Monique Dée

Stoffwechsel


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um die nächste Ecke. Da blieben sie stehen und schnauften. Und warfen sicherheitshalber einen Blick zurück.

      „Meinst du, sie ruft die Polizei?“ fragte Astrid.

      „Keine Ahnung. Aber wessen will sie uns beschuldigen? Enkeltöchter erschleichen Adresse ihres Vaters? Ist das strafbar?“

      Da mussten sie plötzlich beide laut lachen. Fünf Minuten später standen sie immer noch da und prusteten vor sich hin. Da kam eine weitere alte Frau an ihnen vorbei und bog in die Gasse ein, aus der sie gerade gekommen waren.

      „Das ist Ruhestörung“, schimpfte die. „Es ist Mittag, das ist Ruhestörung!“

      Inga und Astrid sahen sich an und verkniffen sich mühsam das Lachen. Dann gingen sie wie auf Kommando in die Richtung ihres Hotels und stoppten erst, als sie da waren.

      Inga sah vom Sandboden hoch und bemerkte plötzlich, dass Florence neben ihr ging.

      „Hi“, sagte sie und lächelte ein bisschen wie ertappt. „Wie lange bist du denn schon an meiner Seite?“

      „Über diese Formulierung verkneife ich mir mal einen Scherz“, grinste Florence. „Ich könnte jetzt sagen: seit Stunden, aber seit mindestens zwanzig Minuten schon. Da habe ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut. Du entwickelst ja Fähigkeiten, die sonst nur ich habe.“

      „Scheint mir auch so“, murmelte Inga. Sie war höchst irritiert. Es war ihr noch nie passiert, dass sie derart aus ihrer Umgebung gefallen war.

      „Was nimmt dich denn so gefangen? Wenn man fragen darf.“

      Florence sah vorsichtig zu Inga hinüber und war sich nicht sicher, ob sie nicht schon zu weit gegangen war.

      „Ach“, machte Inga auch zuerst, zusammen mit einer abwehrenden Geste. Dann wurde ihr klar, dass sie Florence nicht ganz so sparsam abfertigen konnte. Und auch nicht wollte.

      „Wir suchen meinen Vater“, erklärte sie. „Astrid und ich.“

      „Deinen Vater? Ist der nicht längst da oben?“

      Florence deutete mit ihrem Kopf zum grauen Himmel.

      „Nicht der Vater. Mein erster Vater, also, mein leiblicher Vater.“

      Jetzt war es an Florence, verwirrt zu sein. Sie brauchte Inga nur anzusehen, schon legte diese nach.

      „Also, mein richtiger Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Und Astrid zwei. Astrid hat natürlich keine bewussten Erinnerungen an ihn. Ich schon.“

      Inga schwieg. Florence schwieg zur Gesellschaft mit.

      „Danach kam dann Bernhard, mein Stiefvater. Der eigentlich mein richtiger Vater ist, wenn ich so drüber nachdenke. Also, richtig und nicht richtig ist überhaupt nicht das richtige Wort. - Dreimal richtig in einem Satz, Mann, Mann, Mann. Er war wirklich ein Vater, hat sich um uns gekümmert, mit uns gespielt. War für uns da. Wobei, das war mein leiblicher Vater auch. Solange er da war.“

      Inga holte Atem und Florence wagte eine weitere Frage.

      „Und du hast ihn seitdem nicht mehr gesehen?“

      „Nee. Seit fünfundvierzig Jahren. Ich wusste gar nicht, ob er noch lebt. War mir auch egal, ganz lange. Er war gegangen, also wollte er offensichtlich nichts mehr mit uns zu tun haben. Das verletzt dich unglaublich als Kind. Und meine Mutter hat mit ihrer Meinung über ihn sowieso nicht hinterm Berg gehalten.“

      Sie schwieg wieder. Diese Geschichte muss man Inga aber wirklich aus der Nase ziehen, dachte Florence.

      „Und was hat sich jetzt geändert? Hat er sich gemeldet?“

      „Hat er sich gemeldet? Gute Frage. Hätte er ja auch mal machen können, wird schließlich auch älter. Nö, ich stellte eines Tages fest, dass ich ihn doch noch mal sehen möchte. Und Astrid auch, unabhängig von mir.“

      Wieder ein Bröckchen Information.

      „Und dann?“

      „Dann haben wir überlegt, wie wir bloß an seine Adresse kommen könnten. Wir hatten nämlich gar nichts.“

      „Und?“

      „Wir haben meine Mutter ein bisschen unter Druck gesetzt. Ein gutes Zeichen, sonst lassen wir uns ja immer gerne von ihr herum scheuchen.“

      „Und dann?“

      Ich könnte meine Fragen auch mal ein bisschen variieren, fand Florence im Stillen. Für Deutschaufsatz sind wir heute beide nicht geeignet.

      „Meine Mutter hat schließlich ein paar Briefe von ihrer Schwiegermutter ´rausgerückt. Und die haben wir dann besucht.“

      „Die lebt noch? Die muss doch ungefähr hundert sein!“

      „Zweihundert. So sieht sie jedenfalls aus. Zweihundert geballte Jahre Garstigkeit. Falls man sowas in Jahren messen kann.“

      „Das scheint ein schöner Besuch gewesen zu sein.“

      „Das sach´ ich dir! Sowas Unfreundliches habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Wenn ich mir überlege, dass ich von deeer abstamme – gruselig. Gerad´, dass sie nichts nach uns geworfen hat.“

      Und jetzt kam Inga doch ins Reden und erzählte Florence in aller Ausführlichkeit von der aufbauenden Begegnung mit ihrer Großmutter.

      Nachdem sie und Astrid ins Hotel zurückgekehrt waren, gingen sie wortlos und einvernehmlich an die Bar und bestellten eine Flasche Sekt.

      „Champagner muss es nicht sein, oder?“ fragte Inga trocken.

      „Nein, Sekt ist völlig angemessen. Die Hausmarke ist wunderbar.“

      Letzteres ging an den Barkeeper. Astrid nickte und nippte. Dann nickte sie nochmal und erhob ihr Glas.

      „Auf die frohe Botschaft, diese Schreckschraube von Großmutter erst im hohen Alter zum ersten und zum letzten Mal gesehen zu haben!“

      „Wow, das ist ein Trinkspruch! Auf unser ganz besonderes Spezielles!“

      Astrid gluckste, als hätte sie die Flasche schon ausgetrunken. Inga stimmte in ihr Gekicher ein, aus dem ein ausgewachsener Lachanfall wurde. Sie lachten und lachten und konnten überhaupt nicht wieder aufhören. Noch mitten in der Nacht brach immer wieder eine von ihnen in schallendes Gelächter aus, weckte damit die andere, die kurz nach Orientierung suchte und sich dann anstecken ließ. Irgendwann klopfte ein anderer Gast, vermutlich genervt von diesen Lachsalven, gegen die Wand und verlangte gänzlich humorlos „Ruhe, verdammt noch mal! Es ist vier Uhr morgens!“

      „Das hätte unsere Oma sein können“, sagte Astrid trocken und prustete wieder los. Im Nebenzimmer stand jemand auf.

      „Entschuldigung!“ riefen beide. „Tut uns wirklich leid, wir sind jetzt leise!“

      „Ein gravierender Nachteil dieses Hotels“, sagte Inga. „Es ist nicht Oma-sicher.“

      Sie sahen sich an und verkrochen sich beide wie auf Kommando unter ihren Bettdecken.

      Nachmittags an der Bar hatten sie sich allerdings doch noch ernsthafteren Dingen zugewendet. Nachdem sie genüsslich die Hausmarke geleert hatten, lief Inga aufs Zimmer und holte ihr Laptop. Dann gaben sie den Ort ein, der in der Adresse angegeben war, zumindest das, was sie dafür hielten. Es war ein Gebirgszug in Kerala, einem der südlichen Bundesstaaten Indiens.

      „Gibt´s da einen Flughafen in der Nähe?“ erkundigte sich Astrid. Die geografischen Recherchen überließ sie lieber der Erdkundelehrerin.

      „Hm“, Inga sprach über die Landkarte gebeugt und versuchte, den Namen der Stadt zu entziffern.

      „Man kann das auch vergrößern“, trug Astrid feixend bei.

      Inga sah sich nach einer Serviette um, die sie nach ihrer kleinen Schwester werfen konnte, fand aber nichts Geeignetes. Also wedelte sie nur tadelnd mit ihrer Linken.

      „Calicut“,