Luise Hennich

Krötenküssen


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Wenn die neuen Nachbarn vorhatten, auf diese Art und Weise das ganze Haus umzubauen, dann konnte das ja für die nächste Zeit ein gedeihliches Miteinander werden. Ärgerlich platzierte ich meinen Holzklotz und starrte in den Raum. Ich erkannte inmitten einer Staubwolke einen Mann, der in schwarzer Jeans und mit entblößtem Oberkörper und Ohrenschützern dabei war, ein großes Loch in die vordere Zimmerwand zu stemmen. Seine lockigen schwarzen Haare fielen ihm dabei bis auf die Schultern und trotz meines Ärgers konnte ich nicht umhin, einen bewundernden Blick über seinen muskulösen Rücken schweifen zu lassen. Mein Blick fiel über seine Beine auf seine Füße, die in klobigen schwarzen Stiefeln mit silbernen Beschlägen steckten.

      Mir wurde klar, um wen es sich hier handelte. Entweder war mein Retter von heute morgen ein Bauarbeiter, der hier einen Job erledigte oder er war mein neuer Nachbar. Auf jeden Fall war er gerade dabei, eine Wand einzureißen.

      Gedankenverloren betrachtete ich ihn, wie er mit ruhigen, kräftigen Bewegungen das Loch in der Wand Zentimeter und Zentimeter vergrößerte. Er schien vollkommen vertieft in seine Arbeit und im Gegensatz zu mir, schien ihm auch der infernalische Lärm nichts auszumachen. Mal abgesehen davon, dass er Ohrenschützer trug und ich nicht. Ein so schnelles Wiedersehen hatte ich nicht erwartet und ich war unschlüssig, ob ich mich zu Erkennen geben sollte. Vielleicht wollte er mich ja gar nicht kennen lernen, schließlich war er am Morgen abgehauen, noch bevor ich den kleinsten Dank loswerden konnte. Außerdem war es dank seines Presslufthammers praktisch unmöglich, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Aber ein bisschen Gucken konnte ich mir erlauben. Also lehnte ich mich mit den Armen auf das Fensterbrett, stützte mein Kinn in die Hände und sah ihm zu, wie er seine Abbrucharbeiten vorantrieb.

      Ein Wackeln meines Holzklotzes schreckte mich aus meinen Betrachtungen. Ich sah hinab und entdeckte einen kleinen braunen Hund, der neugierig mit beiden Vorderpfoten auf meinem Klotz stand und an meinem Fuß schnupperte.

      „Hey, mein Freund, der Klotz ist nicht groß genug für uns beide“, rief ich ihm halblaut zu.

      Der Hund wedelte mit dem Schwanz, machte aber keinerlei Anstalten, seinen Platz zu räumen. Eigentlich hatte ich ja auch lange genug meinen Retter angestarrt. Ich warf einen letzten Blick ins Haus und hatte mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tage beobachtete ich heimlich denselben Typen. Und zum zweiten Mal an diesem Tage schien er meinen Blick in seinem Rücken zu bemerken, denn plötzlich verstummte der Lärm, er nahm seine Ohrenschützer ab und noch bevor ich sehen konnte, ob er sich zu mir umdrehte oder nicht, zerbrach meine morsche Stehhilfe. Ich stürzte mit einem leisen Aufschrei zu Boden und lag neben dem Fenster inmitten von Gräsern und Brennnesseln.

      Der kleine Hund machte einen erschrockenen Sprung zur Seite und begann neben mir zu kläffen. Ich versuchte ihn zu beschwichtigen, aber es war zu spät. Eine Stimme näherte sich dem Fenster und rief:

      „Wolf, verdammt. Was machst du auf dem Weg? Geh zurück ins Haus“.

      Na, Humor hatte er ja. Wie konnte man diesen Winzling Wolf nennen? Verzweifelt versuchte ich, Wolf zu beruhigen, damit er nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich und damit auch auf mich zog. Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen, machte: „pschtt“ und dabei mit der anderen Hand das Zeichen für „Platz“. Wie durch ein Wunder war er sofort still und legte sich eng neben mich. Nur sein Hecheln drang jetzt noch an mein Ohr und ich spürte seinen warmen Hundeatem in meinem Gesicht.

      Über mir am Fenster hörte ich ein Geräusch.

      „Bitte“, sandte ich in Gedanken ein Stoßgebet gen Himmel. „Lass ihn nicht hinaus sehen“.

      Ich schmiegte mich so eng wie möglich an die Hauswand und betete, dass Wolf, im wahrsten Sinne des Wortes, die Schnauze hielt. Er hielt sie tatsächlich und ich konnte hören, wie das Fenster geschlossen wurde. Sekunden später begann der Presslufthammer erneut sein zerstörerisches Werk. Gottlob, er hatte mich nicht entdeckt. Erleichtert richtete ich mich wieder auf, klopfte den Staub von Hose und Jacke und entdeckte ein paar schmerzende Blasen an meinem Arm, die die Brennnesseln hinterlassen hatten. Immerhin war es besser, sich mit einer kleinen Reaktion meines Immunsystems aus der Affäre zu ziehen, als mit einem irreparablen Imageschaden.

      Als ich zu Hause ankam, war Tante Rosie mit Wotan im Garten. Sie hatte es sich auf der Wiese in einem Liegestuhl im Schatten bequem gemacht; neben ihr stand auf einem kleinen Tischchen ein fast volles Glas Orangensaft und auf ihrem Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch. Ihre Brille saß schief auf dem Kopf. Ein leises Schnarchen ließ mich vermuten, dass meine Tante fest eingeschlafen war. Wotan lag zu ihren Füßen und hatte seinen monumentalen Kopf auf die Pfoten gebettet. Er öffnete ein Auge und wedelte dann gelangweilt und träge mit dem Schwanz. Neben ihm stand eine leere Dose Würstchen. Scheinbar hatte Tante Rosie einen Weg ins sein Herz gefunden – der schien ja offensichtlich über den Magen zu führen. Ich beugte mich hinab und tätschelte ihn kurz.

      Verschwitzt und durstig wie ich war, griff ich nach Tante Rosies Orangensaft. In einem Zug leerte ich das Glas, um gleich darauf die Reste, die ich noch im Mund hatte, im hohen Bogen wieder auszuspucken. Die Farbe des Getränkes trog. Zwar war in diesem Glas sicher etwas Saft, aber der größte Teil der Mischung bestand bestimmt nicht aus Orangen. Misstrauisch schnupperte ich an dem leeren Glas. Wodka! Na super! Wieso standen hier denn am helllichten Tag hochprozentige Getränke im Garten rum?

      Wotan war aufgestanden und sah mich interessiert an. Vor meinen Füßen im Gras war eine Cocktail-Pfütze, die langsam versickerte.

      „Hey, lass das“, rief ich, als Wotan genüsslich begann, die Pfütze aufzuschlecken. Mürrisch sah er zu mir auf, drehte sich um und nahm seinen Platz neben dem Liegestuhl wieder ein.

      Tante Rosie reckte sich und gähnte vernehmlich. Sie öffnete die Augen.

      „Kindchen, was machst du denn schon hier?”

      Erschrocken griff sie nach ihrer Brille.

      „Ich hatte eher Schluss und bin zu Fuß gegangen“, antwortete ich und stellte so beiläufig wie möglich mein Glas zurück auf den Tisch.

      „Oh Gott, hast du etwa meinen Drink ausgetrunken?“ Tante Rosie sah mich entsetzt an.

      „Äh, ja, ich glaube, der war etwas zu stark für mich.“

      „Das möchte ich meinen. In deinem Alter solltest du überhaupt noch keinen Alkohol trinken.“

      „Wollte ich auch nicht. Das sah wie Orangensaft aus.“ Ich versuchte, sie streng anzusehen.

      „Aber auch in deinem Alter sollte man vielleicht nicht mitten am Tag Alkohol trinken.“

      Sie sah mich einen Moment lang an.

      „Ja, du hast Recht. Das ist eine schlechte Angewohnheit, die ich aus den USA mitgebracht habe. Vielleicht ist die hier in Gesellschaft einer jungen Dame nicht angebracht. Du musst ein bisschen Geduld mit mir haben, ich muss mich erst wieder eingewöhnen.“

      Ich hoffte im Stillen, dass Tante Rosie nicht ein kleines Alkoholproblem aus ihrer alten Heimat mitgebracht hatte.

      Laut sagte ich: „Kein Problem. Am besten, du schläfst nicht mehr neben deinen halbvollen Gläsern ein, dann kann ja nichts passieren.“

      „Na, es ist ja nicht immer Schnaps drin“, erwiderte sie leichthin und setzte sich auf.

      Ich bemerkte, dass ich einiges von Tante Rosies teuflischer Mischung getrunken hatte, denn ich fühlte, wie meine Beine schwer wurden. „Ich glaube, ich muss mich mal kurz setzen“, sagte ich und ließ mich in einen Gartenstuhl fallen.

      Tante Rosie sah mich besorgt an.

      „Ach Gott, Kind. Du hast ja heute auch noch nichts Richtiges gegessen.“

      Ich erinnerte mich, dass mein Frühstück ziemlich abrupt beendet worden war und seither hatte ich nichts mehr zu mir genommen. Das fehlte gerade noch: ein Glas Wodka auf leeren Magen. Ich sah zu meiner Tante hinüber, die nun auf der Kante ihres Liegestuhls saß und schwankte. Aber auch der Stuhl selber schwankte; zumindest schien es mir so. Eine nähere Analyse der Situation ergab, dass weder meine Tante noch ihr Stuhl schwankten, sondern ich selber.

      „Tante