Ulrich Paul Wenzel

An Tagen Des Ewigen Nebels


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nickte Fuchs lächelnd zu. Saufen war Bernhards Königsdisziplin, da war er unschlagbar.

      »Schönen Abend noch«, murmelte Fuchs und verließ den Raum ebenso unvermittelt wie er gekommen war.

      Er atmete tief aus. Sein Blick huschte zur sofort Uhr. Er hatte jetzt nicht mehr viel Zeit. In einer halben Stunde musste er aus dem Gebäude sein. Ab 22 Uhr verstärkte das Wachpersonal die Kontrollen im Haus. Auf weitere Besuche und Fragen dieser Art wollte er unbedingt verzichten.

      Es war 22:17 Uhr als er mit einem knappen Nicken den Posten passierte, vier Mikrofilme unter dem Beifahrersitz seines Wartburgs.

       Am nächsten Morgen

      Sein Wecker klingelte pünktlich um 5:30 Uhr. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und unentwegt an den nächsten Tag gedacht. Der entscheidende Tag für seine Familie. Am frühen Morgen erst fand er in den Schlaf und spürte den brummenden Schädel, nachdem er aufgestanden war. Umgehend waren seine Gedanken bei seiner Frau und seiner Tochter, die heute nach Budapest fliegen, um von dort mit dem Zug nach Wien weiterzureisen. So war der Plan, den sie vom Bundesnachrichtendienst entwickelt hatten und dessen finale Version ihm ein Kontaktmann des BND gestern Abend am Rande des Marx-Engels-Platzes übermittelt hatte.

      Er duschte ausgiebig und brühte sich anschließend einen starken Kaffee. Während er ein altes Brötchen mit etwas Marmelade bestrich, ging er noch einmal seinen eigenen Tagesablauf durch und überprüfte ein letztes Mal die Reisedokumente. Um kurz nach sechs verließ er mit seiner kleinen Reisetasche, in der er nur Wäsche für maximal drei Tage und Badutensilien hatte, die Wohnung und nahm die U-Bahn zum Bahnhof Lichtenberg, wo der Städteexpress nach Erfurt um 7:32 Uhr abfahren sollte.

       Vier Stunden später

      Mit fünfzehn Minuten Verspätung fuhr der Zug in den Erfurter Hauptbahnhof ein. Um kurz nach halb elf betrat er die um diese Zeit schon vollkommen verräucherte Bahnhofsgaststätte am Gleis 1, in der unzählige NVA-Angehörige auf ihre Anschlusszüge warteten. Er bestellte sich zwei Bockwürste mit Semmeln und eine Zitronenlimonade und setzte sich an einen der wenigen freien Tische. Durch das verschmutzte, von einer verwaschenen Gardine eingerahmte Fenster hatte er einen guten Blick auf das direkt am Bahnhofsplatz liegende Hotel Erfurter Hof. Wie viele Jahre ist es her, fragte er sich, während er die Wurst in den Senf tauchte, seit sich hier Brandt und Stoph begegneten. Wie die meisten DDR-Bürger, so hatte auch er große Hoffnungen in das Treffen des großen Staatsmannes aus der Bundesrepublik mit dem biederen Aparatschik aus dem Arbeiter- und Bauernstaat gesetzt. Letztendlich wurden sie alle enttäuscht. So wie beim Besuch von Bundeskanzler Schmidt in Güstrow. Es war ein desaströses Bild, dass dieses Staates der Welt präsentierte. Sicherheitskräfte wohin das Auge reichte. Über dreihundert Mitarbeiter waren allein aus Berlin abkommandiert worden. Er hatte sich zum ersten Mal richtig geschämt. Die Wurst schmeckte scheußlich.

      Der überfüllte Interzonenzug in Richtung Bebra und Frankfurt am Main verließ Erfurt mit sieben Minuten Verspätung. Er war froh, einen Sitzplatz an der Gangseite des überheizten Abteils bekommen zu haben. Die Luft war zum Schneiden. Ein Rentnerehepaar aus Riesa unterhielt sich angeregt in breitem Sächsisch mit einer jungen Frau, die auf dem Weg zurück nach Hannover war. Die beiden alten Leute wollten ihre Tochter und ihre beiden Enkelkinder in Kaiserslautern besuchen. Ihre erste Reise in den Westen, wie sie aufgeregt erzählten.

      Er warf einen flüchtigen Blick in das Neue Deutschland, das er sich auf dem Erfurter Bahnhof gekauft hatte. Demonstrationen gegen die Kernenergie in Westdeutschland. Mit solchen Schlagzeilen versuchten sie das hässliche Bild des kapitalistischen Deutschlands zu zeichnen. Ein Scheißblatt, sagte er sich und quetschte die Zeitung zwischen Abteilwand und Sitz. Er zog ein weiteres Mal die Dokumente aus der Brusttasche seines Jacketts. Den neuen Reisepass, die Aus- und Einreisevisa sowie die Devisenbescheinigung über dreihundert Schweizer Franken, die er mit sich führen musste. Die Luft wurde immer unerträglicher.

      Es war eine erste Dienstreise in den nichtsozialistischen Wirtschaftsraum, wie es offiziell hieß. Ein strategisches Treffen mit dem Agenten Herbert Voss in Basel, der unter dem Decknamen Petrus im Bundesamt für Wehrverwaltung in Bonn das Referat Infrastruktur leitete. Er führte den äußerst erfolgreichen Kundschafter seit fast fünf Monaten. Aufgrund seiner Tätigkeit auf hoheitlichem Gebiet, war es Voss untersagt, weder privat noch dienstlich in sozialistische Länder einzureisen. Damit waren die üblichen Führungstreffen in einer der konspirativen Wohnungen oder im Cafè Moskau nicht möglich. Seine Vorgesetzten im Ministerium hatten lange über seinen Antrag zu diesem Treffen beraten, denn er war kein Reisekader ins kapitalistische Ausland. Letztendlich waren es die Brisanz der Informationen sowie das unerwartete Missgeschick eines Kuriers, der auf dem Stuttgarter Flughafen aufflog, die für die Genehmigung ausschlaggebend waren. Und dann musste alles schnell gehen, viel zu schnell für seinen Plan, der noch nicht ausgereift war.

      Er schaute auf den Gang, auf dem noch lange nach Abfahrt des Zuges Fahrgäste nach freien Plätzen suchten. Gegen zwanzig Uhr sollte er in Basel eintreffen, sich ein Zimmer im Hotel St. Gotthardt, direkt am SBB-Bahnhof nehmen und beim Frühstück am nächsten Morgen um neun Uhr mit Voss zusammentreffen. Er hustete flach. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Nicht einmal nach Basel wollte er. Vielleicht später einmal, ebenso wie nach Paris, London und Amsterdam. Um Zeit zu gewinnen und Voss nicht misstrauisch zu machen, sah sein Plan vor, die Rezeption des Hotels mit der Bitte anzurufen, Voss zu informieren, dass er den Zug in Frankfurt nicht erreicht habe und erst am frühen Nachmittag in der Hotellobby eintreffen würde. So etwas kann bei der Unpünktlichkeit der Reichsbahn schon mal passieren.

      Ohne die vorbeiziehende Landschaft wahrzunehmen, blickte er aus dem Fenster. Seine Gedanken waren den ganzen Tag schon bei seiner Frau und seiner Tochter. Immer wieder fragte er sich, wo sie sich gerade befanden. Obwohl er sich sicher war, beide übermorgen in die Arme schließen zu können, der Plan war perfekt, konnte er sich kaum auf sich selbst konzentrieren.

      Das ohrenbetäubende Quietschen der Zugbremsen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Direkt vor dem Fenster sah er das Bahnhofsschild Gerstungen. Der letzte Bahnhof in der DDR!

      »Gerstungen, Gerstungen!«, plärrte es aus den kleinen Lautsprechern entlang des Bahnsteiges. »Werte Reisende, nach einem Aufenthalt zwecks Passkontrolle durch die Grenzorgane verlassen Sie die Deutsche Demokratische Republik. Wir wünschen eine angenehme Weiterfahrt.«

      Es herrschte plötzlich vollkommene Stille im Abteil, nur unterbrochen durch das Rascheln von Papier, als sich die Frau am Fenster ein belegtes Brot aus der Tasche holte. Er transparierte am ganzen Körper. Auf dem Bahnsteig waren das Zuschlagen der Wagentüren und etwas später das Motorengeräusch einer Diesellok zu hören. Er ging auf den Gang und zog das Fenster herunter. Neben dem Bahnhofsgebäude war ein rotes Stoffbanner mit weißer, plakativer Schreibschrift an einer Mauer angebracht: »Von der Sowjetarmee lernen heißt siegen lernen!« Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging zurück ins Abteil. Nach einer guten viertel Stunde wurde die Abteiltür aufgezogen.

      »Guten Tag, Grenzkontrolle der DDR. Die Ausweise und Ausreisedokumente bitte.« Ein Grenzbeamter in der graugrünen Uniform der Grenztruppen, höchstens 25 Jahre alt, blickte streng und distanziert in das Abteil. Er spürte wieder die Trockenheit in seinem Mund und hätte in diesem Moment alles für einen Schluck Wasser gegeben. Umgehend dachte an das, was nicht sein durfte: Wenn irgendjemand in Berlin etwas entdeckt hatte, eine Unregelmäßigkeit, nur eine Kleinigkeit, würde sein Name auf einer Liste dieses Grenzers stehen und es wäre das Ende. Schweiß schoss aus allen Poren seines Körpers. Routiniert überprüfte der Grenzer die Papiere der Reisenden und stempelte sie ab. Nein, versuchte er sich zu beruhigen, sie konnten nichts entdeckt haben. Sie hätten mich schon in Berlin festgenommen und nicht so lange gewartet. Als der Grenzbeamte ihn auffordernd ansah, reichte er ihm die Dokumente und trocknete seine feuchten Handflächen auf der Hose.

      »Da fehlt etwas«, brummte der Grenzer mit fragendem Gesichtsausdruck. »Die Devisenbescheinigung, ein weißes Formular.«

      Er spürte die brennenden Blicke der anderen Fahrgäste auf sich gerichtet. Die war doch vor kurzem noch da. Mit zittrigen Fingern