Luise Hennich

Krötenküssen


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und in das Dunkel des Tannenwaldes eintauchten.

      „Das ist aber irgendwie gruselig hier.“

      „Du musst keine Angst haben“, antwortete ich leicht belustigt.

      „Warum?“

      „Die einzigen, vor denen man sich gruseln sollte, sind wir.“

      „Wieso das denn?”, fragte er mich empört.

      „Nur so.“

      „Du spinnst!“

      Vielleicht hatte er Recht.

      Wir ritten weiter den Berg hinauf und der Wald wurde immer undurchdringlicher. Seraphim und Nofretete schien es gut zu gefallen, denn sie ließen in regelmäßigen Abständen ein zufriedenes Schnauben hören. Das sanfte Geschaukel hatte mich schläfrig gemacht und mit halb geschlossenen Lidern döste ich ein wenig auf Seraphims Rücken. Plötzlich schlug mir unvermittelt gleißendes Sonnenlicht entgegen. Wir hatten eine Lichtung erreicht und schauten auf einen See, der sich völlig unerwartet vor uns auftat. Die Pferde blieben stehen.

      „Guck mal, wir können baden!”, kreischte Aaron begeistert und zappelte vor mir herum. „Hey, langsam“, warnte ich ihn. „Sonst liegst du wieder unten.“ Aber er war schon mit einer geschmeidigen Bewegung von Seraphims Rücken geglitten und flitzte auf das Seeufer zu.

      „Halt, nicht ins Wasser“, rief ich, während ich vom Pferd sprang, aber es war schon zu spät. Aaron hatte in Windeseile seine Schuhe abgestreift und stand bis zu den Knien im See.

      „Guck mal, hier sind ganz viele kleine Fische“, rief er begeistert. „Beim nächsten Mal bringe ich meine Angel mit.“

      „Aaron komm wieder her!” Ich stand am Ufer und versuchte, ihn aus dem Wasser zu locken, weil ich selber nur wenig Lust hatte, zu ihm hinein zu gehen. Bestimmt war der See noch ziemlich kalt. Immerhin hatten wir erst Frühling und noch keinen Hochsommer. Andererseits konnte Aaron noch nicht besonders gut schwimmen und wer wusste, wie tief so ein Bergsee war. Womöglich fiel das Ufer steil ab und er verlor den Boden unter den Füßen. Also konnte ich ihn auch nicht gut alleine im Wasser spielen lassen. Der kleine Unfall in der Pferdebox war schon genug für heute. Es fehlte noch, dass ich meinen kleinen Bruder auch noch vor dem Ertrinken retten musste.

      Aaron machte jedoch keine Anstalten, wieder ans Trockene zu kommen. „Hier ist auch noch ein Krebs“, informierte er mich. „Aaron, nicht so weit vom Ufer weg“, ermahnte ich ihn. „Och, Mann“, maulte er.

      Seufzend streifte ich meine Stiefel und Socken von den Füßen. Es hatte keinen Zweck. Der Knirps würde nicht von alleine aus dem Wasser kommen. Also tauchte ich vorsichtig einen Fuß ein und stieß einen kurzen Schrei aus.

      „Was ist los?”, fragte er mich erschrocken.

      „Das Wasser ist ja saukalt. Pass bloß auf, dass dir nicht die Zehen abfallen.“ Skeptisch sah er auf seine Füße. „Sind noch alle dran“, verkündete er.

      „Na, dann ist ja alles gut“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und setzte meinen zweiten Fuß in das eiskalte Wasser. Langsam watete ich auf Aaron zu und stellte fest, dass das Ufer des Sees sanft abfiel und keine steile Kante auszumachen war. Ich konnte also beruhigt sein, was seine Sicherheit anging.

      Ein großer Stein ragte aus dem Wasser und ich ließ mich auf ihm nieder. Aaron war ganz in sein Spiel mit den Wassertieren vertieft. Ich beobachtete ihn, wie er Flusskrebse mit der bloßen Hand fing, um diese zu betrachten und anschließend wieder vorsichtig ins Wasser gleiten zu lassen.

      Bis heute wussten wir noch nicht, ob Aaron es auch konnte. Wir alle konnten es, mit Ausnahme meines ältesten Bruders. Das bedeutete für ihn, dass er ein normales Leben führen konnte, es bedeutete aber auch, dass er sich von uns trennen musste, um dies zu tun. Natürlich hatten wir den Kontakt nicht verloren, aber er lebte sein Leben und wir hatten nur gelegentlich Anteil daran. Er war Arzt und manchmal nahm er unsere Hilfe in Anspruch, wenn er mit seiner Schulmedizin nicht mehr weiter wusste.

      Es zeigte sich meistens erst ab einem Alter von vier bis fünf Jahren, ob es vererbt worden war und fing mit kleinen Dingen an, die auch alltäglich sein konnten. Zum Beispiel, dass wilde Tiere uns gegenüber keine Scheu hatten und zutraulich auf uns zukamen.

      Ich beobachtete Aarons Spiel mit den Flusskrebsen genauer. Einen nach dem anderen fischte er geschickt aus dem Wasser, indem er sich vorsichtig von hinten anpirschte, das Tier eine Weile beobachtete und dann pfeilschnell die kleine Hand nach ihm ausstreckte. Manche Krebse waren schneller als er und konnten ihm entkommen, aber er erwischte eine erstaunlich große Zahl von Tieren. Diese benahmen sich allerdings völlig normal, spreizten die Scheren und wanden sich, um seinem Griff zu entkommen. Wie es zu erwarten war, hörte ich schließlich einen spitzen Schrei. „Au, lass los!”, brüllte er und schüttelte seine rechte Hand, an der ein ziemlich großer Flusskrebs hing, der sich mit seiner Schere an Aarons kleinem Daumen festgeklemmt hatte.

      „Warte, ich helfe dir“, rief ich ihm zu und erhob mich von meinem Stein.

      Belustigt fing ich seine Hand ein, die immer noch wie verrückt kreiste, um den Krebs los zu werden. „Halt mal still“, sagte ich zu ihm und legte seine Hand samt Flusskrebs in meine linke. Mit der rechten nahm ich das Tier vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ganz leicht an ihm. Sofort ließ er Aarons Daumen los. Aaron zog schmollend seine Hand zurück und das Tier lag ruhig in meiner Linken. Ich setzte ihn zurück ins Wasser und sah zu, wie es mit kräftigen Schlägen seines Schwanzes unter einem Stein verschwand. Ich konnte es.

      „Zeig mal deinen Daumen“, befahl ich Aaron. Er hob ihn hoch und hielt ihn mir vor das Gesicht. Zwei kleine rote Stellen waren zu erkennen – die Abdrücke der Krebsschere.

      „Tut schon gar nicht mehr weh!”, erklärte Aaron und wandte sich erneut dem Wasser zu. „Ich spiel jetzt lieber mit Muscheln, die können nicht beißen“, rief er mir über die Schulter zu.

      Ich nahm meinen Beobachtungsposten auf dem Stein wieder ein und sah ihm zu, wie er mit bloßen Händen im Wasser umherfischte. Strahlend präsentierte er mir eine ziemlich große Muschel.

      „Guck mal“, rief er zu mir hinüber. „Da ist bestimmt eine riesige Perle drin. Die kann ich dann Constanze schenken!” Aaron hatte eindeutig ein besseres Verhältnis zu unserer Schwester als ich.

      „Aaron, ich glaube, Perlen findet man nur in Austern. Und das hier ist ja gar keine Auster!”, belehrte ich ihn. Er sah mich ungläubig an.

      „Perlen kann man in allen Muscheln finden.“

      „Nein, bestimmt nicht. Dann hätten ja alle Leute lauter Perlenketten um den Hals“, konterte ich. „Tu die Muschel lieber wieder zurück ins Wasser, wir wollen mal langsam wieder nach Hause reiten.“

      „Nö, ich will erst die Perle raus haben.“ Aaron konnte sehr hartnäckig sein, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

      „Aaron, da ist bestimmt keine drin!“

      „Ich will aber, dass da eine drin ist!“ Aaron sah mich grimmig an und stampfte mit dem Fuß auf. Hinter uns hörte ich Seraphim und Nofretete vernehmlich schnauben. Offenbar begannen sie, sich für unseren kleinen Disput zu interessieren.

      Seufzend zückte ich mein Taschenmesser. „Also gut, wir machen die Muschel auf“, gab ich nach und nahm sie ihm aus der Hand. Widerstrebend ließ er sie los. Ich schob die Klinge zwischen die beiden Muschelhälften und drehte sie herum. Die Muschel sprang auf und ich blickte auf hellrosa Muschelfleisch.

      „Siehst du“, wollte ich schon sagen, doch dann fehlten mir vor Verwunderung die Worte und ich starrte fassungslos auf die geöffnete Muschel in meiner Hand. Etwas versteckt unter einer zarten Haut lag eine große, weiße, wunderschöne Perle.

      Wie konnte das sein? Ich war mir sehr sicher, dass man in keinem Bayrischen See eine Muschel finden konnte, die eine Perle dieser Größe produzierte, aber ich konnte mich natürlich täuschen. Biologie war noch nie meine große Stärke gewesen. Hatte ich mir insgeheim so eine Perle gewünscht? Bestimmt nicht! Aber Aaron