Luise Hennich

Krötenküssen


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es eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ich sah mich um und wollte mich bei meinem Retter bedanken, aber ich konnte ihn nicht finden.

      „Wo ist er hin?”, fragte ich Tante Rosie. Sie sah sich verwundert um.

      „Ich kann ihn nicht sehen. Komisch, er scheint gegangen zu sein.“

      Die Bedienung trat an unseren Tisch.

      „Der junge Mann ist gegangen. Wenigstens hat er seine Brötchen mitgenommen. Ein tüchtiges Frühstück hat er sich ja wirklich verdient!“

      Wie ich diesen bayerischen Humor liebte!

      „Ich glaube, mein Frühstück ist beendet“, erwiderte ich und sah auf meine Uhr. Es war kurz vor acht.

      „Ach, du Schreck, die Schule geht gleich los. Ich komme zu spät!”, sagte ich und sprang auf die Füße.

      „Kind, du willst doch nicht ernsthaft in die Schule gehen." Tante Rosie klang, als befürchtete sie, ich hätte einen Hirnschaden davongetragen. „Komm, wir fahren wieder nach Hause“, schlug sie vor.

      „Doch, ich kann in die Schule“, erwiderte ich und schulterte meinen Rucksack.

      Ein Tag zu Hause, in Tante Rosies Chaos erschien mir nicht besonders erstrebenswert. Ich hatte die Hoffnung, dass nach sechs Unterrichtsstunden die gröbste Unordnung beseitigt sein würde. Außerdem erschien mir ein geregelter Unterricht als die beste Methode, um den Schreck von gerade zu verdauen.

      Tante Rosie sah mich zweifelnd an. „Du bist noch ganz blass.“

      „Das kommt nur vom Schreck. Ich bin wirklich wieder in Ordnung.“

      Ich nickte ihr bekräftigend zu und wandte mich zum Gehen.

      „Lass uns los, sonst komme ich zu allem Überfluss auch noch zu spät zu Deutsch.“

      Kapitel 6 Deutschklausur

      Wir fuhren in Tante Rosies rotem Sportflitzer an meiner Schule vor, als es gerade zur ersten Stunde läutete. Zum Glück waren die meisten meiner Mitschüler schon im Gebäude, so dass ich mich von ihr verabschieden konnte, ohne viel Aufhebens zu verursachen. Nur Kathi stand noch vor der Schultür und wartete auf mich.

      „Hey Mia, ich dachte schon, du kommst heute nicht.“

      Sie warf einen Blick auf Tante Rosie, die winkend davonbrauste.

      „Oh Mann, ist das deine Tante?”, fragte sie ungläubig.

      „Ja, das ist sie. Ich hatte sie mir auch irgendwie anders vorgestellt. Aber sie ist wirklich nett.“

      „Das glaube ich gerne. Auf jeden Fall ist sie anders, als meine Großtante. Die hat sich vor einiger Zeit einen Gehwagen zugelegt und ihren Führerschein abgegeben.“

      Kathi fasste mich am Arm und zog mich Richtung Schultür.

      „Komm, wir sind schon spät dran, heute schreiben wir doch in der ersten Stunde Deutsch.“

      Entsetzt blickte ich sie an. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Eigentlich brannte es mir auf der Zunge, ihr zu erzählen, wie der Tag für mich begonnen hatte, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr.

      Herr Lempel war schon im Klassenraum, als wir atemlos reinstürzten.

      „Guten Morgen, die Damen. Ich hatte schon geglaubt, dass wir diese Leistungsüberprüfung ohne sie beide durchführen müssen.“

      Ich sah ihn genervt an. Nicht zuletzt wegen Herrn Lempel war Deutsch eines meiner schlechtesten Fächer. Ich konnte sein borniertes Gerede nur schwer ertragen und er hatte offensichtliche Probleme mit meinem norddeutschen Zungenschlag. Hinzu kam noch, dass er einige ausgewählte Lieblinge in der Klasse hatte, mit deren Beiträgen er gerne den Unterricht bestritt und es daher sehr schwer war, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen und so im Mündlichen eine gute Note zu bekommen.

      Heute sah Lempel mich aber überraschend freundlich an.

      „Geht es dir gut, Mia?”, fragte er in meine Richtung. Ich war gerade dabei, mich hinter meinen Tisch zu schlängeln und balancierte meine Schultasche vor mir her. Irritiert sah ich ihn an.

      „Ich habe schon von deinem Missgeschick beim Bäcker heute morgen gehört“, fügte er hinzu. „Wenn du lieber nach Hause gehen möchtest, kann ich das gut verstehen. Du könntest die Klausur nachschreiben.“

      Meine Mitschüler und ganz besonders Kathi sahen mich fragend an. Ich beugte mich zu ihr hinüber und flüsterte: „Das erzähle ich dir später.“

      Laut sagte ich zu Lempel: „Nein, vielen Dank, mir geht es schon wieder gut. Ich kann die Arbeit heute schreiben.“

      Im gleichen Moment ärgerte ich mich über mich selbst. Warum war ich immer so verflixt ehrlich? Ich hätte doch ruhig etwas auf die Tränendrüse drücken und alles etwas ruhiger angehen können. Nun war es zu spät.

      Lempel nickte mir anerkennend zu und begann die Aufgaben zu verteilen.

      Bald merkte ich, dass ich mich doch nur schwer konzentrieren konnte. Der Schreck saß mir noch gehörig in den Knochen, auch wenn ich vollmundig verkündet hatte, dass es mir wieder gut gehe. So gut ich konnte, versuchte ich, die Erinnerung an meinen nur knapp vermiedenen Erstickungstod zu verdrängen. Nicht verdrängen konnte ich allerdings die Erinnerung an meinen unbekannten Retter, der dann spurlos verschwunden war. Wenn ich versuchte, mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, sah ich nur seine Augen, die mich besorgt anblickten. Mal abgesehen davon, dass dies der Anblick war, als ich die Augen aufschlug, und knapp dem Tod entronnen war, hatte mich dieser Blick seltsam berührt.

      Lautes Papiergeraschel schreckte mich aus meinen Gedanken hoch. In der Reihe vor mir packte Martin seine Sachen zusammen. Er legte die beschriebenen Bögen Klausurpapier zusammen, steckte seinen Füller in die Mappe und erhob sich, um seine Arbeit auf das Pult von Lempel zu legen. Ich erschrak und sah auf meine Uhr. Die Hälfte der Zeit, die uns Lempel zugestanden hatte, war bereits vergangen. Martin war der Beste in Deutsch und es wunderte mich nicht, dass er schon fertig war. Ich selber hatte noch keine zusammenhängende Zeile zu Papier gebracht. Eigentlich hatte ich mir noch nicht einmal die Aufgabe vernünftig durchgelesen. Ich blickte kurz zur Seite und sah, dass Kathi eifrig Blatt um Blatt füllte. Sie blickte zurück und ihr Blick traf auf mein leeres Papier.

      „Was ist los mit dir?”, wisperte sie zu mir hinüber. „Du hast ja noch gar nichts geschrieben.“

      Inzwischen war es drinnen warm geworden und dreißig rauchende Köpfe hatten jede Menge Sauerstoff verbraucht. Lempel öffnete eines der großen Fenster unseres Klassenzimmers. Ein dicker grüner Käfer kam herein geflogen und kreiste mit lautem Brummen über unseren Köpfen. Dankbar für diese Ablenkung blickte die ganze Klasse nach oben und verfolgte seinen Flug. Schließlich kreiste er noch einige Male über meinem Kopf bevor er auf meinem Tisch landete. Er begann mit kleinen Trippelschritten an der Kante auf und ab laufen. Mein erster Impuls war, ihn mit der flachen Hand vom Tisch zu fegen, doch der kleine Kerl sah irgendwie hübsch aus mit seinen grünen, glänzenden Flügeldecken, auf denen einige feine rostrote Punkte zu sehen waren.

      Ich ließ ihn krabbeln und versuchte, aus dieser vermurksten Klassenarbeit noch das rauszuholen, was rauszuholen war. Der Käfer machte es sich vor meinem Blatt Papier bequem und begann, mit seinen Vorderbeinen seine Fühler zu putzen. Dabei blickte er mich gelegentlich an, zumindest hatte ich das Gefühl, dass er zu mir hoch sah, auch wenn mir klar war, dass ein Insekt wohl kaum Blickkontakt mit mir aufnehmen würde.

      Ich saß da und starrte auf mein noch weitgehend leeres Blatt.

      Der Käfer marschierte am oberen Rand des Blattes wie ein kleiner grüner Soldat auf und ab. Fast schien es so, als warte er darauf, dass ich endlich zu meinem Füller griff und etwas zu schreiben begann.

      Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln und las die Aufgabenstellung noch einmal durch.

      „Interpretieren Sie das Goethe-Gedicht Wanderers Nachtlied. Welche Botschaft finden Sie darin für Ihr