Monique Dée

Stoffwechsel


Скачать книгу

glaube nicht. Vor ein paar Jahren haben wir mal Silvester Trivial Pursuit gespielt, so eine alte Version aus den Achtzigern, und uns totgelacht darüber, was es damals alles noch nicht gab und wie vorsintflutlich uns die Fragen vorkamen. Dabei waren das immerhin schon die Achtziger. Und unsere Eltern haben sich in den Fünfzigern kennengelernt. Überleg´ mal…“

      „Hm. Das macht es uns nicht gerade leichter“, hatte Inga nüchtern festgestellt. „Aber jetzt sag´ mal, wieso hast du überhaupt dran gedacht, dass wir Vater suchen könnten? Ich meine, was war der Auslöser?“

      „Ach, soweit habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe bloß darüber nachgedacht, ob ich ihn überhaupt noch kennenlernen möchte. Wie das wohl wäre. Ob ich mich ärgern würde, wenn ich diese Chance verpassen würde. Er muss doch inzwischen gute siebzig sein. Wenn er überhaupt noch lebt.“

      „Stimmt“, sagte Inga nachdenklich. „Wenn er überhaupt noch lebt. Ich glaube, er war ein ziemlicher Abenteurer. Er war damals schon öfter unterwegs, als ich noch ganz klein war. Daran kann ich mich noch erinnern, aber nur sehr undeutlich. Ich weiß noch, dass Mama damals immer schon auf ihn geschimpft hat.“

      „Kein Wunder, dass er irgendwann die Biege gemacht hat. Das hätte doch kein Mann auf die Dauer ausgehalten.“

      „Na, Bernhard hat.“

      Inga sah vor sich hin auf die geblümte Tischdecke, die Stirn in Falten gelegt und Trauer im Blick.

      „Dass der so früh sterben musste…“

      „Hm. Manchmal vermisse ich ihn immer noch.“

      Astrid nahm ein Streichholz und zündete die Kerze im Windlicht an, das auf dem Tisch stand.

      „Er hat unsere Kindheit gerettet, dafür bin ich ihm ewig dankbar. Wie wäre das bloß ohne ihn geworden? Da will ich gar nicht drüber nachdenken.“

      „Nee, aber das kann ich dir sagen. Wir wären bei Oma und Opa geblieben. Und das war nicht wirklich lustig.“

      Inga sah mit etwas starrem Blick an die gegenüberliegende Wand, an der ein paar fröhliche Drucke hingen, ohne die überhaupt wahrzunehmen.

      „Unsere Mutter hat ihre tyrannische Art eindeutig direkt von Opa übernommen. Oma hat ja immer nur gekuscht. Und wenn sie ihm mal ausnahmsweise widersprochen hat, kriegte sie im schlimmsten Fall eine gepfeffert. Deshalb wollte Mama ja auch so früh wie möglich weg von zu Hause. Und unser Vater war wahrscheinlich die erste Gelegenheit dazu. Nur dass sie leider überhaupt nicht zusammenpassten.“

      „Und er sie ganz schnell wieder im Regen stehen ließ.“

      Astrid nickte und nahm einen Keks.

      „Da hat Mama dann das für sie kleinere Übel gewählt, uns bei den Großeltern geparkt und sich selbst einen Job gesucht.“

      Inga lief der eine oder andere Schauer über den Rücken, wenn sie an die Zeit bei ihren Großeltern dachte. Ihr jähzorniger Großvater hatte sich zwar seinen Enkeltöchtern gegenüber einigermaßen zivilisiert benommen, manchmal sogar liebevoll, wenn er sie auf seinen Knien reiten lies oder im Herbst mitnahm zu einem befreundeten Bauern, dem er ein halbes Rind oder Schwein abkaufte und sie im Hof Kastanien sammeln ließ. Aber die herrschsüchtige und gewalttätige Art, wie er mit ihrer Großmutter umging, die er anschrie, wenn das Essen auch nur um eine Minute unpünktlich auf den Tisch kam oder gar einmal angebrannt war, das saß ihnen nach gut vierzig Jahren immer noch in den Knochen. Und einmal hatte er ihre Großmutter regelrecht verprügelt, als sie beim Bügeln vom Postboten unterbrochen worden war und ein Loch in sein weißes Sonntagshemd gebrannt hatte. Gut, ihre Großeltern waren einfache Leute und hatten wenig Geld, sodass ein neues Sonntagshemd ein großes Loch in die Haushaltskasse riss. Aber das rechtfertigte noch lange nicht diese Ausbrüche von Gewalttätigkeit, für die Inga ihren Großvater zu hassen begann. Sie hasste aber auch ihre Großmutter dafür, dass sie sich das gefallen ließ und ihrem Mann nicht einfach weglief. Heute hatte sie mehr Verständnis für die vertrackte Lage ihrer Oma, die wirtschaftlich völlig abhängig von ihm war und nicht gewusst hätte, wie sie ihren Lebensunterhalt sonst hätte bestreiten sollen. Und die ihren Mann wahrscheinlich sogar trotz allem liebte, so wie auch Inga trotz allem ihre Oma liebte, die sie verwöhnte mit ihrem köstlichen Apfelgelee und ihnen Märchen vorlas, wenn sie krank im Bett lagen. Wenn sie sie gerade nicht verachtete wegen ihrer Resignation und Unterwürfigkeit.

      Diese widersprüchlichen Gefühle und Erlebnisse hatten Inga früh erwachsen werden lassen. Sie hatten ihr auch beigebracht, eine gewisse Widerständigkeit zu entwickeln, wenn im Leben nicht alles so lief, wie sie es sich gewünscht hätte. Zum Glück hatte ihre Mutter sie nach gut einem Jahr wieder abgeholt. Langfristig hatte Inga neben einer guten Portion Zynismus auch irgendwann gelernt, Humor zu entwickeln, sich nicht unterkriegen zu lassen und sich den Spaß am Leben zu bewahren. Vermutlich hatte sie deshalb eine solche Lästerzunge und stichelte gerne an den Menschen in ihrer Umgebung herum. „Das ist halt meine Skorpion-Seite“, pflegte sie zu sagen, aber die Ursache für diese Charaktereigenschaft lag wahrscheinlich eher in ihrer schwierigen Kindheit. Ihre Schwester Astrid war viel milder als sie, aber genauso zielstrebig, als es darum ging, sich selbst eine Existenz aufzubauen, um nicht abhängig von seinem Lebenspartner zu sein, sondern jederzeit ein eigenständiges, unabhängiges Leben führen zu können. Astrid mit ihrer Schauspielerei hatte die anstrengendere Wahl getroffen, auch etwas unsicherer in existentieller Hinsicht, aber sie war inzwischen jahrelanges Ensemblemitglied und somit quasi verbeamtet. Und sie hatte einen Lebensgefährten, der das charakterliche Gegenteil ihres Opas war, lieb, fürsorglich und sanft. Eine gute Wahl, von Astrid so sorgfältig und langjährig geprüft, bis sie damit Ingas Spott herausforderte. Er war auch Schauspieler, arbeitete aber inzwischen als Intendant an einem Theater in der Nähe.

      In Astrids Wohnzimmer in einer Altbauwohnung in Alt-Moabit stapelten sich Kunstbücher neben Reclamheften. Die Wände hingen voller Drucke von Im- und Expressionisten, fein säuberlich getrennt, und Astrid nutzte jede freie Minute, um sich ihrer zweiten Leidenschaft, der Malerei, zu widmen. Allerdings der passiven Malerei, sie ging ins Museum, so oft sie konnte und es eine interessante Ausstellung gab, und das war in Berlin natürlich nicht selten. Und sie ließ Inga an ihren Lieblingsplätzen teilhaben, so dem Liebermann-Garten am Wannsee, wo sie schon etliche Sommernachmittage zusammen verbracht hatten. Astrid führte ein ziemlich ausgeglichenes Leben, netter Mann, erwachsene Tochter, nichts Aufregenderes als ab und zu eine Premiere. Als hätte sie in ihrer frühen Kindheit genügend Aufregungen gehabt. Ihre Tochter war Kostümbildnerin und hatte an Astrids Theater ihre Ausbildung gemacht. Inzwischen arbeitete sie in München und schaffte es nur selten nach Berlin, aber in diesem Fall genossen Mutter und Tochter die Erfindung von Skype und nutzten sie oft mehrmals wöchentlich. Inga war also eigentlich davon ausgegangen, dass Astrid gar nichts fehlte im Leben geschweige denn, dass sie an einen Vater dachte, den sie nicht einmal bewusst kennengelernt hatte. Aber siehe da, Menschen hatten Dinge im Kopf, die man ihnen von außen nicht ansah.

      „Also, wie bist du auf die Idee gekommen, nach unserem Vater zu suchen?“ bohrte Inga in ihrer charakteristischen Art noch einmal nach. Astrid wiegelte ab.

      „So weit war ich ja noch gar nicht. Ich habe nur gedacht, ob mir was fehlen würde, wenn ich ihn nie in meinem Leben bewusst kennenlerne. Und das war, als ich neulich in einer Ausstellung war, Portraits verschiedener Maler, quer durch die Jahrhunderte, und da hing so ein Bild, von wem, weiß ich nicht mehr, das hieß schlicht ‚Der Vater‘. Da durchzuckte es mich irgendwie.“

      Inga wusste endlich, was sie wissen wollte und schwieg. Astrid zupfte an der Tischdecke herum.

      „Wie er wohl jetzt aussieht?“

      „Hm, das habe ich mich auch schon gefragt.“

      Inga verzog das Gesicht.

      „Wahrscheinlich wie ein gealterter Rockmusiker. Mick Jagger auf pfälzisch. Udo Lindenberg.“

      Sie lachten beide.

      „Also, wenn wir ihn noch nicht mal erkennen würden…“

      Die Zweifel in Astrids Stimme waren nicht zu überhören.

      „Ja, davon