Alissa Sterne

Fesselnde Entscheidung 2


Скачать книгу

versuchte, nicht zu weinen. »Ist da jemand?«, rief er laut. Absolute Stille. Weder ein Wimmern noch ein Schluchzen war mehr zu hören. Er kratzte sich am Kopf und überlegte. Vielleicht war es auch nur eine Katze oder aber sein Tinnitus hatte ihm einen üblen Streich gespielt. Gerade als er sich abwenden und nach links zu seinem Auto gehen wollte, vernahm er ein gedämpftes, schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam von rechts aus Richtung der Einfahrt. Alarmiert blickte er um sich und öffnete mit einem geübten Griff das Gürtelholster seiner Waffe. Zu dieser späten Stunde war der Parkplatz vollkommen verlassen. So weit die dürftige Beleuchtung es zuließ, hatte er freie Sicht. Sein Auto stand unweit links von ihm. Er aber ging im Schutz des Bürokomplexes langsam nach rechts. Fast hatte er das Ein- und Ausfahrtstor erreicht, als er wieder ein Wimmern hörte. Jetzt laut und deutlich. Das war keine Katze und kein Tinnitus, sondern ein Mensch. Keine Frage. Schnell tippte er den Zahlencode in das Tastenfeld an der Tür neben dem Tor ein, dann führte er seine Chipkarte vor das Lesegerät. Surrend öffnete sich die Tür. Er verließ das Firmengelände und blickte um sich. Stumm verfluchte er die spärliche Straßenbeleuchtung, als er einer Eingebung folgend nach rechts abbog und die Straße und den Gehweg so gut es ging nach etwas Verdächtigem absuchte. Abrupt beschleunigte sich sein Herzschlag, als er im Halbdunkel plötzlich Beine entdeckte, die aus einem Gebüsch ragten. Mit schnellen Schritten eilte er zu der Person, die versuchte, sich aufzurichten. »Oh Gott! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte er und half der Frau in eine sitzende Position. Zu mehr war sie offensichtlich nicht in der Lage. »Was ist passiert? Sind Sie überfallen worden? … Warten Sie, ich rufe einen Krankenwagen.« »Nein, bitte nicht!«, hörte er sie mit zittriger Stimme sagen. Verständnislos musterte er die junge Frau. Auf Anfang 20 schätzte er sie. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen und dick angeschwollen. Sie konnte es kaum öffnen. Ihr ganzes Gesicht war verschmiert. Er war sich nicht sicher, ob mit Blut oder Schminke. Wahrscheinlich aus beidem, schlussfolgerte er. »Aber Sie sind verletzt! Sie bluten … Sie müssen in ein Krankenhaus!« »Nein, bitte nicht!«, sagte sie immer noch sehr leise, »das sieht schlimmer aus, als es ist.« »Das wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall rufe ich die Polizei! Hat man Ihnen etwas gestohlen?« »Nein, bitte auch keine Polizei!« Ihre Stimme wurde lauter. »Aber …« »Das war mein Freund … Beziehungsweise mein Exfreund.« »Ein Grund mehr zur Polizei zu gehen!« »Nein, ich will das nicht! Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe. Das ist nicht Ihr Problem!« »Aber ich kann Sie hier doch nicht einfach liegen lassen!« »Mir geht es gut … also, es ging mir schon mal besser, aber … wird schon wieder.« Erneut versuchte sie aufzustehen, doch ihre zitternden Beine versagten ihr den Dienst. Tränen der Verzweiflung sah er in ihren Augen aufblitzen. Er kniete sich vor sie und redete mit sanfter Stimme auf sie ein, in der Hoffnung, sie zur Vernunft zu bringen. Wahrscheinlich befand sie sich in einem Schockzustand, befürchtete er. »Wo wollen Sie denn jetzt hin? Kann ich Sie vielleicht irgendwo hinbringen? … Auch wenn ich finde, dass Sie in ein Krankenhaus gehören.« »Danke, das ist echt nett von Ihnen, aber …« Sie brach ab und wischte sich mit dem Handrücken ihre Tränen weg. »Würden Sie mich bitte einfach allein lassen?« »Mein Auto steht gleich hier hinten auf dem Parkplatz. Ich werde Sie sicherlich nicht hier liegen lassen. Kann ich Sie vielleicht zu … zu einer Freundin fahren, oder so?« »Das geht nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Er würde mich überall finden.« »Sie müssen zur Polizei gehen. Da sind Sie vor diesem Kerl sicher!« Die junge Frau schüttelte müde mit dem Kopf. »Sie verstehen das nicht! … Beim nächsten Mal bin ich tot … Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe! Gehen Sie jetzt bitte nach Hause und leben Sie Ihr Leben!« Vollkommen perplex beobachtete Philipp, wie sie sich voller Entschlossenheit aufrichtete, als wenn sie ihren Beinen unmissverständlich klarmachen wollte, dass sie es nicht wagen sollten, ihr erneut den Dienst zu quittieren. Nur ihr schmerzverzerrtes Gesicht ließ erahnen, wie es tatsächlich in ihr aussah. Besorgt fing er ihren Blick auf. Aber sie wandte sich von ihm ab, angelte mühsam nach ihrer Handtasche, die irgendwo im Gebüsch verborgen lag, und machte schließlich einen Schritt weg von ihm. Plötzlich taumelte sie und versuchte mit rudernden Armen im letzten Moment irgendwo Halt zu finden. Bevor sie wieder im Gebüsch landete, fing Philipp sie auf. Ohne etwas zu sagen, hob er sie hoch und war für den Bruchteil einer Sekunde überrascht, wie leicht sie war. Sie leistete keinen Widerstand, sondern schien fast dankbar zu sein, als er sich mit ihr in Bewegung setzte und sie zurück zum Eingangstor trug. »Ich kann nicht ins Krankenhaus, die würden mir zu viele Fragen stellen. Und zur Polizei will ich auch nicht«, sagte sie bestimmt, und doch wirkte ihre Stimme kraftlos. »Habe ich schon verstanden. Und ich hoffe, du verstehst, dass ich dich hier irgendwie auch nicht stehen … beziehungsweise liegen lassen kann.« Ohne sie abzusetzen, tippte er an der Tür, die das Firmengelände vom Rest der Welt trennte, schnell die Zahlenkombination ein und öffnete mit der Chipkarte die Tür. Erst vor der Beifahrertür seines Wagens setzte er sie sanft ab und ließ sie auf den Sitz rutschen. »Ist das Ihr Auto?«, fragte sie mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme. »Nein, ist geklaut.« »Ach so.« Er traute seinen Ohren nicht und beugte sich zu ihr hinab, um in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihre gleichgültige Reaktion gespielt oder ernst war. Er war sich nicht sicher. »Natürlich ist das mein Auto. Was denkst du denn?« »Welches Baujahr?« »1963. Du interessierst dich für Autos?«, fragte Philipp überrascht. »Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe noch nie in so einem tollen alten Auto gesessen.« Gefühlvoll schloss er die Beifahrertür. Während er um den Wagen herumging, überschlugen sich seine Gedanken. Was für ein Abend! Was für ein Tag! Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und reichte ihr die Hand. »Philipp.« Sie lächelte zaghaft. »Sarah. Wo bringst du mich hin?« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung … Vielleicht in eine Notfallambulanz?« »Nein! Bitte nicht! Sonst steig ich sofort aus!« Auch wenn er nicht glaubte, dass sie weit kommen würde, wollte er es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. »Und wenn ich dich zu deinen Eltern bringe?« »Für meine Eltern bin ich gestorben.« Philipp zog die Stirn kraus. Da saß eine Frau in seinem Auto, die offenkundig nicht nur zusammengeschlagen worden war, sondern noch viel mehr Probleme am Hals hatte. »Wo wohnst du? Sonst fahre ich dich auch nach Hause.« Sah er da so etwas wie Panik in ihren Augen aufblitzen? »Du willst mich zu ihm bringen?« »Nein. Natürlich nicht. Ich wusste nicht, dass ihr zusammenwohnt … also zusammengewohnt … äh … ist ja auch egal ...« Philipp brach ab, kratzte sich an der Stirn und dachte nach. Was sollte er jetzt machen? Er konnte sie doch nicht einfach mit zu sich nach Hause nehmen, aber andererseits? Allerdings … was, wenn sie innere Verletzungen oder sogar eine Hirnblutung hatte? Sie gehörte in ärztliche Obhut! Plötzlich hatte er eine Idee und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ein Kumpel von mir ist Sportmediziner. Der soll sich zumindest mal dein Auge ansehen. Er wird auch keine Fragen stellen, okay?« »Ich habe keine Krankenversicherungskarte dabei.« »Er wird’s überleben.« Kaum hatte er es ausgesprochen, zog er auch schon sein Smartphone aus der Tasche und betätigte das Display. Während er sich das Handy mit der linken Hand ans Ohr hielt, startete er mit der anderen den Motor und fuhr los. »Hey Markus, ich bin’s. Alles klar bei dir? … Du eine Freundin von mir ist in eine Schlägerei geraten und will partout nicht ins Krankenhaus. Aber ihr Auge ist fast zugeschwollen. Könntest du dir das einmal anschauen? … Prima, danke! Bis gleich!« Nachdem er die Pin eingegeben und die Zutrittskarte vor das Lesegerät gehalten hatte, öffnete sich das imposante Firmentor und sie fuhren hinaus auf die menschenleere Straße, vorbei an dem Gebüsch, in dem er diese ramponierte und jetzt am ganzen Körper zitternde Frau gefunden hatte. »Alles okay?«, erkundigte er sich. »Ja. Mir ist nur auf einmal entsetzlich kalt.« »Kein Wunder! Deine Klamotten sind ja auch total durchnässt. Im Büro hatte ich es gar nicht mitbekommen, aber es muss ganz schön geregnet haben. Wie lange hast du da schon gelegen?« »Nicht so lange. Glaube ich ...« Ihre brüchige Stimme erstarb. Philipp warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre langen blonden Haare hingen wirr an ihr herab. Sie wirkte vollkommen aufgelöst. Innerlich wie äußerlich. Einem Impuls folgend hätte er am liebsten ihre Hand genommen, um sie zu beruhigen, aber er tat es nicht, sondern konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm. Keiner sagte etwas. An einer roten Ampel stoppte er den Wagen und schaute wieder zu ihr hinüber. Er folgte ihrem Blick auf seine rechte Hand, die das Lenkrad fest umschloss. Vielleicht suchte sie einen Ehering oder fragte sich, woher die Narbe stammte, die quer über seinen Handrücken verlief. Vielleicht hatte sie auch Angst vor ihm. Er konnte ihren Blick nicht richtig deuten und fragte sich, was er sagen sollte, um das bedrückende Schweigen zu brechen. Als sich ihre Blicke trafen, zog sich