Luise Hennich

Krötenküssen


Скачать книгу

Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und die Dunkelheit kam mir mit einem Mal undurchdringlich vor. Vorsichtig trat ich in die Pedale und holperte von einem Schlagloch ins nächste. Seufzend hielt ich mein Rad an, und stieg ab. Es hatte keinen Sinn zu fahren; bei diesem Versuch würde ich mir womöglich den Hals brechen. Ich beschloss, das Rad die wenigen hundert Meter bis zur Haustür lieber zu schieben.

      Im Dunkeln schien der Weg kein Ende zu nehmen. Angestrengt spähte ich nach vorne, um die Silhouette unseres Hauses auszumachen, konnte jedoch außer undurchdringlicher Finsternis nichts entdecken. Plötzlich kamen mir Zweifel, ob ich überhaupt in den richtigen Seitenweg abgebogen war. Meinem Gefühl nach hätte ich schon längst bei unserer Gartenpforte sein müssen und der Weg zu unserem Haus war auch nicht derartig Schlagloch übersät. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich war auf dem Weg zum Eulenhof und stand wahrscheinlich gerade kurz vor der Hofeinfahrt.

      „Mist“, schimpfte ich laut vor mich hin. „Wie dämlich muss man sein, um seinen eigenen Nachhauseweg nicht zu finden!“

      Entnervt drehte ich mein Rad, als mich ein leises, pfeifendes Geräusch zusammenzucken ließ. Ich lauschte erschrocken. Das Pfeifen schien über mir im Nachthimmel zu sein. Angestrengt spähte ich hinauf, konnte aber nichts erkennen.

      Vielleicht war eine Eule auf der Jagd. Womöglich bewohnten doch noch einige das verfallene Gemäuer. Es hieß vermutlich nicht ohne Grund Eulenhof.

      Energisch schob ich mein Rad Richtung Hauptstraße. Auf Naturbeobachtungen mitten in der Nacht hatte ich echt keine Lust. Die Eule schien sich jedoch von mir nicht gestört zu fühlen, ich konnte hören, wie sie in einiger Entfernung ihre Kreise zog, denn das Pfeifen wurde mal lauter und mal leiser. Offenbar hatte aber das Tier Lust auf ein paar Menschenbeobachtungen, denn mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass es direkt auf mich zu segelte. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, und für einen unwirklichen Moment fürchtete ich, die nächtliche Beute einer überdimensionalen Eule zu werden, so nah schien sie zu sein. Im nächsten Augenblick hörte ich ein Niesen und das Geräusch verschwand in der Nacht. Niesen? Konnten Eulen niesen?

      Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken hinauf. Eulen konnten nicht niesen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder ich hatte mir das Niesen eingebildet oder ein niesendes Tier war über meinen Kopf hinweg geflogen. Beide Möglichkeiten erschreckten mich in gleichem Maße. Sollte ich mir tatsächlich nicht vorhandene Geräusche einbilden, so war es sicherlich ratsam, einen Arzt aufzusuchen. Sollte aber tatsächlich ein niesendes Tier über meinen Kopf hinweg geflogen sein, so wollte ich es heute Nacht keinesfalls näher kennen lernen. So schnell ich konnte, schob ich mein Rad durch das unwegsame Gelände und erreichte wieder die Landstraße. Erleichtert schwang ich mich auf meinen Sattel und fuhr die Straße entlang, bis ich die richtige Abzweigung zu unserem Haus erreichte.

      Schon von weitem konnte ich lautes Bellen hören. Ich holperte und stolperte mit meinem Rad dem tröstlichen Geräusch entgegen und war echt froh darüber, dass Wotan zu Hause war.

      Kapitel 4: Tante Rosie

      Am nächsten Morgen wurde ich von einem wütenden Bellen geweckt.

      Schlaftrunken fragte ich mich, ob Wotan noch immer bellte, aber dann erinnerte ich mich daran, dass er, als ich am Abend zuvor endlich die Haustür aufgeschlossen hatte, in ein begeistertes Jaulen verfallen war, das erst aufgehört hatte, als ich ihn in den Garten ließ, damit er noch mal das Beinchen heben konnte. Konnte es sein, dass ich ihn im Garten vergessen hatte? Offenbar - denn ich war nach den Geschehnissen des vorherigen Abends todmüde in mein Bett gefallen und in einen traumlosen, bleiernen Schlaf gesunken. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich: der arme Wotan hatte die ganze Nacht draußen verbringen müssen. Aber es war nicht kalt und er hatte ein dickes Fell. Nach meiner nächtlichen Begegnung mit mysteriösen Waldbewohnern war es vielleicht auch gar nicht schlecht, wenn das Pelzmonster ein paar Wachrunden gedreht hatte.

      Noch etwas benommen lauschte ich nach draußen. Wotan bellte aus vollem Halse. War womöglich der seltsame, niesende Vogel wieder zurückgekehrt? Aber inzwischen war es hell geworden und Sonnenstrahlen schimmerten durch meine Gardinen. Nachttiere waren um diese Tageszeit sicher nicht mehr unterwegs. Überhaupt verloren die Ereignisse des vergangenen Abends bei Licht betrachtet ihren Schrecken. Wahrscheinlich war ich panisch vor einer harmlosen Eule geflohen. Nur gut, dass mich dabei niemand gesehen hatte.

      Ich schaute auf die Uhr und schrak hoch. Es war schon Mittag. Ich hatte fast zwölf Stunden geschlafen. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und riss meine Gardinen beiseite. Ich spähte hinaus und versuchte vergeblich den Grund für Wotans wütendes Bellen auszumachen, konnte aber nichts sehen. Ich öffnete die Balkontür, trat im Schlafanzug hinaus und versuchte es mit rufen.

      „Wotan! Ruhig jetzt! Es ist Sonntag.“

      Unbeeindruckt von meinem Appell bellte Wotan weiter aus Leibeskräften. Das Bellen wurde gelegentlich von einem wütenden Knurren unterbrochen. Es schien von der Vorderseite des Hauses zu kommen.

      Entnervt lief ich ins Erdgeschoss und spähte durch das Fenster neben der Haustür. Mein Blick fiel auf unsere geschlossene Gartenpforte. Hinter der Pforte stand Wotan mit gesträubtem Nackenfell und gebleckten Zähnen. Davor stand ein roter Porsche Cabrio mit offenem Verdeck. Hinter dem Lenkrad erkannte ich eine grell geschminkte Frau mit Sonnenbrille und Kopftuch, die heftig gestikulierend auf das Fellmonster einredete. Wild entschlossen öffnete sie plötzlich die Autotür, stieg aus und ging um den Wagen herum auf den Gartenzaun zu. Wotan verfolgte ihre Bewegungen mit wütendem Bellen. Mir stockte der Atem. Diese Verrückte wollte doch wohl hoffentlich nicht versuchen, den Garten zu betreten. Barfuß und im Schlafanzug riss ich die Haustür auf und lief in den Garten.

      „Wotan, hierher, bei Fuß!”, rief ich, während ich so schnell ich konnte, den Weg zum Gartentor hinunter rannte. Wotan sah sich nur kurz um und fühlte sich offenbar durch meine Anwesenheit aufgefordert, mich bis aufs Blut zu beschützen, denn nun sprang er auch noch hoch und legte die Vorderpfoten auf den Gartenzaun.

      Die Frau blieb erschrocken stehen, als sie sich Auge in Auge mit Wotan sah.

      „Bleiben Sie wo sie sind!”, rief ich verzweifelt und fasste Wotan am Halsband. Mit Mühe gelang es mir, ihn wieder mit allen vier Pfoten auf den Boden zu befördern. „Wotan, aus!”, brüllte ich ihn an. Wotan knurrte sich die Seele aus dem Leib und Geifer floss in Strömen aus seinem Maul.

      „Du musst Mia sein“, hörte ich plötzlich eine Stimme den infernalischen Lärm übertönen. Mit aller Kraft hielt ich Wotan am Halsband fest und blickte über den Gartenzaun.

      „Das stimmt“, antwortete ich und mit einem Mal wurde mir klar, dass mir Tante Rosie gegenüberstand, die ja versprochen hatte, spätestens am Sonntagmorgen zu erscheinen. Irgendwie hatte ich mir meine Großtante anders vorgestellt und auch ihre Ankunft weniger spektakulär erwartet.

      „Ich wusste nicht, dass du schon von einer Bestie beschützt wirst. Deine Mutter hatte mir eigentlich gesagt, dass das mein Part sein sollte“, brüllte sie über den Zaun. „Hätte sie dir von Wotan erzählt, wärst du womöglich nicht gekommen“, versuchte ich einen Scherz, während ich gleichzeitig den Hund Richtung Haus zog. Widerstrebend und knurrend folgte er mir und es gelang mir tatsächlich, ihn durch die Haustür zu bugsieren, die ich mit einem raschen Ruck schloss.

      Und dann stand ich da. Im Schlafanzug, mit ungeputzten Zähnen, nicht gekämmt und - ohne Haustürschlüssel. Die Erkenntnis durchzuckte mich im selben Moment, in dem ich die Tür schloss. Mist – natürlich hatte ich nicht an den Schlüssel gedacht, als ich mehr oder weniger direkt vom Bett in den Garten gerannt war.

      Tante Rosie hatte inzwischen das Gartentor geöffnet und kam über den Kiesweg auf hohen Absätzen auf mich zu gestöckelt. Obwohl sie die Sechzig bestimmt schon überschritten hatte, wirkte sie mit der engen Jeans und der Lederjacke, die sie dazu trug, ziemlich jugendlich. Diese Klamotten stammten sicher nicht aus dem Schlussverkauf.

      „So, mein Kind, nun lass dich erstmal drücken!”, rief sie mir zu und kam vor mir zum stehen. Mit erstaunlicher Kraft packte sie mich bei den Schultern und zog mich zu sich heran. Dann hielt sie mich eine Armeslänge