Luise Hennich

Krötenküssen


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der Muschel kramte, um die Perle herauszufischen.

      „Die ist schön, was?“ Triumphierend blickte er zu mir hinauf, als er sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

      „Allerdings“, antwortete ich. „Hast du dir sie so schön vorgestellt?“

      „Ja, genauso habe ich mir sie vorgestellt.“

      Aaron konnte es auch.

      Kapitel 12: Der Wolf und die Fee

      Es war wie eine Art geistige Behinderung. Zumindest empfand ich es so.

      Aber schlimmer als eine gewöhnliche Behinderung war es eine, die verheimlicht werden musste, weil sie beängstigend war für alle, die sie nicht hatten und auch beängstigend war für die, die sie hatten. Vielleicht war es nur ein Gendefekt, der dafür sorgte, dass wir Dinge tun konnten, die andere Menschen nicht vermochten. Vielleicht war es auch eine „Gabe“, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Ich tendierte mehr zum Gendefekt, da es ja erwiesenermaßen erblich war.

      Auf jeden Fall war es ziemlich nervig, denn es führte dazu, dass ich permanent meine Gedankten kontrollieren musste, damit kein Unglück geschah oder ich mich plötzlich in einer Situation befand, die ich nicht erklären konnte.

      Ein Außenstehender würde uns als Zauberer bezeichnen, denn auf zauberhafte Weise geschahen Dinge nur kraft unserer Gedanken, aber ein Außenstehender durfte niemals erfahren, was wir vermochten.

      Es war schon Nachmittag, als wir wieder den Hof erreichten. Aaron sprang vom Pferd und flitzte auf meine Schwester zu, die gemeinsam mit meinen Eltern und meinem Bruder im Hof stand.

      „Constanze, schau mal hier. Eine Perle für dich!“ Strahlend kramte er in seiner Tasche und holte seinen Schatz hervor. Die Perle zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, stellte er sich auf die Zehenspitzen und hielt sie Constanze vor das Gesicht. „Die habe ich in einer Muschel gefunden. Extra für dich!“

      „Hey, toll, Kleiner!“ Constanze nahm ihm die Perle aus der Hand, schenkte ihr weiter keine Beachtung und steckte sie die Gesäßtasche ihrer schwarzen Jeans. Auch meine Eltern reagierten nicht auf dieses nun wirklich nicht gewöhnliche Geschenk, sondern sahen über Aaron hinweg und es schien, als suchten sie mit ihren Blicken den Hof ab.

      Ich stieg von Seraphim und sah die anderen an.

      „Ist was los?”, fragte ich meinen Vater.

      „Ja, Wolf ist weg. Mal wieder.“

      „Wir haben ihn seit heute Mittag nicht mehr gesehen“, ergänzte meine Mutter.

      „Bei mir ist er nicht“, erklärte ich, obwohl es ganz offensichtlich war, dass wir unseren Ausflug ohne ihn gemacht hatten.

      „Er wird schon wieder kommen“, sagte ich betont lässig. Dabei war mir bei dem Gedanken, dass er sich mal wieder alleine auf den Weg gemacht hatte, nicht wirklich wohl. „Er will halt ein bisschen die Gegend erkunden.“

      „Ich möchte nicht, dass er hier alleine umherstreift“, ließ sich mein Vater vernehmen. „Rasputin, sieh dich doch bitte mal um, ob du ihn finden kannst. Wir sind schon ganz entnervt von der Sucherei.“

      Das fehlte mir noch, dass ich nun auch noch dieses Vieh suchen musste. Sollte er doch ein bisschen durch die Gegend rennen. Immerhin war es helllichter Tag – was sollte da schon groß passieren – außer, dass der Winzling von einem anderen Hund gefressen wurde. Für uns würde das ein paar Probleme weniger bedeuten.

      Mein Unwillen schien mir deutlich ins Gesicht geschrieben, denn meine Mutter setzte noch energisch hinzu: „Er muss auf jeden Fall wieder zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Also, mach dich auf den Weg.“

      „Yes, Ma’am“, antwortete ich halb spöttisch, halb ehrfurchtsvoll. „Ich bringe nur noch schnell die Tiere in den Stall zurück. Dann geht es los.“

      Die Geschichte mit der Muschel und der Perle konnte ich auch noch später erzählen.

      Ich suchte bereits eine Stunde unser Anwesen ab und hatte mich mit Staub und Dreck vollkommen eingesaut, als ich einsah, dass Wolf hier nicht zu finden war. Anscheinend hatte er sich tatsächlich auf eine kleine Spritztour begeben. Notdürftig klopfte ich meine Kleidung ab und entfernte die gröbste Staubschicht, bevor ich den Hof durch das Tor verließ.

      Die Sonne war inzwischen schon deutlich gesunken und es würde nicht mehr lange dauern, bis es begann, dämmrig zu werden. Spätestens dann sollte das Vieh zu Hause sein.

      Ich umrundete den Hof von außen und ließ meinen Blick zwischen Büschen und Hauswand schweifen. Schließlich wandte ich meine Schritte ab und ging den Weg entlang, der sich hinter unserem Haus wand. Plötzlich glaubte ich, ein Kläffen zu hören. Ich blieb stehen und lauschte. Tatsächlich, ein leises Kläffen drang an mein Ohr. Ich war mir nicht sicher, ob es von Wolf stammte, richtete jedoch trotzdem meine Schritte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Mit jedem Schritt wurde es lauter und ich glaubte, Wolfs Stimme zu erkennen. Allerdings mischten sich auch dunklere Töne dazwischen; Wolf schien nicht alleine zu sein. Ich beschleunigte meine Schritte und folgte dem Gebell.

      Nach wenigen hundert Metern stand ich vor einem großen, extrem stabilen Tor, das den Hintereingang in den Garten unserer Nachbarn markierte. Das gesamte Anwesen war von einem mannshohen Drahtzaun umgeben, der außen von einer ebenso hohen Buchenhecke umsäumt wurde. Ich fragte mich, warum diese undurchdringliche Hecke noch einmal von innen mit einem Zaun gesichert war. War das hier Fort Knox? Hatten die Nachbarn auch etwas zu verbergen? Suchend spähte ich durch das Tor und sah tatsächlich Wolf, wie er vor einem grauen Werwolf stand. Vor den beiden stand die Fee und betrachtete sie mit einem ängstlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht.

      Mein erster Impuls war, über das Tor zu springen, den Werwolf zu töten, die Fee zu retten und Wolf in den Arsch zu treten.

      Glücklicherweise konnte ich mich beherrschen und so stellte ich fest, dass erstens das Tor sowieso nicht abgeschlossen und von außen leicht zu öffnen war. Zweitens der Werwolf kein Werwolf sondern einfach nur ein riesiger, stinkender, extrem hässlicher Hund war und die Fee sich drittens offenbar nicht in Gefahr befand – wenn man einmal von Wolf absah.

      Ich blieb vor dem Tor stehen und beobachtete eine Weile das seltsame Treiben auf dem Rasen. Wir suchten das Vieh wie verrückt und dabei tyrannisierte es den Nachbarshund. Kaum zu glauben.

      Ich ließ die beiden außer Acht und konzentrierte mich auf die Fee. Irgendwie machte es mich befangen, sie heimlich aus der Nähe zu betrachten, aber trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihr lösen. Sie stand, feengleich, im sanften Licht der frühen Abendsonne unter diesem Apfelbaum, der, um auch noch das letzte kitschige Klischee zu erfüllen, in voller Blüte war.

      Ihr rotes Haar war etwas verstrubbelt, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie trug das gleiche T-Shirt wie am Morgen und erst jetzt wurde mir bewusst, wie zierlich ihre Figur, die in einer engen, verwaschenen Jeans steckte, war. Sie verfolgte das Treiben der Hunde, und ihr Gesicht hatte einen etwas ängstlichen Ausdruck.

      Was hatte Wolf hier angestellt? Hatte er der Fee Angst gemacht?

      Unauffällig versuchte ich, mit ihm Kontakt aufzunehmen, doch er ignorierte mich geflissentlich. Dabei wusste ich genau, dass er mich längst gesehen hatte.

      Gut, er hatte es so gewollt. Ich würde ihn persönlich aus diesem Garten entfernen und ihm klar machen, dass die Fee für ihn absolut tabu war.

      Entschlossen öffnete ich das Gartentor und in diesem Moment ließ er vom Nachbarshund ab und sprang fröhlich, nachdem er noch ein paar Runden um den Apfelbaum gedreht hatte, auf mich zu. Mit knapper Not kam er schließlich vor meinen Füßen zum Stehen.

      Ich beugte mich zu ihm herab. Laut sagte ich betont fröhlich: „Alter, da bist du ja.“ Leise knurrte ich in sein rechtes Ohr: „Wir sprechen uns noch!“

      Ich richtete mich wieder auf und blickte der Fee direkt in die Augen. Nach der Erfahrung mit ihrem Blick, der auf meinen Rücken gerichtet war, hätte ich eigentlich darauf vorbereitet sein müssen,