wusste, dass ich wusste, dass er es wusste. Ich fühlte mich ertappt und schnappte erschrocken nach Luft.

      Und dabei blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes der Bissen im Halse stecken.

      Im Nachhinein vermag ich nicht zu sagen, ob der Schreck über mein Ertappen für einen Moment meine Kaumuskulatur lähmte, oder ob es einfach ein Zufall war. Jedenfalls blieb mir das Stück Schinken, das ich gerade noch gedankenverloren im Mund hin und her bewegt hatte, schlicht und ergreifend vor dem Eingang zu meiner Luftröhre stecken und mir blieb die Luft weg. Für einen Augenblick der bitteren Erkenntnis wurde mir klar, dass meine Sauerstoffzufuhr definitiv unterbrochen war und ich versuchte verzweifelt, das Fleisch hinaus zu würgen, bis mir schwarz vor Augen wurde. Tante Rosies Schreie gelten noch in meinen Ohren, als ich das Bewusstsein verlor.

      Es wurde dunkel um mich her und ich fiel in einen tiefen Schacht und fiel und fiel, bis ich den Grund erreichte und zu meiner eigenen Verwunderung weich und komfortabel auf einer riesigen wolkengleichen Wolldecke landete. Ein Gefühl warmer Geborgenheit umgab mich und ich fühlte eine unendliche Ruhe und Gelassenheit. Durch einen warmen Nebel blickten mich ein Paar Augen an und ich wusste, alles wird gut.

      Der Nebel lichtete sich, die Augen wurden deutlicher und waren nun dicht über meinem Gesicht. Ich hörte Stimmen und Geräusche und roch frischen Brötchenduft, der sich mit dem Geruch von Kaffee mischte. Ich fühlte, dass ich nicht auf einer Wolldecke sondern auf dem Boden lag und der Typ, der soeben noch neben dem Brötchentresen gestanden hatte, neben mir kniete und mich besorgt ansah.

      „Alles okay!", röchelte ich und der Typ lächelte mich an, während er aufstand. Und dann brach ein ziemlicher Tumult aus.

      „Oh, mein Gott, sie lebt“, hörte ich Tante Rosie hysterisch kreischen, bevor sie mich in ihre Arme zog.

      „Wir müssen einen Notarzt holen“, war eine Stimme aus dem Hintergrund zu vernehmen.

      „Ich glaube, das ist nicht mehr nötig“, antwortete eine zweite Stimme. Ich musste husten und richtete mich auf. Um mich herum stand eine große Menschentraube. Alle starrten mich an und die Erleichterung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich versuchte ein schiefes Lächeln.

      „Es ist schon wieder gut. Ich bin in Ordnung.“ Mühsam kam ich auf die Beine und setzte mich auf einen Stuhl.

      „Was ist passiert?”, fragte ich.

      „Du hast dich verschluckt.“ Zitternd setzte Tante Rosie sich neben mich.

      „Das weiß ich“, antwortete ich. „Aber wie habe ich überlebt?“

      „Oh, das war dieser beherzte junge Mann. Der hat dir praktisch das Leben gerettet.“ Ich sah sie fragend an.

      „Er stand da vorne am Brötchentresen, als du plötzlich anfingst nach Luft zu schnappen. Mit einem Satz war er bei dir, hat dich von hinten umfasst und kurz auf deinen Brustkorb gedrückt. Ein Stück Schinken sprang