Ulrich Paul Wenzel

An Tagen Des Ewigen Nebels


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all diesen Scheiß, an den er lange Zeit fest geglaubt hatte. Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm das ganze Ausmaß dieser Verlogenheit erst an diesem Tag richtig bewusst geworden. Dabei spürte er schon lange die untrüglichen Anzeichen von Zweifel in sich, den Vertrauensverlust. Er hatte mit zunehmender Zeit immer mehr Fragen gehabt, doch das Regime hatte keine oder die falschen Antworten. Es waren vor allem die Widersprüche und Inkonsequenzen des täglichen Lebens, die starren Mechanismen, der Umgang mit den Bürgern, die einmal große Hoffnungen in diesen Staat gesetzt hatten und immer mehr enttäuscht wurden. Die noch lange nach Kriegsende geglaubt hatten, im fortschrittlicheren, menschenwürdigeren Teil Deutschlands zu leben. Die schlussendlich jedoch registrieren mussten, dass den indoktrinierenden Parolen des Partei- und Staatsapparates keine Taten folgten.

      Mit diesem Staat hatte auch er ein Übereinkommen gehabt, ihm sich verpflichtet gefühlt. Aus Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, verbunden mit der Hoffnung, dass sich irgendwann einmal die Überlegenheit des Sozialismus zeigen und bei den Bürgern ankommen würde.

      Ihn fröstelte, als er die Treppe zur dritten Etage hinaufstieg. Auf dem langen, nur schwach beleuchteten Flur, der tagsüber die ganze Vitalität dieser Behörde widerspiegelte, war es still wie auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde um Mitternacht. Mit einem nachdenklichen, fast verachtenden Blick streifte er das kleine weiße Schild mit seinem Namen und Dienstrang an der Tür des Raumes 341, das ihn einst mit so viel Stolz erfüllte.

      Bis zum Major habe ich es gebracht, resümierte er bitter. Das ist nicht der große Wurf, den er sich einmal erträumt hatte, aber immerhin. Er trat ein und schloss leise die Tür. Nachdem er die Verdunkelungsvorhänge sorgfältig zugezogen hatte, schaltete er die Schreibtischlampe an. Er hatte nie eine persönliche Verbindung zu diesem funktional eingerichteten Büro entwickelt, das von Holzimitat und beige-braun gemusterten Tapeten dominiert wurde. Weder private Bilder noch andere persönliche Gegenstände schmückten diesen Raum, noch nicht einmal eine Pflanze. Es hätte auch nicht mit dem gezwungenen Lächeln des Staatsratsvorsitzenden ins Nirgendwo korrespondiert, das unzählige Amtsräume und HO-Gaststätten des Landes verunstaltete.

      Er atmete tief durch. Wenn alles nach Plan läuft, ist hier morgen die Hölle los! Der Supergau im Zentrum der Macht. Der Alte würde rasen. Er stellte sich seinen obersten Dienstherren inmitten der wichtigsten Mitarbeiter vor, wie er mit seiner brachialen Kampfrhetorik das Desaster erklären würde. In diesem Moment spürte er das Unbehagen. Sie werden mich jagen, überlegte er. Bis ans Ende der Welt! Mit Schaudern erinnerte er sich an die Feier vor einigen Monaten in der Kantine. Mielke, merklich angetrunken, rühmte sich noch einmal des kurzen Prozesses, den sie dem armen Werner Teske gemacht hatten. Sein Todesurteil wegen angeblicher Spionage blieb als nachhaltiger Eindruck zurück. Es wüde auch sein Schicksal sein, da war er sich sicher.

      Noch in Gedanken setzte er sich ein letztes Mal an seinen Schreibtisch und starrte auf das graue Telefon. Es muss jetzt alles nach Plan laufen, überlegte er, sonst haben sie mich am Arsch und der Alte könnte eine weitere Erfolgsmeldung verkünden. Er nahm den Bleistift, der neben der Schreibtischlampe lag und begann ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. Dass die Freundschaft mit Alfi, seinem Kollegen, zu Ende gehen würde tat ihm aufrichtig leid. Aber das war das Geschäft, das waren die Mechanismen, auf die er sich nun einmal eingelassen hatte. Sie hatten gut und erfolgreich zusammengearbeitet, unzählige Stunden auch privat miteinander verbracht, aber das zählte jetzt nicht mehr. Er fragte sich, wie Alfi reagieren würde. Alfi war ein harter Hund und dieses Szenario würde ihm mit Sicherheit gar nicht gefallen. Eine spätere Begegnung mit ihm wäre kein Zuckerschlecken geworden, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.

      Er hatte die Akten im Bodenbereich des Schrankes hinter einer Wand von Ordnern deponiert. Der Bleistift, den er senkrecht zwischen den Stapel mit den Papieren und der Rückwand des Schrankes eingeklemmt hatte, befand sich in seiner ursprünglichen Stellung. Das bedeutete, dass niemand sich an den brisanten Ordnern zu schaffen gemacht hatte. Nach einen Blick auf die Schreibtischuhr, holte er die Minox aus der untersten Schublade heraus und überprüfte den Film. Es waren 48 Seiten, die er in der nächsten Stunde ablichten und anschließend auf Mikrofilmen aus dem Haus transportieren musste. Der Vorschrift, die die Mitnahme von Akten strengstens verbot, wollte er sich nicht ausgerechnet an seinem letzten Arbeitstag widersetzen.

      Nachdem er die Schreibtischlampe ein- und anschließend die Raumbeleuchtung ausgeschaltet hatte, begann er mit seiner Arbeit. Er hatte die Akte Igor aufgeschlagen und war gerade dabei, die Minox in Stellung zu bringen, als es an der Tür klopfte. Obwohl er auch mit dem Besuch eines Kollegen rechnen musste, fuhr er zusammen. Hastig ließ er die Minox in der Schreibtischschublade verschwinden. Im selben Moment öffnete sich die Tür und die hünenhafte Gestalt von Bernhard Fuchs tauchte auf.

      »Na Genosse Major, so spät noch bei der Arbeit?«, fragte Fuchs mit seiner markanten heiseren Stimme. »Ich habe dich vorhin über den Hof kommen sehen und dachte, ich schau mal rein. Was machst du noch um diese Zeit?«

      Bernhard war skrupellos. Ein fanatischer Verfechter des harten Kurses gegen die subversiven Kräfte, zu denen er alle zählte, die nicht bedingungslos hinter dem System standen. Er war erst vor wenigen Monaten aus der Hauptabteilung II in die HVA gewechselt und machte keinen Hehl daraus, dass er das Ende seiner Karriereleiter noch lange nicht erreicht hatte.

      »So spät ist es doch noch nicht, Bernhard.« Er zwang sich zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Ich bearbeite nur ein paar Unterlagen. Habe morgen einen wichtigen Termin.«

      Fuchs kam näher. Die stahlblauen Augen in seinem aufgeschwemmten, blassen Schweinegesicht, auf dem sich kaum eine Bartstoppel zeigte, sandten eine klirrende Kälte aus. »Und ich dachte, du schaust dir heute Abend den BFC im Fernsehen an. Du guckst doch sonst immer alle Spiele.«

      Diesmal nicht, Genosse Fuchs, dachte er grimmig, genau deswegen bin ich jetzt hier. Bei Europapokalspielen des BFC, das wusste er, saßen die meisten Mitarbeiter zu Hause vor den Fernsehgeräten und das Dienstgebäude war weitaus weniger stark bevölkert als an normalen Tagen. Einige Kollegen werden sogar im Jahnsportpark dabei sein und morgen Vormittag mit stolzgeschwellter Brust über den einmaligen Fußballabend an der Seite des Alten berichten. Mielke war Vorsitzender des BFC und ließ es sich nicht nehmen, eine handverlesene Schar enger Mitarbeiter in seine warme Lounge auf der Haupttribüne mit Bier und Bockwurst einzuladen. Lange Zeit hatte er sich gefragt, ob es ein Makel war und die Karriere behindern würde, dass er es nicht auf die Haupttribüne geschafft hatte. Mittlerweile war er froh, niemals diesem Kreis angehört zu haben.

      »Das hier ist sehr wichtig, Bernhard. Du weißt doch, man muss auch mal verzichten können.«

      Fuchs warf einen Blick auf die geöffnete Akte. Igor alias Heinz Worm war 1979 vom Ministerium für Staatssicherheit mit dem Ausweis des in die DDR übersiedelten und hier im selben Jahr verstorbenen Bundesbürgers Egon Dahms in die Bundesrepublik eingeschleust worden. Er hatte sich zum stellvertretenden Referatsleiter für den Bereich Internationale Kontakte beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Frankfurt am Main hochgearbeitet. Eines der teuersten Pferde im Stall. Bis heute jedenfalls.

      »Du bist in letzter Zeit auffallend lange hier«, brummte Fuchs, die Augen zu Schlitzen verengt. »Gibt es Probleme?«

      Er zuckte zusammen. Die Frage stand wie eine Bedrohung im Raum. Letzte Woche erst hatte Rohloff eine ähnliche Bemerkung gemacht. Hatten sie etwas herausgefunden? Hatte er einen Fehler gemacht? Er spürte kalte Schweißperlen auf seiner Stirn, die Trockenheit im Mund.

      »Ach was«, antwortete er lächelnd. »Du weißt doch wie das ist, Bernhard. Es kommen manchmal so viele Dinge auf einmal, sodass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Im Augenblick kann ich über Arbeit nicht klagen. Das ist aber kein Problem.«

      Fuchs nickte nachdenklich. »Tja, das kenne ich. Bist du morgen beim Sport?«

      »Wahrscheinlich nicht, ihr müsst mal ohne mich auskommen. Ach übrigens, Bernhard, meine Stimme hast du am nächsten Dienstag.«

      Fuchs schmunzelte gütig. Am Dienstag standen die Wahlen zum ersten Sekretär der Parteiorganisation in der Abteilung an. Fuchs war aussichtsreicher Kandidat, glaubte er zumindest.

      »Das freut