Luise Hennich

Krötenküssen


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still. Mehr und mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass es nicht das Fellmonster war. Wotan war außer Stande, vollkommen geräuschlos irgendwo zu verharren. Sein Hecheln oder zumindest sein Atmen, hätten ihn verraten; mal ganz davon abgesehen, dass er es nicht aushielt, sich nicht in regelmäßigen Abständen ausgiebig zu kratzen.

      Zu meiner großen Erleichterung gingen plötzlich die Scheinwerfer auf der Terrasse an. Warum hatte ich nicht selbst daran gedacht, diese anzuschalten. Tante Rosie kam heraus und rief: „Mia, bist du das da draußen?“

      „Ich bin hier, Tante Rosie.“

      „Was, um alles in der Welt, machst du im stockdunklen Garten?“

      „Ich habe meine Schultasche hier vergessen.“

      Der Schein der starken Lampen beleuchtete schwach die Wiese, so dass ich meinen Rucksack hinter der Rückenlehne der Liege ausmachen konnte. Rasch beugte ich mich vor und ergriff ihn.

      Mit schnellen Schritten überquerte ich den Rasen und betrat das Wohnzimmer. Tante Rosie saß in Vaters Fernsehsessel, neben ihr lag Wotan und schlief selig.

      „Musst du jetzt etwa noch Hausaufgaben machen?“ Tante Rosie sah mich an.

      „Ja, leider.“

      „Au weia, Kindchen. Kannst du das nicht auf morgen verschieben?“

      „Leider nicht, ich habe direkt in der ersten Stunde Mathe. Bis dahin müssen die Aufgaben fertig sein. Sag mal Tante Rosie, glaubst du, dass es hier in der Gegend Wölfe gibt?“

      „Wölfe? Wie kommst du denn darauf? Bestimmt nicht in eurem Garten.“

      „War nur so eine Idee“, antwortete ich.

      Ich ließ Tante Rosie und Wotan zurück und ging hinauf in mein Zimmer.

      Widerstrebend zog ich mein Matheheft aus der Tasche und legte es auf den Schreibtisch. Der Aufgabenzettel fiel heraus. Ich sah mir die erste Aufgabe an und begann gähnend mit der Lösung. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich noch über meinen Hausaufgaben einschlafen. Glücklicherweise waren die Aufgaben nicht besonders anspruchsvoll und ich kam schnell voran. Nach etwa 20 Minuten war ich bei der letzten angelangt, als plötzlich ein Schrillen meines Computers eine neue Mail ankündigte.

      Ich öffnete das Mail-Programm und fand eine Nachricht von meinen Eltern: „Hallo Mia, mach die Webcam an.“ Schnell schaltete ich die Kamera an und öffnete das entsprechende Programm, um übers Internet Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm, während das Programm hochfuhr. Und da waren sie: Meine Eltern am Ende der Welt. Sie sahen eigentlich ganz normal aus, nicht so, wie ich mir Polarforscher vorgestellt hatte. Beide trugen dunkelblaue Pullover über einer Jeans und hatten weder verfrorene Nasen noch rote Ohren.

      „Hallo Mia“, begrüßte mich mein Vater und meine Mutter winkte mir zu.

      „Hallo ihr zwei“, grüßte ich zurück und merkte, dass ich sehr froh war, meine Eltern wohlbehalten zu sehen.

      „Seid ihr wirklich am Südpol? Ihr seht gar nicht danach aus.“

      „Zum Glück ist die Station gut geheizt“, gab meine Mutter lächelnd zur Antwort.

      „Du musst dir keine Sorgen machen, dass wir frieren müssen.“

      „Nur wenn wir rausgehen, müssen wir uns warm anziehen; dann ist es fast minus 30 Grad.“

      Alleine bei diesem Gedanken musste ich frösteln. „Na, dafür habt ihr ja genug Ausrüstung mitgenommen!“

      Es war ein komisches Gefühl, so mit meinen Eltern zu reden. Das Bild der beiden war zwar leidlich gut, aber die Bewegungen der beiden waren sehr ruckhaft, da die Übertragung nur ungenügend war. Wahrscheinlich hatten sie auch kein besseres Bild von mir.

      „Mia, erzähl mal, wie es dir geht! Hat mit Tante Rosie alles gut geklappt? Habt ihr euch schon etwas aneinander gewöhnt?“ wollte meine Mutter wissen.

      Was sollte ich erzählen? Dass Tante Rosie mit einem Tag Verspätung eingetroffen war, dann unser Haus weitgehend mit ihren Sachen verwüstet hatte, ich fast an einem Stück Schinken erstickt wäre und schließlich ein Opfer von Tante Rosies Trinkgewohnheiten geworden war?

      „Ja, es ist alles in bester Ordnung. Tante Rosie ist okay.“

      „Prima, wir hatten uns doch etwas Sorgen gemacht, ob ihr beide miteinander auskommt.“

      „Nein, nein, sie ist wirklich nett“, versicherte ich schnell und stellte fest, dass ich das auch tatsächlich so meinte.

      Meine Mutter starrte mit einem Mal angestrengt auf ihren Bildschirm.

      „Ist was, Mom?”, fragte ich.

      „Sag mal, hast du Besuch bei dir?”, wollte sie wissen.

      „Nein, wie kommst du darauf? Ich bin alleine. Es ist ja auch schon fast halb zwölf.“

      „Aber es sieht so aus, als säße jemand auf deinem Sofa.“

      Das Sofa stand in meinem Rücken an der Zimmerwand. Unsicher drehte ich mich um. Zwei bunte Kissen lagen darauf, ansonsten war es leer.

      „Nein, hier ist niemand“, schüttelte ich den Kopf.

      Nun beugte sich auch mein Vater vor und studierte das Bild, das von mir auf seinem Bildschirm erschien.

      „Mama hat Recht. Es sieht tatsächlich so aus, als ob jemand auf deinem Sofa säße.“

      Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich mich aufs Neue umdrehte. Wie zu erwarten, war niemand zu sehen.

      Ich drehte mich zurück zu meinem Computerbildschirm.

      „Nein, hier ist nichts“, konnte ich gerade noch herausbringen. Das „zu sehen“ kam schon nicht mehr am Südpol an, denn unvermittelt wurde mein Bildschirm nach und nach schwarz und meine Mutter und mein Vater verschwanden vor meinen Augen.

      „Mist“, brachte ich enttäuscht hervor und hämmerte auf die Tasten meines Rechners. Der Bildschirm blieb schwarz. Ich schüttelte die Webcam und überprüfte, ob das Kabel noch richtig angeschlossen war, doch das Gespräch blieb beendet.

      Seufzend wandte ich mich um und mein Blick fiel auf mein Sofa. Wie waren sie nur darauf gekommen? Vielleicht ein Schatten, der die Illusion einer Person hervorgerufen hatte? Zögernd erhob ich mich. Hatte ich jetzt schon Angst vor meinem eigenen leeren Sofa? Das ging zu weit. Entschlossen machte ich drei Schritte und ließ mich dann energisch darauf fallen.

      Es war leer- definitiv leer!

      Kapitel 10: Die Begegnung

      Sie sah aus wie eine Fee.

      Nicht wie die Feen, die ich kannte. Keine von diesen fetten, alten Weibern.

      Nein, sie sah aus wie die Feen, wie sie sich die Menschen vorstellen, wie die Feen aus Kinderbüchern. Sie war klein, zart und mit ihren kurzen roten Haaren sah sie aus wie Julia Roberts als Tinker Bell, die Fee, die Peter Pan vor Captain Hook beschützt.

      Sie saß im Café und frühstückte. Ich beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite durch die Scheibe und konnte meinen Blick nicht abwenden. Sie war nicht allein, mit ihr am Tisch saß eine ältere Frau. Die beiden hatten enorme Mengen Essen vor sich stehen und ich fragte mich zwei Dinge: Wieso war sie nicht auf dem Weg zur Schule? Konnte ein so schlanker Mensch derartig viel Essen verdrücken?

      Ich riss mich von ihrem Anblick los, überquerte die Straße und betrat die Bäckerei. Es war tierisch voll vor dem Brötchentresen. Seufzend stellte ich mich an und widerstand der Versuchung, mich nach ihr umzudrehen. Sie war schön, sie war eine Fee und sie war unerreichbar – für mich.

      „Was darf's denn sein?"

      Endlich war ich dran.

      Ich beugte mich über die Auslage und deutete auf ein paar Brötchen, doch irgendetwas irritierte mich. Irgendwie hatte ich ein komisches