Alissa Sterne

Fesselnde Entscheidung 2


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auf seine Schultern. Ihre dünne Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich dachte, er würde mich lieben«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Wart ihr schon lange zusammen?« Sie wich seinem Blick aus und starrte wie paralysiert auf die rote Ampel vor ihnen. »Ja.« Ihre knappe Antwort sagte ihm, dass sie keine weiteren Fragen wollte. Also konzentrierte er sich auch auf die rote Ampel und war erleichtert, als sie endlich auf Grün umsprang. Schweigende Minuten später bog Philipp in eine verkehrsberuhigte Seitenstraße und parkte seinen Wagen vor einem Häuserblock aus roten Backsteinen. »Im Erdgeschoss hat Markus seine Praxis. Oben wohnt er«, erklärte er, als er die Beifahrertür geöffnet hatte und ihr heraushalf. Er sah, wie sie die Zähne zusammenbiss. Ihr Körper musste ein Meer aus Schmerzen sein. »Soll ich dich …?« Doch bevor er seine Frage beenden konnte, hakte sie sich bei ihm ein. An der anderen Hand hielt sie ihre Tasche fest, die sie während der gesamten Fahrt auf ihrem Schoß fest umklammert hatte. Kaum hatten sie die Eingangstür erreicht und Philipp den Klingelknopf gedrückt, ging die Tür auf und ein durchtrainierter Mann, der sein weißes T-Shirt fast mit seinen imposanten Oberarmen zu sprengen drohte, lächelte ihnen gut gelaunt entgegen. »N’Abend Philipp! Wen bringst du mir denn da?« »Das ist Sarah. Ähm … ich habe ihr versprochen, dass du keine Fragen stellst.« »Was du nicht alles so versprichst. Dann kommt mal rein.« Fünf Minuten später fand sich Philipp im Wartezimmer wieder. Markus hatte ihn freundlich, aber bestimmt aus dem Behandlungsraum verwiesen und Philipp war seiner Aufforderung nur zu gerne nachgekommen. Zwar hatte er kein Problem damit, Blut zu sehen, aber als Markus anfing, an ihrem Auge herumzudrücken, stieg ein Schwall Übelkeit in ihm auf. Nun saß er da, wartete und versuchte, einen Sinn in den farbenfrohen abstrakten Bildern an der Wand zu erkennen. Gleichzeitig hoffte er, dass Markus die Vernunft sprechen lassen und Sarah in ein Krankenhaus einweisen würde. Die Last auf seinen Schultern wog schwer. Er wollte nicht die Verantwortung für einen anderen Menschen tragen und für einen fremden schon gar nicht. Um sich abzulenken, griff er nach einer Zeitschrift vom fein säuberlich aufgereihten Stapel vor ihm, nur um sie im nächsten Moment wieder zurückzulegen. Er konnte sich nicht aufs Lesen von Illustrierten konzentrieren. Sarah beherrschte seine Gedanken. Mit was für einem üblen Kerl war sie zusammen, der sie an den Rand der Bewusstlosigkeit niedergeschlagen hatte? Was hatte sie verbrochen, dass sie keinen Unterschlupf bei ihren Eltern finden konnte? Ruckartig ging die Tür auf und Philipp schaute überrascht auf. Sarah sah zwar immer noch mit ihrem blauen, geschwollenen Auge ramponiert aus, aber jetzt verdeckten keine blutigen Überreste mehr ihr hübsches feingliedriges Gesicht. Vielleicht lag es auch an ihrem schüchternen Lächeln, das seinen Herzschlag beschleunigte. Er räusperte sich und stand auf. »Äh … du siehst … viel besser aus.« Sie lächelte. »Danke! Ich fühle mich irgendwie auch schon besser. Markus hat mir eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben.« Wie eine Seifenblase zerplatzte Philipps Hoffnung, Markus könnte Sarah in ein Krankenhaus einweisen. »Ist denn so weit alles mit ihr … okay?«, wandte er sich an Markus, der hinter Sarah zum Vorschein kam. »Ich denke, dass nichts gebrochen ist. Innere Verletzungen kann ich aber natürlich nicht ausschließen. Außerdem bin ich kein Augenarzt.« »Meinst du nicht, es wäre …«, als er Sarahs entsetzen Blick sah, brach er ab. »Diese junge Frau hier hat mir glaubhaft versichert, dass du dich gut um sie kümmern wirst.« »Hat sie das?« »Ja, das hat sie. Also pass gut auf sie auf! Kühlen ist das Beste, was sie jetzt machen kann.« Dann drehte er sich zu Sarah um und ergänzte: »Und wenn dir irgendwie komisch wird oder du nicht mehr richtig sehen kannst, muss Philipp sofort einen Notarzt rufen. Alles klar?« Sie nickte und hakte sich wie selbstverständlich bei Philipp ein, der irritiert erst sie ansah und dann Markus einen Hilfe suchenden Blick zuwarf. Aber Markus wollte oder konnte ihn nicht als solchen deuten, sondern sagte stattdessen: »Trotz allem wünsche ich euch noch einen schönen Abend.« Damit entließ er sie hinaus in die Kälte der Nacht und Philipp fragte sich, was an diesem Abend schön sein sollte. Der Abend hielt nur das für ihn bereit, was der Tag versprochen hatte: eine Katastrophe nach der nächsten.

      *

      Es hatte wieder zu regnen angefangen. Die Scheibenwischer kratzten über die Windschutzscheibe, schweigend saßen sie nebeneinander, während Philipp ziellos durch die Stadt kurvte und sich dabei ertappte, wie er krampfhaft versuchte, aus der scheinbar verfahrenen Situation doch noch einen für beide Seiten angenehmen Ausweg zu finden.

      »Hast du wirklich keine Idee, wo ich dich hinbringen könnte?«, wagte er einen vorsichtigen Vorstoß.

      Einen flüchtigen Blick warf sie ihm zu, schüttelte leicht mit dem Kopf und schaute dann wieder gedankenverloren zum Seitenfenster hinaus. Die Stadt zog an ihnen vorüber. Er biss sich auf die Unterlippe und wollte gerade etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor.

      »Würdest du mich bitte am Bahnhof absetzen? Ich werde mal schauen, wohin der nächste Zug fährt.«

      »Zum Bahnhof?«

      Philipp rang mit sich. Auf der einen Seite klang das sehr verlockend. All seine Sorgen und Bedenken wären von einem Moment zum nächsten vom Erdboden verschwunden. Außerdem war sie alt genug, um zu entscheiden, was gut für sie war. Aber andererseits verspürte er nicht die geringste Erleichterung bei dem Gedanken, sie sich selbst zu überlassen, sondern sah vielmehr den unüberwindbaren Berg der Verantwortung vor sich. Irgendetwas an ihr hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt. Er musterte sie kurz.

      »Angenommen, du könntest eine Nacht bei mir auf dem Sofa schlafen. Was würdest du morgen machen?«

      Sie zuckte mit den Schultern.

      »Ausschlafen.«

      »Und dann?«

      »Etwas essen.«

      Auf dieses Spielchen hatte er keine Lust, aber Essen war ein gutes Stichwort. Wenn er so in sich hineinhorchte, hing sein Magen mittlerweile in den Kniekehlen. »Hast du Hunger?« »Ein bisschen.« Wieder überlegte er und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er schon viel früher eine Entscheidung gefällt hatte. Und zwar in dem Moment, als er sie zu seinem Auto getragen und nicht ins Krankenhaus gebracht hatte. Wieder schaute er zu ihr, und als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Also, pass auf. Du kannst eine Nacht bei mir schlafen. Eine Nacht … Und falls du auch so einen Riesenhunger hast wie ich, können wir uns vielleicht eine Pizza bestellen«, sagte er mit einem Lächeln und hoffte, dass sie es erwidern würde. Aber es blieb aus. Stattdessen sah er, wie dicke Tränen über ihr Gesicht liefen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke dir von ganzem Herzen!«, schluchzte sie. Philipps Herz machte vor Rührung einen Sprung. Er hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, und hoffte, dass diese vielleicht seine schlechte Tat von heute auf der Arbeit ein klein wenig wieder ausgleichen würde. Vor einem modernen Mehrfamilienhaus mit einer imposanten Glasfront hielt Philipp an, drückte den Knopf eines kleinen Gerätes unterhalb des Lenkrads und fuhr langsam hinab in die Tiefgarage. Das schwere Tor öffnete sich mit einem lauten Quietschen. In drei Zügen manövrierte er seinen Wagen rückwärts in die Parklücke, dann stieg er aus und half Sarah aus dem Auto. »Glaubst du, es geht? Hier um die Ecke ist der Fahrstuhl. Wir müssen in die 3. Etage.« »Ich denke, es geht schon …« Aber es ging nicht. Offensichtlich wollten ihre Beine nicht so, wie sie wollte, und sie verfluchte sich leise dafür. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit einer Hand an ihm festzuhalten und mit der anderen ihre Tasche fest zu umklammern. Wie ein gebrechliches altes Ehepaar gelangten sie zum Fahrstuhl und fuhren hinauf zu seiner Wohnung. Plötzlich wirkte sie ganz schüchtern und nervös auf ihn, als sie sich neugierig in seiner durch schlichte Eleganz glänzenden Wohnung umschaute, sich dann die Schuhe auszog, ihren durchnässten Mantel an die Garderobe hängte und Philipp mit großen Augen unsicher ansah. Es war offensichtlich, dass sie sich in dieser Umgebung, die ohne Protz einen gewissen Wohlstand suggerierte, unwohl fühlte. Mit einer einladenden Handbewegung deutete er ihr den Weg geradeaus ins Wohnzimmer an. Dankbar registrierte er, dass heute Donnerstag und somit Putztag war. Frau Sommerfeld hatte alles sauber und penibelst aufgeräumt hinterlassen. Während sie ins Wohnzimmer wankte, hielt sie sich an der Wand fest und Philipp folgte ihrem interessierten Blick. Nachdenklich betrachtete sie ein Foto, das im Flur auf der Kommode stand. Es zeigte ihn mit Bea und er bedauerte in diesem Moment, es noch nicht weggeräumt zu haben. Bevor sie ihrem fragenden Blick Worte verleihen konnte, schob er sie vor sich ins modern eingerichtete Wohnzimmer. Es bestand nur aus einem großen Fernseher an der Wand, der von