Luise Hennich

Krötenküssen


Скачать книгу

wollen Sie?"

      Die Verkäuferin sah mich ungeduldig an.

      „Was?"

      Ich wusste nicht, was sie von mir wollte.

      Das warme Gefühl wanderte von meinem Nacken hinab über den Rücken, bis zu meinem Hintern.

      „Brötchen. Wieviel Brötchen wollen Sie?"

      „Ich weiß nicht, vielleicht sechs", murmelte ich und drehte mich irritiert herum.

      Dabei sah ich sie an.

      Und plötzlich wusste ich es.

      Es war ihr Blick gewesen, der sich in meinen Nacken gebrannt hatte.

      Irre! Sowas hatte ich noch nie erlebt! Ich konnte ihre Blicke spüren.

      Sie peilte, dass ich wusste, dass sie mich ziemlich gründlich gemustert hatte und ich musste grinsen. Doch das Grinsen blieb mir im Hals stecken, weil sie offensichtlich ein ähnliches Problem hatte. Scheiße, ich wollte sie doch nicht so in Verlegenheit bringen, dass ihr gleich das Frühstück im Hals stecken blieb!

      Sie sah mich entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen an. Verzweifelt versuchte sie, Luft zu bekommen. Schließlich verdrehte sie die Augen und sank in sich zusammen. Vom Verkaufstresen bis zu ihrem Tisch waren es nur wenige Schritte. Ohne zu überlegen spurtete ich los, umfasste sie von hinten, drückte auf ihren Brustkorb und ein Stück Schinken sprang aus ihrem Mund. Sie war so zart, so zerbrechlich in meinen Armen, dass ich schon befürchtete, ihr ein paar Rippen gebrochen zu haben. Doch als sie hustend und nach Luft schnappend wieder zu sich kam, gab sie keinen Schmerzenslaut von sich. Offenbar war alles in Ordnung mit ihr.

      Widerwillig ließ ich sie zu Boden gleiten und der zu erwartende Tumult brach aus. Ihre ältliche Begleiterin stürzte sich unter lautem Rufen auf sie und begann, sie an sich zu drücken. Die Hausfrauen bildeten einen Kreis um die beiden und tauschten aufgeregt Geschichten über ähnliche Begebenheiten aus, die offenbar jede von ihnen schon einmal erlebt oder miterlebt hatte. Die Bedienung stand abwartend daneben – als ob sie darauf wartete, dass jemand neuen Schinken bestellte.

      Niemand beachtete mich mehr. Ich nahm meine Brötchen vom Verkaufstresen und verschwand aus der Bäckerei.

      Es war klar, dass zu Hause alle Bescheid wussten. Als ich ankam, saß schon ein kleines Tribunal bereit. Ich warf die Tüte mit den Brötchen auf den Tisch und sah sie an.

      Soweit ich mich erinnern konnte, war dies mein achtes Zuhause. Beständig waren wir um die Welt gezogen. Die Magic Family – so nannten wir uns. Eine Zaubererfamilie, eine Zaubershow. Ich war Teil dieser Show, ebenso wie meine Eltern und meine Geschwister. Die Magic Family zog um die Welt, doch damit sollte nun Schluss sein. Am Arsch der Welt wollten wir uns niederlassen und ein Varieté eröffnen. Auf so eine dämliche Idee konnte nur mein Vater kommen.

      „Ah, der Samariter ist zurück!”, begrüßte mich mein Vater mit einem gequälten Lächeln.

      Ich entgegnete nichts und setzte mich auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Schützend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust.

      Sie sahen mich an und schwiegen ebenfalls. Die Situation war unangenehm. Ich räusperte mich und blickte zu meiner Mutter.

      Sie sah mich an und warf ihr langes schwarzes Haar über die Schulter auf den Rücken zurück. Meine Schwester saß neben ihr und tat es ihr gleich.

      „Mann, Rasputin, kannst du dich nicht mal beherrschen?”, fuhr sie mich an.

      „Was habt ihr? Hätte ich das Mädchen ersticken lassen sollen?“

      Mir war, als würde ich ein unmerkliches Nicken bei allen am Tisch entdecken.

      „Ihr spinnt wohl!”, entfuhr es mir.

      „Wir sind seit zwei Tagen in dieser Stadt und wir wollen hier bleiben. Es war unfassbar schwer, ein geeignetes Objekt zu finden. Wir haben monatelang gesucht und du lässt alles sofort auffliegen, um so eine dumme Göre zu retten.“

      „Was habe ich denn auffliegen lassen? Sie hatte ein Stück Schinken im Hals und ich habe es entfernt. Das ist alles, das ist die ganze Geschichte.“

      „Genau das ist der Punkt. Du hast es entfernt. Warum hat es nicht jemand anders gemacht?”, fragte mein Vater mit genervtem Seufzen.

      „Es war gerade niemand da“, verteidigte ich mich.

      „Offenbar hast du es aber auch nicht darauf angelegt, dass dir jemand diesen Job abnimmt“, stimmte nun auch noch mein Bruder in das Klagelied mit ein.

      „Zum Beispiel jemand, der dafür eine konventionelle Methode benutzt hätte?“ ergänzte meine Mutter und tippte sich dabei missbilligend an die Stirn.

      „Wie würdet ihr den Heimlich-Griff denn bezeichnen?”, antwortete ich einigermaßen verwundert. Ich dachte, sie wüssten alles. Offenbar war das nicht der Fall.

      „Heimlich-Griff? Was soll das denn sein?”, erkundigte sich meine Mutter.

      „Das ist ein Rettungsgriff, bei dem man den Erstickten von hinten umfasst und dann auf seinen Brustkorb drückt. Dabei springt meistens das raus, was in seiner Luftröhre quer sitzt – das weiß doch jeder.“

      „Und du beherrscht den Heimlich-Griff?“

      „Ja, verdammt, ich beherrsche den Heimlich-Griff. Wer einen Führerschein hat, sollte das zumindest. Ihr scheint davon ja wohl noch nie was gehört zu haben. Wie habt ihr denn euren Führerschein bekommen?”, entgegnete ich ziemlich pampig obwohl ich sehr genau wusste, wie alle Anwesenden, mit Ausnahme von mir, ihren Führerschein bekommen hatten.

      Die Mienen am Tisch hellten sich auf. Mein Vater stieß erleichtert die Luft aus und meine Mutter legte spontan ihre Hand auf meine.

      „Warum haltet ihr mich für total bescheuert?”, schrie ich empört und wollte aus dem Zimmer stürzen. In diesem Moment fuhr mit quietschenden Reifen ein Wagen auf den Hof, eine Autotür fiel lautstark ins Schloss und wenige Sekunden darauf klingelte es an der Haustür.

      Alle sahen mich an. „Ich erwarte niemanden“, sagte ich einigermaßen verwirrt.

      „Wer kann das sein?”, fragte meine Mutter in Richtung meines Vaters.

      Mein Vater erhob sich. „Ich werde nachsehen“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Haustür. Währenddessen klingelte es ein zweites Mal. Wir konnten hören, wie er die Tür öffnete, und ihm ein Redeschwall entgegenschlug, noch bevor er ein einziges Wort sagen konnte.

      „Ach, mein Lieber, entschuldigen Sie bitte, dass ich schon wieder stören muss“, hörten wir eine laute Stimme sagen. Wir sahen uns an. Diese Stimme kannten wir schon vom Tag unseres Einzugs. Die Nachbarin, die schon unsere Hilfe gebraucht hatte, weil sie sich ausgesperrt hatte. Gespannt warteten wir darauf, was nun kommen würde.

      „Mein Lieber, Sie können sich nicht vorstellen, was mir heute widerfahren ist! Um ein Haar hätte meine Nichte ihr junges Leben ausgehaucht, weil sie sich verschluckt hatte. Wäre nicht dieser beherzte junge Mann gewesen – ich weiß nicht, wie diese Geschichte ausgegangen wäre!“

      Wir hörten meinen Vater Luft holen und zu einer Erwiderung ansetzen, aber er kam nicht so weit.

      „Mein lieber Dr. Malinkow – so war doch Ihr Name, nicht wahr? Könnten Sie sich vorstellen, mir noch einmal aus einer misslichen Lage zu helfen? Ich muss etwas zur Beruhigung meiner Nerven tun, aber leider bekomme ich mein Medikament nicht auf. Vielleicht könnten Sie einmal Ihr Glück mit diesem Schraubverschluss versuchen?“

      Wir sahen uns an.

      „Ich weiß“, hörten wir wieder ihre Stimme. „Es muss komisch wirken, wenn jemand am helllichten Vormittag mit einer Flasche Wodka vor Ihrer Tür steht. Denken Sie nichts falsches, Dr. Malinkow, denn ich sage Ihnen eines: Mein Adrenalinspiegel ist sicher nicht mit Baldriantropfen zu beruhigen. Ein kleines Schlückchen Alkohol wirkt dagegen Wunder.“

      „Da haben Sie ja wirklich einen gehörigen Schrecken ausgestanden“, kam mein