Ulrich Paul Wenzel

An Tagen Des Ewigen Nebels


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für unterschiedliche Metalllegierungen durch den Zugversuch. Fast jede Gruppe hatte Schwierigkeiten mit der Probe aus einer Aluminium-Kupfer-Legierung, die keine ausgeprägte Streckgrenze zeigte. Riedewitz stand auf, ging zur Kaffeemaschine und schwor sich, die letzte Tasse am heutigen Abend zu trinken. Vielleicht noch eine halbe Stunde, überlegte er, als er am Fenster stand und an dem schon bitter gewordenen Kaffee nippte. Gedankenverloren schaute er auf die gegenüberliegenden Gebäude des Klinikums, wo die unzähligen erleuchteten Fenster von hoher Geschäftigkeit zeugten. Für einen kurzen Moment schloss er die brennenden Augen. Acht Wochen noch, dann ist Weihnachten, dachte er und ein Lächeln zog in sein Gesicht. Acht Wochen noch, dann würde er Giesela wiedersehen. Für zwei ganze Wochen würde er zu ihr reisen und sie würden diese kostbare Zeit miteinander in vollen Zügen genießen. Seit mehr als eineinhalb Jahren waren sie jetzt voneinander getrennt. Es fiel ihm schwer, aber das war der Preis, den er akzeptiert und mit dem er sich abgefunden hatte. Ja, er wollte es so!

      Im Frühsommer 1983, er war gerade ein drei Monate in Darmstadt, hatte er sich auf die ausgeschriebene Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Promotion am Institut für Werkstoffkunde der Technischen Universität Darmstadt beworben und kurz darauf bekam er nach einem intensiven Fachgespräch mit dem Leiter des Institutes, Professor Dr. Rudolf Kurth die Zusage. Seine überdurchschnittlichen Zeugnisse und erstklassigen Referenzen ließen Kurth kaum eine andere Wahl. Dass sie gefälscht waren, Riedewitz musste schmunzeln, würden sie nie herausbekommen, schließlich hatte er reichliche Erfahrungen auf dem Gebiet der Werkstoffkunde an der Technischen Universität in Dresden gesammelt..

      Die drei Männer gingen schnellen Schrittes den langen, um diese Zeit menschenleeren Flur hinunter. Es war 20:13 Uhr. Sie hatten das Gebäude mit der Klinkerfassade durch den Haupteingang betreten und von dem mürrischen Pförtner eine Wegbeschreibung erhalten. Ihr Ziel waren die Fach- und Laborräume 1.09 bis 1.17, die sich ganz am Ende auf der linken Seite befanden. Als sie den ersten Raum erreicht hatten, nickten sie sich zu. Einer der Männer drückte vorsichtig den Türgriff hinunter. Der Raum war verschlossen. Nach einem kurzen Blickkontakt huschten sie weiter. Die Räume 1.10 und 1.11 waren ebenfalls verschlossen.

      Riedewitz öffnete das Fenster. Dunkelgraue Wolken zogen über die Gebäude hinweg. Wie an meinem ersten Tag hier in Darmstadt, sinnierte er.

      Es war der 9. April 1982. Die Zeit danach war wesentlich nervenaufreibender, als er es sich vorgestellt hatte. Ein halbes Jahr hatte er Zeit, sich auf alles vorzubereiten. Dazu bekam er genaue Instruktionen und musste sie Woche für Woche mit seinen Trainern durchsprechen. Es ging vor allen Dingen darum, sich schnell einzugewöhnen und an die bundesdeutschen Verhältnisse anzupassen. Gerade durch untypische Verhaltensweisen oder Redewendungen waren in der Vergangenheit schon einige Westagenten aufgeflogen. Er wollte nicht auch zu diesem Kreis gehören.

      Gleich nachdem er mit der Legende eines von einem Metallurgen-Kongress in Wien geflüchteten Wissenschaftlers nach Darmstadt kam und in der Moosbergstraße das geräumige Zweizimmer-Appartement bezogen hatte, begann er damit, legte er zwei tote Briefkästen an, einen auf dem Waldfriedhof im Westen Darmstadts und einen weiteren auf dem städtischen Friedhof in Pfungstadt, beide nur einen Katzensprung von der Autobahn A5 entfernt. Friedhöfe boten sich geradezu an, Besucher gedenken hier ihrer verstorbenen Angehörigen und interessieren sich kaum für andere Personen. Er nutzte vorwiegend eine versteckte Steinplatte zwischen zwei Eiben auf dem Waldfriedhof, unter der er seinen wasserdichten Container mit den Mikrofilmen für den Kurier deponierte, der ihn unregelmäßig, meistens mittwochs oder donnerstags zwischen 16:00 Uhr und 18:30 Uhr abholte. Vom Ministerium wurde er in der Vorbereitungszeit verpflichtete, sich einen Kurzwellen-Weltempfänger zuzulegen. Auf Empfehlung seines Führungsoffiziers kaufte er den Grundig Satellit 2100, für den er 450 D-Mark bezahlte. Eine teure Anschaffung, er spürte es noch Monate später, aber das Gerät war sein wichtigstes Werkzeug und wichtiger als ein Fernseher oder die Waschmaschine. Alle Informationen aus Berlin erreichten ihn im A3-Funkverkehr auf diesem Kurzwellenempfänger. Dazu musste er das Gerät an genau festgelegten Tagen und zu bestimmten Zeiten, meistens zwischen 21:00 Uhr und 22:00 Uhr auf die Frequenz 3.300 kHz einstellen. Die Botschaften, Verhaltensmaßnahmen, strategische Veränderungen oder Warnungen bestanden aus fünfstelligen Zahlenreihen. Es kostete ihn anschließend die halbe Nacht, bis er mit Hilfe seiner Codetafeln die Mitteilungen entschlüsselt, notiert und auswendig gelernt hatte. Alles war auf Anweisung sofort und restlos zu vernichten. Am folgenden Morgen war er stets unausgeschlafen und reizbar, so wie in der letzten Woche, als er Paul Brandt, den Labormitarbeiter zusammengefaltete, nur weil dieser die Prüfkörper für die Härteprüfmaschine in den falschen Schrank gelegt hatte. Natürlich entschuldigte er sich sofort bei Brandt. Überlastung.

      Riedewitz fröstelte und schloss das Fenster. Es wurde kalt. Er ging an seinen Schreibtisch zurück und warf einen Blick auf den Stapel von Protokollen, der nicht kleiner werden wollte. Kurz noch einmal zur Toilette, überlegte er, dann lege ich los.

      Die drei Männer gingen weiter den Gang entlang und blieben vor der Tür zum Raum 1.15 stehen. Nach kurzem Blickkontakt drückte einer von ihnen die Klinke herunter. Der erste Raum, der nicht verschlossen war. Sie traten ein und blickten auf einen Mann in weißem Kittel, der mit einem Elektronenmikroskop arbeitete.

      »Herr Riedewitz?«, fragte einer der Männer, nachdem sie ihn umringt hatten. Der Mann schaute hoch und starrte sie fragend an.

      »Sind Sie Herr Ottmar Riedewitz?«, wiederholte der Mann.

      »Nein, Riedewitz finden Sie im letzten Raum. Labor für Härteprüfungen, Raumnummer 1.19. Ich glaube aber nicht, dass er noch da ist. Soll ich mal durchrufen.«

      »Nein!«, sagte der andere bestimmend und holte seinen Dienstausweis aus der Manteltasche. »Bundesamt für Verfassungsschutz.« Die BfV-Beamten drehten sich wortlos um und verließen den Raum. Sie waren nur noch wenige Meter von der anvisierten Tür entfernt, als sich diese öffnete. Ein Mann trat heraus. Als er die drei Verfassungsschützer erblickte, riss er erschrocken die Augen auf und rannte im selben Moment den Flur hoch. Zwei der Beamten nahmen die Verfolgung auf, der dritte holte ein Funkgerät aus der Manteltasche und setzte eine Meldung ab.

      Riedewitz durchquerte eilig die kleine Glastür an der Westseite des Gebäudes und landete auf dem riesigen Hof. Er rannte zwischen den Bäumen hindurch auf die Klinikgebäude zu, verfolgt von den beiden BfV-Beamten, die sich schnell näherten. Verzweifelt suchte Riedewitz eine Tür, hinter der er verschwinden konnte. Im Freien hatte er keine Chance, das war ihm klar, er musste in das Gebäude der Klinik. Aber es gab an dieser Seite nur eine kleine Treppe, die in den Keller des Gebäudes führte. Riedewitz sah sie als die einzige Möglichkeit, um die Verfolger abzuschütteln und rannte hinunter. Die BfV-Beamten waren nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Als auch sie die Treppe erreicht hatten, blieben sie stehen. Riedewitz starrte sie aus angsterfüllten Augen an. Die Tür schien verschlossen.

      »Herr Ottmar Riedewitz?«, fragte einer der BfV-Beamten und hielt eine Pistole in der Hand. Riedewitz nickte nur schwach.

      »Bundesamt für Verfassungsschutz. Herr Riedewitz, Sie sind festgenommen.«

      4

       Vor drei Wochen

      »Das Essen war fantastisch, Schatz. Hattest du mir nicht gesagt, dass du nicht kochen könntest?« Hannah ergriff Alans Hand, streichelte sie zärtlich und warf ihm einen verliebten Blick zwischen den beiden flackernden Kerzen hindurch zu.

      »Ich sagte, ich könne nicht besonders gut kochen, aber manchmal gelingt es besser als man denkt. Vietnamesisch ist im Augenblick meine Lieblingsrichtung.« Alan schmunzelte. Ihre Streicheleinheiten brachten ihn fast zum Schnurren.

      »Schläfst du heute hier, Hannah?«

      »Soll ich denn?« fragte sie mit einem verführerischen Augenaufschlag.

      »Mein Angebot steht.«

      Sie stand auf, kam um den Esstisch herum und bedeutete Alan, dass sie auf seinem Schoss Platz nehmen wollte. Nachdem sie sich niedergelassen hatte, schlang sie die Arme um seinen Hals. »Dann nehme ich dein Angebot an«,